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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Der Landverlust der deutschen Küsten

Beide Durchbruchstellen fordern andauernd gespannte Aufmerksamkeit, damit sie
sich nicht erweitern, und waren erst in der jüngsten großen Ostseeflut in der Nacht
zum 31. Dezember 1904 wieder ein Ort sehr ernsthafter Gefahr. Eine schwer
bedrohte Stelle auf Rügen ist auch die große schmale Landzunge der Schabe, die
Arkona und die Halbinsel Wittow mit der Halbinsel Jasmund und der Stubbnitz
verbindet: in ihrer ganzen Ausdehnung der Gewalt der Nordoststürme preis¬
gegeben, ist sie eine stete Gefahr, daß auch das vielgegliederte Rügen bald einmal
in zwei gesonderte Inseln zerspalten wird. Noch akuter aber ist diese Gefahr für
die Insel Usedom: die vom Meer schon erzwungne, eben erwähnte Verbindung
mit dem großen Achterwasser der Peene wird sich bei künftigen Sturmfluten mehr
und mehr ausbreiten -- ungeachtet aller Sicherheitsmaßregeln --, und das heutige
östliche und westliche Usedom wird schließlich, in hundert oder mehr Jahren, in
zwei durch eine breite Wasserstraße getrennte Inseln auseinanderklaffen, womit
der Oder ein vierter Mündungsarm in die Ostsee eröffnet sein wird.

So treffen wir an der Ostseeküste allenthalben auf Spuren schwerer Zer¬
störung. Die berühmte Erzählung von der im Meer untergegangnen schönen
Wunderstadt Vineta, die einst am Fuß des Streckelberges auf Usedom an der
Stelle der heutigen Dmnerower Riffe gestanden haben soll, ist freilich, wie ein¬
wandfrei feststeht, eine gegenstandslose Sage, deren historischer Kern nur in der
Zerstörung (1172) und dem raschen Niedergang der einst unermeßlich reichen
und mächtigen Wendenstadt Julin (Wollin) zu suchen ist. Die Geschichte der
Ostsee weiß nichts von Städten und Flecken, die in Sturmfluten urplötzlich
verschwunden und spurlos vom Meere verschlungen worden sind. Wohl aber
kennt die Nordsee solche Ereignisse, sogar in einer erschreckend großen Zahl! Die
Nordsee, "die Mordsee", wie sie Liliemron nennt, ist ja noch viel gefährlicher und
furchtbarer als die Ostsee; ihre Stürme sind viel häufiger und heftiger, und ihre
Fluten sind wohl die schwersten und zahlreichsten in allen Meeren Europas.

Wenn man einen Blick auf die Karte der deutscheu und der niederländischen
Nordseeküste wirft, so fallen einem als besonders charakteristisch die zahlreichen,
der Küste vorgelagerten größern und kleinern Inseln auf, die sogleich den Ein¬
druck erwecken, daß sie sowohl miteinander wie mit dem Festlande zusammen¬
gehangen haben müssen, da sich in ihren Konturen der Verlauf der alten Fest¬
landküste noch deutlich widerspiegelt. Das Meer hat in jahrtauseudlangem
Kampf das Land zersägt und zerrissen und seine Grenzen tief in das einstige
Innere vorgeschoben; die Inseln sind die Denkmäler eines unaufhaltsamen
Siegeszugs, und jede einzelne gibt Kunde von schweren Stürmen und Über¬
schwemmungen, die einst ihre Verbindungen mit dem Lande zersprengt haben.
Nicht mit Unrecht singt Liliencron in seinem prachtvollen Gedicht von der
"Blanken Hans":

Zweifellos am großartigsten sind an der Nordseeküste die Umwandlungen,
die die Insel Helgoland in der historischen Zeit im Lauf der Jahrhunderte


Der Landverlust der deutschen Küsten

Beide Durchbruchstellen fordern andauernd gespannte Aufmerksamkeit, damit sie
sich nicht erweitern, und waren erst in der jüngsten großen Ostseeflut in der Nacht
zum 31. Dezember 1904 wieder ein Ort sehr ernsthafter Gefahr. Eine schwer
bedrohte Stelle auf Rügen ist auch die große schmale Landzunge der Schabe, die
Arkona und die Halbinsel Wittow mit der Halbinsel Jasmund und der Stubbnitz
verbindet: in ihrer ganzen Ausdehnung der Gewalt der Nordoststürme preis¬
gegeben, ist sie eine stete Gefahr, daß auch das vielgegliederte Rügen bald einmal
in zwei gesonderte Inseln zerspalten wird. Noch akuter aber ist diese Gefahr für
die Insel Usedom: die vom Meer schon erzwungne, eben erwähnte Verbindung
mit dem großen Achterwasser der Peene wird sich bei künftigen Sturmfluten mehr
und mehr ausbreiten — ungeachtet aller Sicherheitsmaßregeln —, und das heutige
östliche und westliche Usedom wird schließlich, in hundert oder mehr Jahren, in
zwei durch eine breite Wasserstraße getrennte Inseln auseinanderklaffen, womit
der Oder ein vierter Mündungsarm in die Ostsee eröffnet sein wird.

