Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Altes und Neues aus Lngland

Als sich Tom einige Jahre nach seinem Abgang ans der Schule einmal fragt,
was er dort gewollt und getrieben habe, findet er nach einigem Besinnen die
Antwort: "Ich wollte in Kricket, Fußball und in allen andern Spielen Nummer
eins sein und mich meiner Fäuste gut genug bedienen können, um meinen
Kopf gegen die Fäuste eines jeden andern, sei er ein Gentleman oder ein
Bauernlümmel, verteidigen zu können. Ich wollte von hier so viel Latein und
Griechisch mit fortnehmen, daß ich mich an der Universität einigermaßen be¬
haupten könnte, und ich wollte hier den Ruf eines Jungen zurücklassen, der
niemals einen kleinern mißhandelt und niemals vor einem größern Fersengeld
gegeben habe." Demgemäß ist der noch nicht proletarisierte Engländer unter¬
nehmungslustig, kühn und von einem kraftvollen Tätigkeitsorange beseelt.
Verliert aber seine Vernunft einmal die Zügel, zu", Beispiel in dem sehr
häufigen Alkoholrausch. oder gerät er an einen Ort. wo die Schranken der
Sitte, die Kontrolle durchs Publikum fehlen, dann brechen die imiwal sxiritZ,
die das englische Weltreich aufgerichtet haben, in der Gestalt der Bestie hervor.
Taine hat diese nicht bloß bei Proletariern, sondern bei Gentlemen und Ladies
in Epsom beobachtet. "Der Gegensatz zwischen dem fein gekleideten künstlichen
Menschen und dem natürlichen, zwischen dem Gentleman, der mechanisch aus
Gewohnheit seine Würde wahrt, und zwischen dem Tier, das ausbricht, ist
grotesk." Und ganz so wie wir vor Jahren getan haben, erklärt er hieraus die
englische Prüderie. Der Engländer ist entweder prüde oder ein Tier; darum
kann ohne Prüderie eine anstündige Öffentlichkeit und ein gesittetes Familien¬
leben nicht aufrecht erhalten werden. Das "Laster" kennt er nicht in seinen
feinen, anmutigen und reizenden Gestalten, sondern nur in der gröbsten und
rohesten Form, die allerdings in kolossaler Ausdehnung herrscht. Aber der
Engländer schämt sich dieser Erscheinung und tut namentlich dem Fremden
gegenüber so, als wüßte er nichts davon. Und es ist das nicht reine Heuchelei;
er hält das Laster wirklich für Laster und schätzt nichts höher als ein behag-
liches und reines Familienleben, wenn er sich auch nicht enthalten kann, hier
und da eine Extratour zu unternehmen, die jedoch streng bewahrtes Geheimnis
bleibt. In unserm heutigen Deutschland, wo der Simplicissimus eine Macht
geworden ist, lohnt es sich, daran zu erinnern, daß Taine im Punch nicht ein
einziges Dirnenbild gefunden hat, und daß, wie er sich überzeugt hat, die
Witzblätter das Familienleben und besonders den treuen Ehemann zwar
humoristisch behandeln, aber niemals dem Gespött und der Verachtung der
sogenannten starken Geister preisgeben.

