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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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George Meredith als Psycholog

packender ist der Roman "Rhoda Fleming" (1864). Die Bauerngeschichten,
die Meredith uns hier vorführt, erinnern in ihrer Urwüchsigkeit, in ihrer
schwerfälligen und gutmütigen Art an Shakespearische Figuren, aber auch an
wohlbekannte Typen Fritz Reuters, vor allem der kentische Farmer William
John Fleming, der Wirtschaftsgehilfe Robert Eccles, sein Vater Jonathan und
der Knecht Gammon, "ein alter Mann mit den Augen einer antediluvianischer
Eidechse".

Bauer Fleming hat zwei Töchter Dahlia und Rhoda, beide hübsch, gesund,
über ihren Stand erzogen und voll von Träumen und Lebenshoffnungen.
Mißernten hatten ihn in Schulden gebracht, und nach dem Tode seiner Frau
geht es in der Wirtschaft nicht mehr recht vorwärts; würde ihm der Schwager
Anton Hackbutt in London helfen, der sich als Kassenbote scheinbar viel Geld
verdient hat, dann wäre die Sache nicht so schlimm; aber dieser komische Kauz
ist ein Geizhals. Und der Bauer ist schon zufrieden, daß Schwager Anton die
Dahlia als Gesellschafterin nach London nimmt. Die Szene, wie der Bauer
mit Anton zusammensitzt und herausbringen will, wie viel Geld Anton hat,
wirkt mit ihrem packenden Humor wie eine Shakespearische. Die hübsche Dahlia
wird natürlich in London bald umschwärmt und findet in dem jungen Juristen
Edward Blancove, dem Sohne des Barons William, einen Liebhaber. Auch Rhoda,
die mit rührender Schwesterliebe an Dahlia hängt, kommt zum Besuch nach
London und sieht mit ihrer naiven Unbefangenheit die ganze Liebesseligkeit
der Schwester. Dahlia macht mit ihrem Liebhaber eine Reise nach Italien und
schreibt darüber der Schwester voll Entzücken. Aber der alte Bauer merkt
Unheil; er will wissen, ob Dahlia mit dem jungen Manne verheiratet ist oder
nicht, er führt nach London. Anton führt ihn in ein Theater, und hier sehen
sie Dahlia mit ihrem Liebhaber in einer Loge. Es entsteht eine Skandalszene.
Edward zieht sich von Dahlia zurück, und diese füllt in eine schwere Krankheit.
Jetzt sucht Robert Eccles, der Rhoda liebt, die Ehre der Familie Fleming zu
retten, und er bringt Edward endlich so weit, daß dieser Dahlia heiraten will,
aber Dahlia schlägt ihn, des Lebens überdrüssig, ab und bleibt einsam auf
dem Bauernhofe, den Robert und Rhoda übernehmen.

Auch in dem Roman "Rhoda Fleming" -- eigentlich müßte er nach der
Heldin "Dahlia Fleming" heißen -- haben wir, wie in "Richard Feverel", die
beiden sich gegenüberstehenden Gruppen: die sentimentale mit ihren unklaren
aber nach Lebensgenuß trachtenden Gestalten und auf der andern Seite die
gesunde mit ihren das Leben in seiner Wirklichkeit erfassender Menschen; die
erste leidet in den Kämpfen Schiffbruch, die andre ringt sich zu einem reinen
und gesunden Lebensgenuß hindurch.

In der kunstvollen Analyse der Frauenseele ist Meredith ein Meister, er
hat in dieser Fertigkeit sein Vorbild Richardson weit übertroffen. Das zeigt
sich auch in seinem Roman "Vittoria" (1866), worin die in dem italienischen
Aufstande von 1848 eine Rolle spielende Heldin vortrefflich gezeichnet ist, und


George Meredith als Psycholog

packender ist der Roman „Rhoda Fleming" (1864). Die Bauerngeschichten,
die Meredith uns hier vorführt, erinnern in ihrer Urwüchsigkeit, in ihrer
schwerfälligen und gutmütigen Art an Shakespearische Figuren, aber auch an
wohlbekannte Typen Fritz Reuters, vor allem der kentische Farmer William
John Fleming, der Wirtschaftsgehilfe Robert Eccles, sein Vater Jonathan und
der Knecht Gammon, „ein alter Mann mit den Augen einer antediluvianischer
Eidechse".

Bauer Fleming hat zwei Töchter Dahlia und Rhoda, beide hübsch, gesund,
über ihren Stand erzogen und voll von Träumen und Lebenshoffnungen.
Mißernten hatten ihn in Schulden gebracht, und nach dem Tode seiner Frau
geht es in der Wirtschaft nicht mehr recht vorwärts; würde ihm der Schwager
Anton Hackbutt in London helfen, der sich als Kassenbote scheinbar viel Geld
verdient hat, dann wäre die Sache nicht so schlimm; aber dieser komische Kauz
ist ein Geizhals. Und der Bauer ist schon zufrieden, daß Schwager Anton die
Dahlia als Gesellschafterin nach London nimmt. Die Szene, wie der Bauer
mit Anton zusammensitzt und herausbringen will, wie viel Geld Anton hat,
wirkt mit ihrem packenden Humor wie eine Shakespearische. Die hübsche Dahlia
wird natürlich in London bald umschwärmt und findet in dem jungen Juristen
Edward Blancove, dem Sohne des Barons William, einen Liebhaber. Auch Rhoda,
die mit rührender Schwesterliebe an Dahlia hängt, kommt zum Besuch nach
London und sieht mit ihrer naiven Unbefangenheit die ganze Liebesseligkeit
der Schwester. Dahlia macht mit ihrem Liebhaber eine Reise nach Italien und
schreibt darüber der Schwester voll Entzücken. Aber der alte Bauer merkt
Unheil; er will wissen, ob Dahlia mit dem jungen Manne verheiratet ist oder
nicht, er führt nach London. Anton führt ihn in ein Theater, und hier sehen
sie Dahlia mit ihrem Liebhaber in einer Loge. Es entsteht eine Skandalszene.
Edward zieht sich von Dahlia zurück, und diese füllt in eine schwere Krankheit.
Jetzt sucht Robert Eccles, der Rhoda liebt, die Ehre der Familie Fleming zu
retten, und er bringt Edward endlich so weit, daß dieser Dahlia heiraten will,
aber Dahlia schlägt ihn, des Lebens überdrüssig, ab und bleibt einsam auf
dem Bauernhofe, den Robert und Rhoda übernehmen.

