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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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George Meredith als Psycholog

durch andauernde Gebete zu stärken, denn vor allem soll er ein Christ werden.
Die Verse, mit denen der in romantischen Phantasien lebende Richard ganze
Bogen vollgeschrieben hat, muß er vernichten, und da er allmählich in "das
magnetische Zeitalter", das Alter erotischer Stimmungen kommt, läßt Sir Austin
die nach des Hausmeisters Angaben verliebten Stubenmädchen aus dem Schlosse
entfernen, da sie einen ungünstigen Einfluß auf Richards Moral haben könnten.
"Kein paarweises Herumschlendern! befiehlt er, kein öffentliches Küssen! Bei
solchen Vorgängen sollte kein Knabe Zeuge sein." Wenn es diskret geschehe,
habe er nichts dagegen einzuwenden. Richard ist daher nicht wenig erstaunt,
als er seinen Vater selbst in einer Liebesszene mit einer Lady findet. Eines
Tages rudert der junge Held auf der Themse und sieht am Ufer zwischen den
Brombeeren ein reizendes Mädchen; es ist Lucy, die Nichte des Farmers
Blaize. Die Liebesszene, die Meredith nun zwischen den beiden jungen Menschen¬
kindern spielen läßt, ist eine der lieblichsten der ganzen englischen Literatur,
voll von harmloser Natürlichkeit und entzückender Poesie. Sir Austin erfährt
von dieser Liebe und sieht darin eine große Gefahr; er läßt Richard nach
London kommen, wo er im Begriff ist, für seinen Sohn die Braut aus einer
gesunden, noch unverdorbnen Adelsfamilie auszuwählen. "Es gibt Frauen in
der Welt, mein Sohn, sagt Sir Austin warnend, wenn du mit ihnen zu¬
sammentriffst, dann beginnt die entscheidende Prüfung. Wenn du sie kennen
lernst, wird dein Leben dir entweder zum Gaukelspiel oder, nach der Erfahrung
andrer, zu einer Gabe des Segens. Die Frauen sind unsre Feuerprobe."

Sir Austin sucht sein pädagogisches System der Prophylaxe weiter durch¬
zuführen. Der Farmer wird bewogen, Lucy in ein Stift zu geben, und
Richard soll in London leben, um seine Jugendliebe zu vergessen. Aber in
London trifft er mit Lucy zusammen; sein Freund Ripton mietet sie bei
Mrs. Berry ein, und Richard, der alles Vertrauen zu seinem Vater verloren
hat, ist entschlossen, das Mädchen gegen den Willen des Vaters und der Ver¬
wandten zu heiraten. Die Vermählung wird vollzogen, und das junge Paar
verbringt seine Flitterwochen auf der Insel Wight. Mit packenden Humor
und feiner Satire sind die Szenen geschildert, wo Adrian den fassungsloser
Verwandten je ein Stück des Hochzeitskuchens überbringt. Jetzt beginnen die
Intriguen. Die Verwandten wollen Richards Ehe unter allen Umständen ungiltig
machen. Sie locken ihn nach London, weil er nur hier mit seinem Vater eine
Unterredung haben könne. Er wird in den Kreis leichtsinniger Lebemänner
gezogen und fällt in die Hände der raffinierter Demimonde Bella. Richard
verliert allen Halt und alle Energie. Gewissensbisse und Scham hindern ihn,
zu seiner jungen Frau zurückzukehren. Als er dann erfährt, daß seine un¬
glücklich verheiratete Cousine Klara gestorben sei, und daß sie nur ihn geliebt
habe, verläßt er, mit sich und der Welt ganz zerfallen, England. Erst nach
der Mitteilung, daß Lucy ihm einen Sohn geboren habe, und daß der Vater
zur Versöhnung bereit sei, kehrt er zurück. In London ersieht er aus einem


George Meredith als Psycholog

durch andauernde Gebete zu stärken, denn vor allem soll er ein Christ werden.
Die Verse, mit denen der in romantischen Phantasien lebende Richard ganze
Bogen vollgeschrieben hat, muß er vernichten, und da er allmählich in „das
magnetische Zeitalter", das Alter erotischer Stimmungen kommt, läßt Sir Austin
die nach des Hausmeisters Angaben verliebten Stubenmädchen aus dem Schlosse
entfernen, da sie einen ungünstigen Einfluß auf Richards Moral haben könnten.
„Kein paarweises Herumschlendern! befiehlt er, kein öffentliches Küssen! Bei
solchen Vorgängen sollte kein Knabe Zeuge sein." Wenn es diskret geschehe,
habe er nichts dagegen einzuwenden. Richard ist daher nicht wenig erstaunt,
als er seinen Vater selbst in einer Liebesszene mit einer Lady findet. Eines
Tages rudert der junge Held auf der Themse und sieht am Ufer zwischen den
Brombeeren ein reizendes Mädchen; es ist Lucy, die Nichte des Farmers
Blaize. Die Liebesszene, die Meredith nun zwischen den beiden jungen Menschen¬
kindern spielen läßt, ist eine der lieblichsten der ganzen englischen Literatur,
voll von harmloser Natürlichkeit und entzückender Poesie. Sir Austin erfährt
von dieser Liebe und sieht darin eine große Gefahr; er läßt Richard nach
London kommen, wo er im Begriff ist, für seinen Sohn die Braut aus einer
gesunden, noch unverdorbnen Adelsfamilie auszuwählen. „Es gibt Frauen in
der Welt, mein Sohn, sagt Sir Austin warnend, wenn du mit ihnen zu¬
sammentriffst, dann beginnt die entscheidende Prüfung. Wenn du sie kennen
lernst, wird dein Leben dir entweder zum Gaukelspiel oder, nach der Erfahrung
andrer, zu einer Gabe des Segens. Die Frauen sind unsre Feuerprobe."