Das englische Erstgeburtsrecht wirkt nach Taine zwar verderblich auf die
glücklichen unglücklichen Majoratserben, die von Kindheit an wissen, daß sie
keiner Anstrengung bedürfen, um zeitlebens im Luxus leben zu können, und
die deshalb zu einem großen Teil sittlich verkommen, aber sehr heilsam auf
die nachgebornen Söhne, die alle Kräfte aufbieten, um ein Vermögen zu er¬
werben, das ihnen den Luxus und die soziale Stellung sichert, deren sie sich


Altes und Neues aus Lngland

Als sich Tom einige Jahre nach seinem Abgang ans der Schule einmal fragt,
was er dort gewollt und getrieben habe, findet er nach einigem Besinnen die
Antwort: „Ich wollte in Kricket, Fußball und in allen andern Spielen Nummer
eins sein und mich meiner Fäuste gut genug bedienen können, um meinen
Kopf gegen die Fäuste eines jeden andern, sei er ein Gentleman oder ein
Bauernlümmel, verteidigen zu können. Ich wollte von hier so viel Latein und
Griechisch mit fortnehmen, daß ich mich an der Universität einigermaßen be¬
haupten könnte, und ich wollte hier den Ruf eines Jungen zurücklassen, der
niemals einen kleinern mißhandelt und niemals vor einem größern Fersengeld
gegeben habe." Demgemäß ist der noch nicht proletarisierte Engländer unter¬
nehmungslustig, kühn und von einem kraftvollen Tätigkeitsorange beseelt.
Verliert aber seine Vernunft einmal die Zügel, zu», Beispiel in dem sehr
häufigen Alkoholrausch. oder gerät er an einen Ort. wo die Schranken der
Sitte, die Kontrolle durchs Publikum fehlen, dann brechen die imiwal sxiritZ,
die das englische Weltreich aufgerichtet haben, in der Gestalt der Bestie hervor.
Taine hat diese nicht bloß bei Proletariern, sondern bei Gentlemen und Ladies
in Epsom beobachtet. „Der Gegensatz zwischen dem fein gekleideten künstlichen
Menschen und dem natürlichen, zwischen dem Gentleman, der mechanisch aus
Gewohnheit seine Würde wahrt, und zwischen dem Tier, das ausbricht, ist
grotesk." Und ganz so wie wir vor Jahren getan haben, erklärt er hieraus die
englische Prüderie. Der Engländer ist entweder prüde oder ein Tier; darum
kann ohne Prüderie eine anstündige Öffentlichkeit und ein gesittetes Familien¬
leben nicht aufrecht erhalten werden. Das „Laster" kennt er nicht in seinen
feinen, anmutigen und reizenden Gestalten, sondern nur in der gröbsten und
rohesten Form, die allerdings in kolossaler Ausdehnung herrscht. Aber der
Engländer schämt sich dieser Erscheinung und tut namentlich dem Fremden
gegenüber so, als wüßte er nichts davon. Und es ist das nicht reine Heuchelei;
er hält das Laster wirklich für Laster und schätzt nichts höher als ein behag-
liches und reines Familienleben, wenn er sich auch nicht enthalten kann, hier
und da eine Extratour zu unternehmen, die jedoch streng bewahrtes Geheimnis
bleibt. In unserm heutigen Deutschland, wo der Simplicissimus eine Macht
geworden ist, lohnt es sich, daran zu erinnern, daß Taine im Punch nicht ein
einziges Dirnenbild gefunden hat, und daß, wie er sich überzeugt hat, die
Witzblätter das Familienleben und besonders den treuen Ehemann zwar
humoristisch behandeln, aber niemals dem Gespött und der Verachtung der
sogenannten starken Geister preisgeben.

