Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.George Meredith als Psycholog Briefe Bellas, welche Intriguen man gegen ihn gespielt hat, und daß der Der Roman "Richard Feverel" ist reich an wirkungsvollen Situationen Weniger gedankenvoll, aber in der psychologischen Zeichnung der Figuren George Meredith als Psycholog Briefe Bellas, welche Intriguen man gegen ihn gespielt hat, und daß der Der Roman „Richard Feverel" ist reich an wirkungsvollen Situationen Weniger gedankenvoll, aber in der psychologischen Zeichnung der Figuren <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0367" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301621"/> <fw type="header" place="top"> George Meredith als Psycholog</fw><lb/> <p xml:id="ID_1325" prev="#ID_1324"> Briefe Bellas, welche Intriguen man gegen ihn gespielt hat, und daß der<lb/> Lord Mountfalcon seiner jungen Frau auf Wight nachgestellt habe; nur ein<lb/> paar Stunden weilt Richard in Raynham bei Lucy, dann eilt er davon, um<lb/> sich mit dem Lord zu schießen. Richard wird verwundet. Lucy fällt in eine<lb/> schwere Krankheit und stirbt. Richard wird zwar gerettet, aber die Feuer¬<lb/> probe des Lebens hat er nicht bestanden, sein Glück ist dahin, er hat es der<lb/> verkehrten Erziehungsart eines „systematischen" Vaters opfern müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1326"> Der Roman „Richard Feverel" ist reich an wirkungsvollen Situationen<lb/> und psychologisch fein gezeichneten Figuren. Die Gestalten aus dem Volksleben,<lb/> zum Beispiel Farmer Blaize und die alte Kinderfrau Mrs. Berry, sind mit<lb/> realistischer Naturtreue und feinem Humor entworfen, und auch die geistvoll<lb/> satirischen Schilderungen der englischen Gesellschaft zeigen uns den Verfasser<lb/> als einen scharfen Beobachter und erfahrnen Kenner. Die zahlreichen Reflexionen<lb/> und Betrachtungen erscheinen nicht bloß dekorativ, sondern sind organisch und<lb/> bedeutungsvoll in das Gewebe der epischen Handlung eingeschaltet. Der<lb/> prophylaktischen Erziehungsmethode wird zum Beispiel die „Theorie des Aus-<lb/> tobens" gegenübergestellt. „Es ist alles Unsinn, sagt der gichtische Lord Heddon,<lb/> der Vater eines schwachsinnigen Sohnes, wenn wir versuchen, einem jungen<lb/> Manne eine ungewöhnliche Erziehung zu geben. Es ist besser für ihn, wenn<lb/> er etwas wild ist, so lange er noch grün ist, wenn er seine Knochen und<lb/> Muskeln fühlt, wenn er die Welt kennen lernt. Er wird niemals ein Mann<lb/> werden, wenn er nicht zu einer Zeit seines Lebens das alte Spiel getrieben<lb/> hat; je früher er es tut, um so besser. Ich habe immer gesunden, daß die besten<lb/> Männer recht wild gelebt haben." Der Autor steht mit seinen Sympathien<lb/> weder auf der Seite dieser Austober noch auf der Seite der Vorbeuger. Sein<lb/> Ideal ist die reine Jugendliebe, die ohne Rücksicht auf Traditionen zur Ehe¬<lb/> gemeinschaft führt. Über die Frauen fällt er oft scharfe Urteile: „Die Frauen<lb/> sind Feiglinge, sie lassen sich leichter von Ironie und Leidenschaft unterwerfe»,<lb/> als daß sie ihre Herzen der Vortrefflichkeit und Natürlichkeit hingeben." Und<lb/> doch ist ihr Einfluß unermeßlich: „Wer kann von sich sagen, in welchem Augenblick<lb/> er nicht als eine von einer Frau geleitete Puppe umhergeht?" Der Verfasser<lb/> spricht an einer Stelle von der „philosophischen Geographie" und betont, daß<lb/> jeder Mensch zu der einen oder der andern Zeit einen kleinen Rubikon habe,<lb/> ein klares oder ein trübes Wasser, das er überschreiten müsse. „Wenn man<lb/> den glücklichen Punkt der Weisheit erreicht hat, von dem aus man die ganze<lb/> Menschheit als Narren sieht, dann mögen diese winzigen Geschöpfe doch so<lb/> viel neue Bewegungen machen, wie sie wollen, man wundert sich nicht mehr<lb/> über sie; ihr würdiges Benehmen ist ebenso komisch wie ihre Albernheiten,<lb/> und ihre Leidenschaften sind noch komischer." Diese Meinung Adrians ist auch<lb/> die des Autors.</p><lb/> <p xml:id="ID_1327" next="#ID_1328"> Weniger gedankenvoll, aber in der psychologischen Zeichnung der Figuren<lb/> uoch feiner, mannigfaltiger und humorvoller und im Dialog realistischer und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0367]
George Meredith als Psycholog
Briefe Bellas, welche Intriguen man gegen ihn gespielt hat, und daß der
Lord Mountfalcon seiner jungen Frau auf Wight nachgestellt habe; nur ein
paar Stunden weilt Richard in Raynham bei Lucy, dann eilt er davon, um
sich mit dem Lord zu schießen. Richard wird verwundet. Lucy fällt in eine
schwere Krankheit und stirbt. Richard wird zwar gerettet, aber die Feuer¬
probe des Lebens hat er nicht bestanden, sein Glück ist dahin, er hat es der
verkehrten Erziehungsart eines „systematischen" Vaters opfern müssen.
