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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sie Schöpfung der Sprache

Munde des Engländers als tioK-Is entgegenklingen usw., immer und überall
sehen wir das Gesetz der Metathesis bis auf den heutigen Tag seine ewige
Wirksamkeit ausüben, freilich längst nicht mehr in der großartigen Weise wie
ein dem Tage, als die Sprache ihr "Werde" sprach, sondern in stillerer Art,
hier und da umgestaltend, aber wir wissen jetzt, es ist die alte Urkraft, die
von Anbeginn da war. Wie sehr wir eben für die Vollziehung der Meta¬
thesis veranlagt sein müssen, das können uns endlich jeden Tag aufs neue die
häufigen Fülle von Versprechen dieser Art zeigen, die wir nicht nur bei Kindern
und dem gemeinen Manne, sondern sogar bei dem erwachsnen Gebildeten
beobachten. So muß man sich unter Umständen ordentlich Mühe geben, sich
zum Beispiel bei den beiden Worten konservieren und konversieren, in denen
die mittlern Lautgruppen zufällig im Verhältnis der Metathesis zueinander
stehn, nicht zu versprechen. Oft geben nur auch bewußt in scherzhafter Weise
der Wirkung des Gesetzes nach, besonders wenn das neue Resultat einen ent¬
sprechenden Sinn ergibt: man denke an Umbildungen wie Freischütz zu Schrei¬
fritz und an das scherzhafte 00 xiso der Studentensprache, eine Umsetzung, zu
der der Antrieb offenbar in dem sehr starken Hiatus von so ixso lag. So
sehen wir von dem Verhältnis von ein-or: lust-us bis herab zu dieser scherz¬
haften Neubildung dieselbe ewige Schöpfungskraft wirken und erkennen zugleich,
wie die Sprache ihren Urstoff, die Wurzelgebilde, durch das einfache Mittel
der verschiednen Lagerung ihrer Bestandteile zur Mannigfaltigkeit geformt und
damit eine Möglichkeit für die reichste Entwicklung von Anbeginn in sie hinein¬
gelegt hat.

Das dritte große Gesetz, nach dem die Sprache die Mannigfaltigkeit ihrer
Gebilde aus einer einfachen Einheit geschaffen hat, ist die konsonantische Ab¬
wandlung ein und derselben Wurzel: danach können in jeder Wurzel sämt¬
liche Konsonanten von Haus aus miteinander wechseln, genan so wie die Vo¬
kale. Ganz allmählich, Schritt für Schritt, in langem, hartem Ringen mit
dem Stoffe ergab sich diese einfache Erkenntnis, die zunächst stutzig machen
muß. Es würde zu weit führen, wenn ich hier auch diese neue Wahrheit an
den Tatsachen zeigen wollte, so sehr ich mir bewußt bin, daß ich den Leser
von dieser letzten neuen Erkenntnis nur auf demselben langen und mühsamen
Wege ganz überzeugen könnte, der den Forscher zu diesem Ziele geführt hat.
Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, in knappen Zügen die Art und
Weise vorzuführen, wie er allmählich nur durch die Gewalt der Tatsachen zu
dieser zuerst kühn erscheinenden Erkenntnis geführt, ja gedrängt wurde. Zu¬
nächst zeigte sich, daß bei der Urschöpfung der Sprache in jeder Wurzel, die
einen liquiden oder einen nasalen Laut enthält, von vornherein ein beliebiger
Wechsel zwischen den Lauten l, r, in, n eintreten konnte. Die Beispiele sind
wieder ungezählt, und um das Gesetz zur Anschauung zu bringen, führe ich
nur unser deutsches Wort "scheinen" an, dessen Wurzel wir in sämtlichen vier
Erscheinungsformen nebeneinander hervortreten sehen als schein-en (gotisch


Sie Schöpfung der Sprache

Munde des Engländers als tioK-Is entgegenklingen usw., immer und überall
sehen wir das Gesetz der Metathesis bis auf den heutigen Tag seine ewige
Wirksamkeit ausüben, freilich längst nicht mehr in der großartigen Weise wie
ein dem Tage, als die Sprache ihr „Werde" sprach, sondern in stillerer Art,
hier und da umgestaltend, aber wir wissen jetzt, es ist die alte Urkraft, die
von Anbeginn da war. Wie sehr wir eben für die Vollziehung der Meta¬
thesis veranlagt sein müssen, das können uns endlich jeden Tag aufs neue die
häufigen Fülle von Versprechen dieser Art zeigen, die wir nicht nur bei Kindern
und dem gemeinen Manne, sondern sogar bei dem erwachsnen Gebildeten
beobachten. So muß man sich unter Umständen ordentlich Mühe geben, sich
zum Beispiel bei den beiden Worten konservieren und konversieren, in denen
die mittlern Lautgruppen zufällig im Verhältnis der Metathesis zueinander
stehn, nicht zu versprechen. Oft geben nur auch bewußt in scherzhafter Weise
der Wirkung des Gesetzes nach, besonders wenn das neue Resultat einen ent¬
sprechenden Sinn ergibt: man denke an Umbildungen wie Freischütz zu Schrei¬
fritz und an das scherzhafte 00 xiso der Studentensprache, eine Umsetzung, zu
der der Antrieb offenbar in dem sehr starken Hiatus von so ixso lag. So
sehen wir von dem Verhältnis von ein-or: lust-us bis herab zu dieser scherz¬
haften Neubildung dieselbe ewige Schöpfungskraft wirken und erkennen zugleich,
wie die Sprache ihren Urstoff, die Wurzelgebilde, durch das einfache Mittel
der verschiednen Lagerung ihrer Bestandteile zur Mannigfaltigkeit geformt und
damit eine Möglichkeit für die reichste Entwicklung von Anbeginn in sie hinein¬
gelegt hat.

