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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Wir kommen nun zur Besprechung des neuen Gepäcktarifs. Es soll also
kein Freigepäck mehr gewährt und für die kleinste Sendung 20 Pfennige be¬
zahlt werden, während bisher 25 Kilo frei befördert wurden und bei Mehr¬
gewicht für jeden Kilometer und für je angefangne 10 Kilo ^ Pfennig bezahlt
wurde. Die einfachste Rechnung ergibt, daß nnr die, die mit Übergewicht zu
reisen gewohnt oder gezwungen waren, in Zukunft billiger, daß dagegen alle
Leute, die mit Freigepäck reisten, wesentlich teurer reisen werden. Ein einfaches
Exempel zeigt dies klar. Die Entfernung zum Beispiel von Elbing bis Berlin
beträgt 474 Kilometer; für 25 Kilo Gepäck sind nach dem neuen Tarif für
Hin- und Rückreise 5 Mark zu zahlen, während früher dafür nichts zu ent¬
richten war. Nehmen wir nun an, daß 50 Kilo Gepäck -- für ein ver¬
reisendes Ehepaar gewiß nicht zu viel! -- zu befördern sind, so betrügt die
Fracht dafür 10 Mark, während man jetzt nichts zu zahlen hat, da auf jede
Karte 25 Kilo frei befördert werden. Bei größern Entfernungen und mehr
wiegenden Sendungen erhöht sich diese Summe immer mehr; bei 800 Kilo¬
metern und 75 Kilo würde die Gepäckfracht 30 Mark für Hin- und Rückreise
betragen, während der Reisende für die Beförderung seiner eignen Person mit
dem Personenzüge nur 48 Mark zu bezahlen hat. Und dazu kommt noch,
daß jedes überschießende Kilo immer gleich für volle 25 Kilo gerechnet werden
soll! Was wird die Folge dieser unglaublich hohen Gepäckfracht sein, falls
sie wirklich, was wir noch immer nicht recht glauben können, eingeführt wird?
Niemand -- wir sprechen immer von den Reisenden der dritten Klasse -- wird
in Zukunft sein Gepäck aufgeben, sondern wird nur die allernotwendigsten
Dinge mitnehmen und diese so geschickt verpacken, daß die Gepäckstücke im Abteil
untergebracht werden köunen. In Zukunft wird mau also in Zeiten starken
Verkehrs nicht bloß um einen Platz für seine eigne Person, sondern noch viel
erbitterter um einen Platz für sein Gepäck kämpfen. Die in den Wagen zur
Unterbringung des Gepäcks getroffnen Einrichtungen werden natürlich nicht
ausreichen, und so wird man denn, zwischen Gepäckstücken eingekeilt, in fürchter¬
licher Enge und gräßlicher Unbequemlichkeit die Eiseubahnfcihrt "genießen".
Und das heißt Erleichterung und Vereinfachung im Eisenbahnverkehr, von der
so oft und so viel gesprochen wurde? Das heißt "im Zeichen des Verkehrs
stehn"? Übrigens wird sich, so hoffen wir, die erfinderische Industrie der Sache
bald annehmen und Reisekoffer herstellen, die recht leicht, sehr härtlich und doch
so geräumig sind, daß man Kleider gut in ihnen unterbringen kann. Wir finden
schon heute in den Koffergeschäften leichte und doch feste Kleiderkartons, die
uns für die bisher benutzten Reisekörbe einen gewünschten Ersatz geben. Auch
zu einem andern Mittel wird man in Zukunft häufiger als bisher greifen: man
wird das Reisegepäck, falls man eine größere Reise unternimmt, als Frachtgut
voraussenden, um die ungeheuern Kosten des neuen Tarifs zu vermeiden.