Das englische Erstgeburtsrecht wirkt nach Taine zwar verderblich auf die
glücklichen unglücklichen Majoratserben, die von Kindheit an wissen, daß sie
keiner Anstrengung bedürfen, um zeitlebens im Luxus leben zu können, und
die deshalb zu einem großen Teil sittlich verkommen, aber sehr heilsam auf
die nachgebornen Söhne, die alle Kräfte aufbieten, um ein Vermögen zu er¬
werben, das ihnen den Luxus und die soziale Stellung sichert, deren sie sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301561"/>
          <fw type="header" place="top"> Altes und Neues aus Lngland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1044" prev="#ID_1043"> Als sich Tom einige Jahre nach seinem Abgang ans der Schule einmal fragt,<lb/>
was er dort gewollt und getrieben habe, findet er nach einigem Besinnen die<lb/>
Antwort: &#x201E;Ich wollte in Kricket, Fußball und in allen andern Spielen Nummer<lb/>
eins sein und mich meiner Fäuste gut genug bedienen können, um meinen<lb/>
Kopf gegen die Fäuste eines jeden andern, sei er ein Gentleman oder ein<lb/>
Bauernlümmel, verteidigen zu können. Ich wollte von hier so viel Latein und<lb/>
Griechisch mit fortnehmen, daß ich mich an der Universität einigermaßen be¬<lb/>
haupten könnte, und ich wollte hier den Ruf eines Jungen zurücklassen, der<lb/>
niemals einen kleinern mißhandelt und niemals vor einem größern Fersengeld<lb/>
gegeben habe." Demgemäß ist der noch nicht proletarisierte Engländer unter¬<lb/>
nehmungslustig, kühn und von einem kraftvollen Tätigkeitsorange beseelt.<lb/>
Verliert aber seine Vernunft einmal die Zügel, zu», Beispiel in dem sehr<lb/>
häufigen Alkoholrausch. oder gerät er an einen Ort. wo die Schranken der<lb/>
Sitte, die Kontrolle durchs Publikum fehlen, dann brechen die imiwal sxiritZ,<lb/>
die das englische Weltreich aufgerichtet haben, in der Gestalt der Bestie hervor.<lb/>
Taine hat diese nicht bloß bei Proletariern, sondern bei Gentlemen und Ladies<lb/>
in Epsom beobachtet. &#x201E;Der Gegensatz zwischen dem fein gekleideten künstlichen<lb/>
Menschen und dem natürlichen, zwischen dem Gentleman, der mechanisch aus<lb/>
Gewohnheit seine Würde wahrt, und zwischen dem Tier, das ausbricht, ist<lb/>
grotesk." Und ganz so wie wir vor Jahren getan haben, erklärt er hieraus die<lb/>
englische Prüderie. Der Engländer ist entweder prüde oder ein Tier; darum<lb/>
kann ohne Prüderie eine anstündige Öffentlichkeit und ein gesittetes Familien¬<lb/>
leben nicht aufrecht erhalten werden. Das &#x201E;Laster" kennt er nicht in seinen<lb/>
feinen, anmutigen und reizenden Gestalten, sondern nur in der gröbsten und<lb/>
rohesten Form, die allerdings in kolossaler Ausdehnung herrscht. Aber der<lb/>
Engländer schämt sich dieser Erscheinung und tut namentlich dem Fremden<lb/>
gegenüber so, als wüßte er nichts davon. Und es ist das nicht reine Heuchelei;<lb/>
er hält das Laster wirklich für Laster und schätzt nichts höher als ein behag-<lb/>
liches und reines Familienleben, wenn er sich auch nicht enthalten kann, hier<lb/>
und da eine Extratour zu unternehmen, die jedoch streng bewahrtes Geheimnis<lb/>
bleibt. In unserm heutigen Deutschland, wo der Simplicissimus eine Macht<lb/>
geworden ist, lohnt es sich, daran zu erinnern, daß Taine im Punch nicht ein<lb/>
einziges Dirnenbild gefunden hat, und daß, wie er sich überzeugt hat, die<lb/>
Witzblätter das Familienleben und besonders den treuen Ehemann zwar<lb/>
humoristisch behandeln, aber niemals dem Gespött und der Verachtung der<lb/>
sogenannten starken Geister preisgeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1045" next="#ID_1046"> Das englische Erstgeburtsrecht wirkt nach Taine zwar verderblich auf die<lb/>