Das dritte große Gesetz, nach dem die Sprache die Mannigfaltigkeit ihrer
Gebilde aus einer einfachen Einheit geschaffen hat, ist die konsonantische Ab¬
wandlung ein und derselben Wurzel: danach können in jeder Wurzel sämt¬
liche Konsonanten von Haus aus miteinander wechseln, genan so wie die Vo¬
kale. Ganz allmählich, Schritt für Schritt, in langem, hartem Ringen mit
dem Stoffe ergab sich diese einfache Erkenntnis, die zunächst stutzig machen
muß. Es würde zu weit führen, wenn ich hier auch diese neue Wahrheit an
den Tatsachen zeigen wollte, so sehr ich mir bewußt bin, daß ich den Leser
von dieser letzten neuen Erkenntnis nur auf demselben langen und mühsamen
Wege ganz überzeugen könnte, der den Forscher zu diesem Ziele geführt hat.
Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, in knappen Zügen die Art und
Weise vorzuführen, wie er allmählich nur durch die Gewalt der Tatsachen zu
dieser zuerst kühn erscheinenden Erkenntnis geführt, ja gedrängt wurde. Zu¬
nächst zeigte sich, daß bei der Urschöpfung der Sprache in jeder Wurzel, die
einen liquiden oder einen nasalen Laut enthält, von vornherein ein beliebiger
Wechsel zwischen den Lauten l, r, in, n eintreten konnte. Die Beispiele sind
wieder ungezählt, und um das Gesetz zur Anschauung zu bringen, führe ich
nur unser deutsches Wort „scheinen" an, dessen Wurzel wir in sämtlichen vier
Erscheinungsformen nebeneinander hervortreten sehen als schein-en (gotisch


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[0259] Sie Schöpfung der Sprache Munde des Engländers als tioK-Is entgegenklingen usw., immer und überall sehen wir das Gesetz der Metathesis bis auf den heutigen Tag seine ewige Wirksamkeit ausüben, freilich längst nicht mehr in der großartigen Weise wie ein dem Tage, als die Sprache ihr „Werde" sprach, sondern in stillerer Art, hier und da umgestaltend, aber wir wissen jetzt, es ist die alte Urkraft, die von Anbeginn da war. Wie sehr wir eben für die Vollziehung der Meta¬ thesis veranlagt sein müssen, das können uns endlich jeden Tag aufs neue die häufigen Fülle von Versprechen dieser Art zeigen, die wir nicht nur bei Kindern und dem gemeinen Manne, sondern sogar bei dem erwachsnen Gebildeten beobachten. So muß man sich unter Umständen ordentlich Mühe geben, sich zum Beispiel bei den beiden Worten konservieren und konversieren, in denen die mittlern Lautgruppen zufällig im Verhältnis der Metathesis zueinander stehn, nicht zu versprechen. Oft geben nur auch bewußt in scherzhafter Weise der Wirkung des Gesetzes nach, besonders wenn das neue Resultat einen ent¬ sprechenden Sinn ergibt: man denke an Umbildungen wie Freischütz zu Schrei¬ fritz und an das scherzhafte 00 xiso der Studentensprache, eine Umsetzung, zu der der Antrieb offenbar in dem sehr starken Hiatus von so ixso lag. So sehen wir von dem Verhältnis von ein-or: lust-us bis herab zu dieser scherz¬ haften Neubildung dieselbe ewige Schöpfungskraft wirken und erkennen zugleich, wie die Sprache ihren Urstoff, die Wurzelgebilde, durch das einfache Mittel der verschiednen Lagerung ihrer Bestandteile zur Mannigfaltigkeit geformt und damit eine Möglichkeit für die reichste Entwicklung von Anbeginn in sie hinein¬ gelegt hat. Das dritte große Gesetz, nach dem die Sprache die Mannigfaltigkeit ihrer Gebilde aus einer einfachen Einheit geschaffen hat, ist die konsonantische Ab¬ wandlung ein und derselben Wurzel: danach können in jeder Wurzel sämt¬ liche Konsonanten von Haus aus miteinander wechseln, genan so wie die Vo¬ kale. Ganz allmählich, Schritt für Schritt, in langem, hartem Ringen mit dem Stoffe ergab sich diese einfache Erkenntnis, die zunächst stutzig machen muß. Es würde zu weit führen, wenn ich hier auch diese neue Wahrheit an den Tatsachen zeigen wollte, so sehr ich mir bewußt bin, daß ich den Leser von dieser letzten neuen Erkenntnis nur auf demselben langen und mühsamen Wege ganz überzeugen könnte, der den Forscher zu diesem Ziele geführt hat. Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, in knappen Zügen die Art und Weise vorzuführen, wie er allmählich nur durch die Gewalt der Tatsachen zu dieser zuerst kühn erscheinenden Erkenntnis geführt, ja gedrängt wurde. Zu¬ nächst zeigte sich, daß bei der Urschöpfung der Sprache in jeder Wurzel, die einen liquiden oder einen nasalen Laut enthält, von vornherein ein beliebiger Wechsel zwischen den Lauten l, r, in, n eintreten konnte. Die Beispiele sind wieder ungezählt, und um das Gesetz zur Anschauung zu bringen, führe ich nur unser deutsches Wort „scheinen" an, dessen Wurzel wir in sämtlichen vier Erscheinungsformen nebeneinander hervortreten sehen als schein-en (gotisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/259>, abgerufen am 05.07.2024.