Die obenstehenden Ausführungen wollen wir uns nun an einem bestimmten
Beispiel klar machen. Ein Ehepaar reist mit seiner Tochter von Breslau zu


Grenzboten I 1907 W

Wir kommen nun zur Besprechung des neuen Gepäcktarifs. Es soll also
kein Freigepäck mehr gewährt und für die kleinste Sendung 20 Pfennige be¬
zahlt werden, während bisher 25 Kilo frei befördert wurden und bei Mehr¬
gewicht für jeden Kilometer und für je angefangne 10 Kilo ^ Pfennig bezahlt
wurde. Die einfachste Rechnung ergibt, daß nnr die, die mit Übergewicht zu
reisen gewohnt oder gezwungen waren, in Zukunft billiger, daß dagegen alle
Leute, die mit Freigepäck reisten, wesentlich teurer reisen werden. Ein einfaches
Exempel zeigt dies klar. Die Entfernung zum Beispiel von Elbing bis Berlin
beträgt 474 Kilometer; für 25 Kilo Gepäck sind nach dem neuen Tarif für
Hin- und Rückreise 5 Mark zu zahlen, während früher dafür nichts zu ent¬
richten war. Nehmen wir nun an, daß 50 Kilo Gepäck — für ein ver¬
reisendes Ehepaar gewiß nicht zu viel! — zu befördern sind, so betrügt die
Fracht dafür 10 Mark, während man jetzt nichts zu zahlen hat, da auf jede
Karte 25 Kilo frei befördert werden. Bei größern Entfernungen und mehr
wiegenden Sendungen erhöht sich diese Summe immer mehr; bei 800 Kilo¬
metern und 75 Kilo würde die Gepäckfracht 30 Mark für Hin- und Rückreise
betragen, während der Reisende für die Beförderung seiner eignen Person mit
dem Personenzüge nur 48 Mark zu bezahlen hat. Und dazu kommt noch,
daß jedes überschießende Kilo immer gleich für volle 25 Kilo gerechnet werden
soll! Was wird die Folge dieser unglaublich hohen Gepäckfracht sein, falls
sie wirklich, was wir noch immer nicht recht glauben können, eingeführt wird?
Niemand — wir sprechen immer von den Reisenden der dritten Klasse — wird
in Zukunft sein Gepäck aufgeben, sondern wird nur die allernotwendigsten
Dinge mitnehmen und diese so geschickt verpacken, daß die Gepäckstücke im Abteil
untergebracht werden köunen. In Zukunft wird mau also in Zeiten starken
Verkehrs nicht bloß um einen Platz für seine eigne Person, sondern noch viel
erbitterter um einen Platz für sein Gepäck kämpfen. Die in den Wagen zur
Unterbringung des Gepäcks getroffnen Einrichtungen werden natürlich nicht
ausreichen, und so wird man denn, zwischen Gepäckstücken eingekeilt, in fürchter¬
licher Enge und gräßlicher Unbequemlichkeit die Eiseubahnfcihrt „genießen".
Und das heißt Erleichterung und Vereinfachung im Eisenbahnverkehr, von der
so oft und so viel gesprochen wurde? Das heißt „im Zeichen des Verkehrs
stehn"? Übrigens wird sich, so hoffen wir, die erfinderische Industrie der Sache
bald annehmen und Reisekoffer herstellen, die recht leicht, sehr härtlich und doch
so geräumig sind, daß man Kleider gut in ihnen unterbringen kann. Wir finden
schon heute in den Koffergeschäften leichte und doch feste Kleiderkartons, die
uns für die bisher benutzten Reisekörbe einen gewünschten Ersatz geben. Auch
zu einem andern Mittel wird man in Zukunft häufiger als bisher greifen: man
wird das Reisegepäck, falls man eine größere Reise unternimmt, als Frachtgut
voraussenden, um die ungeheuern Kosten des neuen Tarifs zu vermeiden.

Die obenstehenden Ausführungen wollen wir uns nun an einem bestimmten
Beispiel klar machen. Ein Ehepaar reist mit seiner Tochter von Breslau zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/297>, abgerufen am 04.07.2024.