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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Altes und Neues aus England

man dieses Häßliche jetzt auch in Italien und bei den Negern überhandnehmen,
in dem Maße, als die malerische Nationaltracht und die dem Klima angemessene
Kleiderlosigkeit der modernen "Kultur" hat weichen müssen.j Ein Bauer, ein
Arbeiter, ein Handwerker ist bei uns ein andrer aber nicht ein schlechterer Mensch
als der Vornehme; seine Jacke gehört ihm, wie mir mein Rock, und sie hat nur
ihm gedient. Diese Verwendung von Lumpen ist mehr als eine bloße Eigen¬
tümlichkeit; sie verrät einen Mangel an Stolz; die Armen fügen sich hier
darein, Stufen für die Füße andrer zu sein." Der menschliche Auswurf, sagt
er an einer andern Stelle, sieht nicht allein in England sondern auch in
Deutschland und in Holland jämmerlicher aus als in den romanischen Ländern,
und selbst in den Armenhäusern, wo damals schon die Leute gut genährt und
mit einem gewissen Komfort versehen wurden, fand er die alten Männer ver¬
brauchter als daheim. Den Gesamteindruck seiner Schilderungen kann man in
die Worte zusammenfassen: unmittelbar neben dem Gipfel des raffiniertesten
und nicht mehr zu überbietendem Komforts gähnt der Höllenschlund absoluter
unooiutortÄvIsness.

Diese Nachbarschaft ist nun nicht etwa ein Zufall, sondern deutet auf
einen kausalen Zusammenhang hin. Taine stellt keine volkswirtschaftlichen
Betrachtungen an, aber aus seinen Schilderungen läßt sich die Geschichte der
englischen Volkswirtschaft ablesen. Die Spartheorie, die der philisterhafte und
halbpuritanische Schotte Adam Smith wider den von ihm selbst zugestcmdnen
Augenschein in die Geschichte des Kapitals hineingebracht hat, wird in England
gründlicher als in jedem andern Lande von der Erfahrung widerlegt. Der
Engländer, wiederholt Taine oft, spart nicht. Das einzige, womit der Mann
des Mittelstandes für seine und der Seinigen Zukunft sorgt, ist ein Ver¬
sicherungsbeitrag. Sein Wahlspruch lautet: viel verdienen und viel ausgeben.
Der Reichtum der englischen Reichen (das sagt nicht mehr Taine) ist nicht in
der Weise entstanden, daß ein paar Millionen kleiner Leute in einem cnt-
behrungsvollen Leben Pfennig zu Pfennig gelegt hätten, sondern er ist geschaffen
worden durch die Anhäufung des Grundbesitzes in den Händen verhältnismäßig
weniger Familien, durch die rücksichts- und schonungslose Ausbeutung der hei¬
niischen Armen und durch die teils gewaltsame, teils kommerzielle Ausplünderung
andrer Nationen.

Die Wurzel der englischen Macht ist, wie Taine an den verschiedenartigsten
Erscheinungen zeigt, die kräftige und gesunde Leiblichkeit des nicht verkümmerten
Teils des Volkes, die nicht, wie bei uns, durch Schul- und sonstigen Drill
unterdrückt, sondern sorglich gepflegt wird, nur daß strenge Sitte ihre weniger
wünschenswerten Äußerungen in Schranken hält. Alle englischen Schuljungen
sehen Iiealtli^ auel ac-lips aus, energisch und selbständig, kindlich und männlich
zugleich; kindlich, weil sie gern spielen und sich balgen, ohne Verlangen nach
den sogenannten Genüssen der Erwachsnen, männlich, weil sie frei und selbständig
sich selbst regieren. Taine zitiert Tom Brown, ein seinerzeit beliebtes Buch.


Altes und Neues aus England

man dieses Häßliche jetzt auch in Italien und bei den Negern überhandnehmen,
in dem Maße, als die malerische Nationaltracht und die dem Klima angemessene
Kleiderlosigkeit der modernen „Kultur" hat weichen müssen.j Ein Bauer, ein
Arbeiter, ein Handwerker ist bei uns ein andrer aber nicht ein schlechterer Mensch
als der Vornehme; seine Jacke gehört ihm, wie mir mein Rock, und sie hat nur
ihm gedient. Diese Verwendung von Lumpen ist mehr als eine bloße Eigen¬
tümlichkeit; sie verrät einen Mangel an Stolz; die Armen fügen sich hier
darein, Stufen für die Füße andrer zu sein." Der menschliche Auswurf, sagt
er an einer andern Stelle, sieht nicht allein in England sondern auch in
Deutschland und in Holland jämmerlicher aus als in den romanischen Ländern,
und selbst in den Armenhäusern, wo damals schon die Leute gut genährt und
mit einem gewissen Komfort versehen wurden, fand er die alten Männer ver¬
brauchter als daheim. Den Gesamteindruck seiner Schilderungen kann man in
die Worte zusammenfassen: unmittelbar neben dem Gipfel des raffiniertesten
und nicht mehr zu überbietendem Komforts gähnt der Höllenschlund absoluter
unooiutortÄvIsness.

Diese Nachbarschaft ist nun nicht etwa ein Zufall, sondern deutet auf
einen kausalen Zusammenhang hin. Taine stellt keine volkswirtschaftlichen
Betrachtungen an, aber aus seinen Schilderungen läßt sich die Geschichte der
englischen Volkswirtschaft ablesen. Die Spartheorie, die der philisterhafte und
halbpuritanische Schotte Adam Smith wider den von ihm selbst zugestcmdnen
Augenschein in die Geschichte des Kapitals hineingebracht hat, wird in England
gründlicher als in jedem andern Lande von der Erfahrung widerlegt. Der
Engländer, wiederholt Taine oft, spart nicht. Das einzige, womit der Mann
des Mittelstandes für seine und der Seinigen Zukunft sorgt, ist ein Ver¬
sicherungsbeitrag. Sein Wahlspruch lautet: viel verdienen und viel ausgeben.
Der Reichtum der englischen Reichen (das sagt nicht mehr Taine) ist nicht in
der Weise entstanden, daß ein paar Millionen kleiner Leute in einem cnt-
behrungsvollen Leben Pfennig zu Pfennig gelegt hätten, sondern er ist geschaffen
worden durch die Anhäufung des Grundbesitzes in den Händen verhältnismäßig
weniger Familien, durch die rücksichts- und schonungslose Ausbeutung der hei¬
niischen Armen und durch die teils gewaltsame, teils kommerzielle Ausplünderung
andrer Nationen.

Die Wurzel der englischen Macht ist, wie Taine an den verschiedenartigsten
Erscheinungen zeigt, die kräftige und gesunde Leiblichkeit des nicht verkümmerten
Teils des Volkes, die nicht, wie bei uns, durch Schul- und sonstigen Drill
unterdrückt, sondern sorglich gepflegt wird, nur daß strenge Sitte ihre weniger
wünschenswerten Äußerungen in Schranken hält. Alle englischen Schuljungen
sehen Iiealtli^ auel ac-lips aus, energisch und selbständig, kindlich und männlich
zugleich; kindlich, weil sie gern spielen und sich balgen, ohne Verlangen nach
den sogenannten Genüssen der Erwachsnen, männlich, weil sie frei und selbständig
sich selbst regieren. Taine zitiert Tom Brown, ein seinerzeit beliebtes Buch.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/306>, abgerufen am 28.08.2024.