Auch in dem Roman „Rhoda Fleming" — eigentlich müßte er nach der
Heldin „Dahlia Fleming" heißen — haben wir, wie in „Richard Feverel", die
beiden sich gegenüberstehenden Gruppen: die sentimentale mit ihren unklaren
aber nach Lebensgenuß trachtenden Gestalten und auf der andern Seite die
gesunde mit ihren das Leben in seiner Wirklichkeit erfassender Menschen; die
erste leidet in den Kämpfen Schiffbruch, die andre ringt sich zu einem reinen
und gesunden Lebensgenuß hindurch.

In der kunstvollen Analyse der Frauenseele ist Meredith ein Meister, er
hat in dieser Fertigkeit sein Vorbild Richardson weit übertroffen. Das zeigt
sich auch in seinem Roman „Vittoria" (1866), worin die in dem italienischen
Aufstande von 1848 eine Rolle spielende Heldin vortrefflich gezeichnet ist, und


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[0368] George Meredith als Psycholog packender ist der Roman „Rhoda Fleming" (1864). Die Bauerngeschichten, die Meredith uns hier vorführt, erinnern in ihrer Urwüchsigkeit, in ihrer schwerfälligen und gutmütigen Art an Shakespearische Figuren, aber auch an wohlbekannte Typen Fritz Reuters, vor allem der kentische Farmer William John Fleming, der Wirtschaftsgehilfe Robert Eccles, sein Vater Jonathan und der Knecht Gammon, „ein alter Mann mit den Augen einer antediluvianischer Eidechse". Bauer Fleming hat zwei Töchter Dahlia und Rhoda, beide hübsch, gesund, über ihren Stand erzogen und voll von Träumen und Lebenshoffnungen. Mißernten hatten ihn in Schulden gebracht, und nach dem Tode seiner Frau geht es in der Wirtschaft nicht mehr recht vorwärts; würde ihm der Schwager Anton Hackbutt in London helfen, der sich als Kassenbote scheinbar viel Geld verdient hat, dann wäre die Sache nicht so schlimm; aber dieser komische Kauz ist ein Geizhals. Und der Bauer ist schon zufrieden, daß Schwager Anton die Dahlia als Gesellschafterin nach London nimmt. Die Szene, wie der Bauer mit Anton zusammensitzt und herausbringen will, wie viel Geld Anton hat, wirkt mit ihrem packenden Humor wie eine Shakespearische. Die hübsche Dahlia wird natürlich in London bald umschwärmt und findet in dem jungen Juristen Edward Blancove, dem Sohne des Barons William, einen Liebhaber. Auch Rhoda, die mit rührender Schwesterliebe an Dahlia hängt, kommt zum Besuch nach London und sieht mit ihrer naiven Unbefangenheit die ganze Liebesseligkeit der Schwester. Dahlia macht mit ihrem Liebhaber eine Reise nach Italien und schreibt darüber der Schwester voll Entzücken. Aber der alte Bauer merkt Unheil; er will wissen, ob Dahlia mit dem jungen Manne verheiratet ist oder nicht, er führt nach London. Anton führt ihn in ein Theater, und hier sehen sie Dahlia mit ihrem Liebhaber in einer Loge. Es entsteht eine Skandalszene. Edward zieht sich von Dahlia zurück, und diese füllt in eine schwere Krankheit. Jetzt sucht Robert Eccles, der Rhoda liebt, die Ehre der Familie Fleming zu retten, und er bringt Edward endlich so weit, daß dieser Dahlia heiraten will, aber Dahlia schlägt ihn, des Lebens überdrüssig, ab und bleibt einsam auf dem Bauernhofe, den Robert und Rhoda übernehmen. Auch in dem Roman „Rhoda Fleming" — eigentlich müßte er nach der Heldin „Dahlia Fleming" heißen — haben wir, wie in „Richard Feverel", die beiden sich gegenüberstehenden Gruppen: die sentimentale mit ihren unklaren aber nach Lebensgenuß trachtenden Gestalten und auf der andern Seite die gesunde mit ihren das Leben in seiner Wirklichkeit erfassender Menschen; die erste leidet in den Kämpfen Schiffbruch, die andre ringt sich zu einem reinen und gesunden Lebensgenuß hindurch. In der kunstvollen Analyse der Frauenseele ist Meredith ein Meister, er hat in dieser Fertigkeit sein Vorbild Richardson weit übertroffen. Das zeigt sich auch in seinem Roman „Vittoria" (1866), worin die in dem italienischen Aufstande von 1848 eine Rolle spielende Heldin vortrefflich gezeichnet ist, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/368>, abgerufen am 24.07.2024.