glücklichen unglücklichen Majoratserben, die von Kindheit an wissen, daß sie<lb/>
keiner Anstrengung bedürfen, um zeitlebens im Luxus leben zu können, und<lb/>
die deshalb zu einem großen Teil sittlich verkommen, aber sehr heilsam auf<lb/>
die nachgebornen Söhne, die alle Kräfte aufbieten, um ein Vermögen zu er¬<lb/>
werben, das ihnen den Luxus und die soziale Stellung sichert, deren sie sich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0307] Altes und Neues aus Lngland Als sich Tom einige Jahre nach seinem Abgang ans der Schule einmal fragt, was er dort gewollt und getrieben habe, findet er nach einigem Besinnen die Antwort: „Ich wollte in Kricket, Fußball und in allen andern Spielen Nummer eins sein und mich meiner Fäuste gut genug bedienen können, um meinen Kopf gegen die Fäuste eines jeden andern, sei er ein Gentleman oder ein Bauernlümmel, verteidigen zu können. Ich wollte von hier so viel Latein und Griechisch mit fortnehmen, daß ich mich an der Universität einigermaßen be¬ haupten könnte, und ich wollte hier den Ruf eines Jungen zurücklassen, der niemals einen kleinern mißhandelt und niemals vor einem größern Fersengeld gegeben habe." Demgemäß ist der noch nicht proletarisierte Engländer unter¬ nehmungslustig, kühn und von einem kraftvollen Tätigkeitsorange beseelt. Verliert aber seine Vernunft einmal die Zügel, zu», Beispiel in dem sehr häufigen Alkoholrausch. oder gerät er an einen Ort. wo die Schranken der Sitte, die Kontrolle durchs Publikum fehlen, dann brechen die imiwal sxiritZ, die das englische Weltreich aufgerichtet haben, in der Gestalt der Bestie hervor. Taine hat diese nicht bloß bei Proletariern, sondern bei Gentlemen und Ladies in Epsom beobachtet. „Der Gegensatz zwischen dem fein gekleideten künstlichen Menschen und dem natürlichen, zwischen dem Gentleman, der mechanisch aus Gewohnheit seine Würde wahrt, und zwischen dem Tier, das ausbricht, ist grotesk." Und ganz so wie wir vor Jahren getan haben, erklärt er hieraus die englische Prüderie. Der Engländer ist entweder prüde oder ein Tier; darum kann ohne Prüderie eine anstündige Öffentlichkeit und ein gesittetes Familien¬ leben nicht aufrecht erhalten werden. Das „Laster" kennt er nicht in seinen feinen, anmutigen und reizenden Gestalten, sondern nur in der gröbsten und rohesten Form, die allerdings in kolossaler Ausdehnung herrscht. Aber der Engländer schämt sich dieser Erscheinung und tut namentlich dem Fremden gegenüber so, als wüßte er nichts davon. Und es ist das nicht reine Heuchelei; er hält das Laster wirklich für Laster und schätzt nichts höher als ein behag- liches und reines Familienleben, wenn er sich auch nicht enthalten kann, hier und da eine Extratour zu unternehmen, die jedoch streng bewahrtes Geheimnis bleibt. In unserm heutigen Deutschland, wo der Simplicissimus eine Macht geworden ist, lohnt es sich, daran zu erinnern, daß Taine im Punch nicht ein einziges Dirnenbild gefunden hat, und daß, wie er sich überzeugt hat, die Witzblätter das Familienleben und besonders den treuen Ehemann zwar humoristisch behandeln, aber niemals dem Gespött und der Verachtung der sogenannten starken Geister preisgeben. Das englische Erstgeburtsrecht wirkt nach Taine zwar verderblich auf die glücklichen unglücklichen Majoratserben, die von Kindheit an wissen, daß sie keiner Anstrengung bedürfen, um zeitlebens im Luxus leben zu können, und die deshalb zu einem großen Teil sittlich verkommen, aber sehr heilsam auf die nachgebornen Söhne, die alle Kräfte aufbieten, um ein Vermögen zu er¬ werben, das ihnen den Luxus und die soziale Stellung sichert, deren sie sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/307
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/307>, abgerufen am 24.07.2024.