Sir Austin sucht sein pädagogisches System der Prophylaxe weiter durch¬
zuführen. Der Farmer wird bewogen, Lucy in ein Stift zu geben, und
Richard soll in London leben, um seine Jugendliebe zu vergessen. Aber in
London trifft er mit Lucy zusammen; sein Freund Ripton mietet sie bei
Mrs. Berry ein, und Richard, der alles Vertrauen zu seinem Vater verloren
hat, ist entschlossen, das Mädchen gegen den Willen des Vaters und der Ver¬
wandten zu heiraten. Die Vermählung wird vollzogen, und das junge Paar
verbringt seine Flitterwochen auf der Insel Wight. Mit packenden Humor
und feiner Satire sind die Szenen geschildert, wo Adrian den fassungsloser
Verwandten je ein Stück des Hochzeitskuchens überbringt. Jetzt beginnen die
Intriguen. Die Verwandten wollen Richards Ehe unter allen Umständen ungiltig
machen. Sie locken ihn nach London, weil er nur hier mit seinem Vater eine
Unterredung haben könne. Er wird in den Kreis leichtsinniger Lebemänner
gezogen und fällt in die Hände der raffinierter Demimonde Bella. Richard
verliert allen Halt und alle Energie. Gewissensbisse und Scham hindern ihn,
zu seiner jungen Frau zurückzukehren. Als er dann erfährt, daß seine un¬
glücklich verheiratete Cousine Klara gestorben sei, und daß sie nur ihn geliebt
habe, verläßt er, mit sich und der Welt ganz zerfallen, England. Erst nach
der Mitteilung, daß Lucy ihm einen Sohn geboren habe, und daß der Vater
zur Versöhnung bereit sei, kehrt er zurück. In London ersieht er aus einem


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[0366] George Meredith als Psycholog durch andauernde Gebete zu stärken, denn vor allem soll er ein Christ werden. Die Verse, mit denen der in romantischen Phantasien lebende Richard ganze Bogen vollgeschrieben hat, muß er vernichten, und da er allmählich in „das magnetische Zeitalter", das Alter erotischer Stimmungen kommt, läßt Sir Austin die nach des Hausmeisters Angaben verliebten Stubenmädchen aus dem Schlosse entfernen, da sie einen ungünstigen Einfluß auf Richards Moral haben könnten. „Kein paarweises Herumschlendern! befiehlt er, kein öffentliches Küssen! Bei solchen Vorgängen sollte kein Knabe Zeuge sein." Wenn es diskret geschehe, habe er nichts dagegen einzuwenden. Richard ist daher nicht wenig erstaunt, als er seinen Vater selbst in einer Liebesszene mit einer Lady findet. Eines Tages rudert der junge Held auf der Themse und sieht am Ufer zwischen den Brombeeren ein reizendes Mädchen; es ist Lucy, die Nichte des Farmers Blaize. Die Liebesszene, die Meredith nun zwischen den beiden jungen Menschen¬ kindern spielen läßt, ist eine der lieblichsten der ganzen englischen Literatur, voll von harmloser Natürlichkeit und entzückender Poesie. Sir Austin erfährt von dieser Liebe und sieht darin eine große Gefahr; er läßt Richard nach London kommen, wo er im Begriff ist, für seinen Sohn die Braut aus einer gesunden, noch unverdorbnen Adelsfamilie auszuwählen. „Es gibt Frauen in der Welt, mein Sohn, sagt Sir Austin warnend, wenn du mit ihnen zu¬ sammentriffst, dann beginnt die entscheidende Prüfung. Wenn du sie kennen lernst, wird dein Leben dir entweder zum Gaukelspiel oder, nach der Erfahrung andrer, zu einer Gabe des Segens. Die Frauen sind unsre Feuerprobe." Sir Austin sucht sein pädagogisches System der Prophylaxe weiter durch¬ zuführen. Der Farmer wird bewogen, Lucy in ein Stift zu geben, und Richard soll in London leben, um seine Jugendliebe zu vergessen. Aber in London trifft er mit Lucy zusammen; sein Freund Ripton mietet sie bei Mrs. Berry ein, und Richard, der alles Vertrauen zu seinem Vater verloren hat, ist entschlossen, das Mädchen gegen den Willen des Vaters und der Ver¬ wandten zu heiraten. Die Vermählung wird vollzogen, und das junge Paar verbringt seine Flitterwochen auf der Insel Wight. Mit packenden Humor und feiner Satire sind die Szenen geschildert, wo Adrian den fassungsloser Verwandten je ein Stück des Hochzeitskuchens überbringt. Jetzt beginnen die Intriguen. Die Verwandten wollen Richards Ehe unter allen Umständen ungiltig machen. Sie locken ihn nach London, weil er nur hier mit seinem Vater eine Unterredung haben könne. Er wird in den Kreis leichtsinniger Lebemänner gezogen und fällt in die Hände der raffinierter Demimonde Bella. Richard verliert allen Halt und alle Energie. Gewissensbisse und Scham hindern ihn, zu seiner jungen Frau zurückzukehren. Als er dann erfährt, daß seine un¬ glücklich verheiratete Cousine Klara gestorben sei, und daß sie nur ihn geliebt habe, verläßt er, mit sich und der Welt ganz zerfallen, England. Erst nach der Mitteilung, daß Lucy ihm einen Sohn geboren habe, und daß der Vater zur Versöhnung bereit sei, kehrt er zurück. In London ersieht er aus einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/366>, abgerufen am 24.07.2024.