Der Roman „Richard Feverel" ist reich an wirkungsvollen Situationen
und psychologisch fein gezeichneten Figuren. Die Gestalten aus dem Volksleben,
zum Beispiel Farmer Blaize und die alte Kinderfrau Mrs. Berry, sind mit
realistischer Naturtreue und feinem Humor entworfen, und auch die geistvoll
satirischen Schilderungen der englischen Gesellschaft zeigen uns den Verfasser
als einen scharfen Beobachter und erfahrnen Kenner. Die zahlreichen Reflexionen
und Betrachtungen erscheinen nicht bloß dekorativ, sondern sind organisch und
bedeutungsvoll in das Gewebe der epischen Handlung eingeschaltet. Der
prophylaktischen Erziehungsmethode wird zum Beispiel die „Theorie des Aus-
tobens" gegenübergestellt. „Es ist alles Unsinn, sagt der gichtische Lord Heddon,
der Vater eines schwachsinnigen Sohnes, wenn wir versuchen, einem jungen
Manne eine ungewöhnliche Erziehung zu geben. Es ist besser für ihn, wenn
er etwas wild ist, so lange er noch grün ist, wenn er seine Knochen und
Muskeln fühlt, wenn er die Welt kennen lernt. Er wird niemals ein Mann
werden, wenn er nicht zu einer Zeit seines Lebens das alte Spiel getrieben
hat; je früher er es tut, um so besser. Ich habe immer gesunden, daß die besten
Männer recht wild gelebt haben." Der Autor steht mit seinen Sympathien
weder auf der Seite dieser Austober noch auf der Seite der Vorbeuger. Sein
Ideal ist die reine Jugendliebe, die ohne Rücksicht auf Traditionen zur Ehe¬
gemeinschaft führt. Über die Frauen fällt er oft scharfe Urteile: „Die Frauen
sind Feiglinge, sie lassen sich leichter von Ironie und Leidenschaft unterwerfe»,
als daß sie ihre Herzen der Vortrefflichkeit und Natürlichkeit hingeben." Und
doch ist ihr Einfluß unermeßlich: „Wer kann von sich sagen, in welchem Augenblick
er nicht als eine von einer Frau geleitete Puppe umhergeht?" Der Verfasser
spricht an einer Stelle von der „philosophischen Geographie" und betont, daß
jeder Mensch zu der einen oder der andern Zeit einen kleinen Rubikon habe,
ein klares oder ein trübes Wasser, das er überschreiten müsse. „Wenn man
den glücklichen Punkt der Weisheit erreicht hat, von dem aus man die ganze
Menschheit als Narren sieht, dann mögen diese winzigen Geschöpfe doch so
viel neue Bewegungen machen, wie sie wollen, man wundert sich nicht mehr
über sie; ihr würdiges Benehmen ist ebenso komisch wie ihre Albernheiten,
und ihre Leidenschaften sind noch komischer." Diese Meinung Adrians ist auch
die des Autors.
Weniger gedankenvoll, aber in der psychologischen Zeichnung der Figuren
uoch feiner, mannigfaltiger und humorvoller und im Dialog realistischer und
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