So treffen wir an der Ostseeküste allenthalben auf Spuren schwerer Zer¬
störung. Die berühmte Erzählung von der im Meer untergegangnen schönen
Wunderstadt Vineta, die einst am Fuß des Streckelberges auf Usedom an der
Stelle der heutigen Dmnerower Riffe gestanden haben soll, ist freilich, wie ein¬
wandfrei feststeht, eine gegenstandslose Sage, deren historischer Kern nur in der
Zerstörung (1172) und dem raschen Niedergang der einst unermeßlich reichen
und mächtigen Wendenstadt Julin (Wollin) zu suchen ist. Die Geschichte der
Ostsee weiß nichts von Städten und Flecken, die in Sturmfluten urplötzlich
verschwunden und spurlos vom Meere verschlungen worden sind. Wohl aber
kennt die Nordsee solche Ereignisse, sogar in einer erschreckend großen Zahl! Die
Nordsee, „die Mordsee", wie sie Liliemron nennt, ist ja noch viel gefährlicher und
furchtbarer als die Ostsee; ihre Stürme sind viel häufiger und heftiger, und ihre
Fluten sind wohl die schwersten und zahlreichsten in allen Meeren Europas.

Wenn man einen Blick auf die Karte der deutscheu und der niederländischen
Nordseeküste wirft, so fallen einem als besonders charakteristisch die zahlreichen,
der Küste vorgelagerten größern und kleinern Inseln auf, die sogleich den Ein¬
druck erwecken, daß sie sowohl miteinander wie mit dem Festlande zusammen¬
gehangen haben müssen, da sich in ihren Konturen der Verlauf der alten Fest¬
landküste noch deutlich widerspiegelt. Das Meer hat in jahrtauseudlangem
Kampf das Land zersägt und zerrissen und seine Grenzen tief in das einstige
Innere vorgeschoben; die Inseln sind die Denkmäler eines unaufhaltsamen
Siegeszugs, und jede einzelne gibt Kunde von schweren Stürmen und Über¬
schwemmungen, die einst ihre Verbindungen mit dem Lande zersprengt haben.
Nicht mit Unrecht singt Liliencron in seinem prachtvollen Gedicht von der
„Blanken Hans":

Zweifellos am großartigsten sind an der Nordseeküste die Umwandlungen,
die die Insel Helgoland in der historischen Zeit im Lauf der Jahrhunderte


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[0323] Der Landverlust der deutschen Küsten Beide Durchbruchstellen fordern andauernd gespannte Aufmerksamkeit, damit sie sich nicht erweitern, und waren erst in der jüngsten großen Ostseeflut in der Nacht zum 31. Dezember 1904 wieder ein Ort sehr ernsthafter Gefahr. Eine schwer bedrohte Stelle auf Rügen ist auch die große schmale Landzunge der Schabe, die Arkona und die Halbinsel Wittow mit der Halbinsel Jasmund und der Stubbnitz verbindet: in ihrer ganzen Ausdehnung der Gewalt der Nordoststürme preis¬ gegeben, ist sie eine stete Gefahr, daß auch das vielgegliederte Rügen bald einmal in zwei gesonderte Inseln zerspalten wird. Noch akuter aber ist diese Gefahr für die Insel Usedom: die vom Meer schon erzwungne, eben erwähnte Verbindung mit dem großen Achterwasser der Peene wird sich bei künftigen Sturmfluten mehr und mehr ausbreiten — ungeachtet aller Sicherheitsmaßregeln —, und das heutige östliche und westliche Usedom wird schließlich, in hundert oder mehr Jahren, in zwei durch eine breite Wasserstraße getrennte Inseln auseinanderklaffen, womit der Oder ein vierter Mündungsarm in die Ostsee eröffnet sein wird. So treffen wir an der Ostseeküste allenthalben auf Spuren schwerer Zer¬ störung. Die berühmte Erzählung von der im Meer untergegangnen schönen Wunderstadt Vineta, die einst am Fuß des Streckelberges auf Usedom an der Stelle der heutigen Dmnerower Riffe gestanden haben soll, ist freilich, wie ein¬ wandfrei feststeht, eine gegenstandslose Sage, deren historischer Kern nur in der Zerstörung (1172) und dem raschen Niedergang der einst unermeßlich reichen und mächtigen Wendenstadt Julin (Wollin) zu suchen ist. Die Geschichte der Ostsee weiß nichts von Städten und Flecken, die in Sturmfluten urplötzlich verschwunden und spurlos vom Meere verschlungen worden sind. Wohl aber kennt die Nordsee solche Ereignisse, sogar in einer erschreckend großen Zahl! Die Nordsee, „die Mordsee", wie sie Liliemron nennt, ist ja noch viel gefährlicher und furchtbarer als die Ostsee; ihre Stürme sind viel häufiger und heftiger, und ihre Fluten sind wohl die schwersten und zahlreichsten in allen Meeren Europas. Wenn man einen Blick auf die Karte der deutscheu und der niederländischen Nordseeküste wirft, so fallen einem als besonders charakteristisch die zahlreichen, der Küste vorgelagerten größern und kleinern Inseln auf, die sogleich den Ein¬ druck erwecken, daß sie sowohl miteinander wie mit dem Festlande zusammen¬ gehangen haben müssen, da sich in ihren Konturen der Verlauf der alten Fest¬ landküste noch deutlich widerspiegelt. Das Meer hat in jahrtauseudlangem Kampf das Land zersägt und zerrissen und seine Grenzen tief in das einstige Innere vorgeschoben; die Inseln sind die Denkmäler eines unaufhaltsamen Siegeszugs, und jede einzelne gibt Kunde von schweren Stürmen und Über¬ schwemmungen, die einst ihre Verbindungen mit dem Lande zersprengt haben. Nicht mit Unrecht singt Liliencron in seinem prachtvollen Gedicht von der „Blanken Hans": Zweifellos am großartigsten sind an der Nordseeküste die Umwandlungen, die die Insel Helgoland in der historischen Zeit im Lauf der Jahrhunderte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/323>, abgerufen am 02.07.2024.