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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die Schöpfung der Sprache

der Sprache organisch zusammenfinden in seinem gemeinsamen Ursprünge, der
Wurzel, in so verschiednen Formen diese auch äußerlich auftreten mag. So
könnte ich noch Hunderte, ja Tausende von Beispielen für die Wirksamkeit
dieses sprachschöpferischen Gesetzes anführen und in seinem Lichte die interessan¬
testen, bisher verborgen gebliebner etymologischen Zusammenhänge ausweisen;
aber auch so schon wird man sich überzeugt haben, wie uns unser Glaube an
ein inneres Band zwischen Form und Inhalt in der Sprache nicht betrogen
hat: die Form der Wurzel wechselt, während ihr Weseninhalt derselbe bleibt.
Zugleich sieht man, welch erstaunlichen Formenreichtum die Sprache durch die
Wirkung des Metathesisgesetzes auf dem einfachsten Wege hervorzubringen ver¬
mochte, einen Formenreichtum, der denn in der Tat über die Gesamtheit der
indogermanischen Sprachen ausgegossen ist, sodaß uus hier dieser, dort jener
Typus je nach der Entwicklung der besondern Sprachgenosseuschaften ent¬
gegentritt.

Was ist denn nun die Metathesis der Laute ihrem Wesen nach? Worauf
beruht diese eigentümliche, für die Urschöpfung der zahllosen Sprachgebilde so
grundbedeutsame Erscheinung? Zweifellos haben wir es mit einem physiologisch¬
psychologischen Vorgange zu tun, einer Reproduktion der Lautgruppen, indem
die zuletzt in das Bewußtsein gelangten Laute als der frischeste Eindruck die
Vorstellung ganz beherrschen und so bei einer Wiedergabe leicht zuerst wieder
zur Erscheinung kommen, und zwar besonders, wenn diese Wiedergabe durch
ein zweites Individuum erfolgt, das den Eindruck der Laute empfangen hat.
Man denke sich in die Zeit der Sprachschöpfung, in die erste Kindheit des
Menschengeschlechts zurück, wo das sprechende und das hörende Individuum
gleichmäßig Naturkinder waren, wo uoch uicht der leiseste Gedanke an eine
schriftliche Wiedergabe der Sprachgebilde aufgetaucht war, und das Knltur-
produkt der schriftlich fixierten Sprache noch nicht seine unberechenbare Wirkung
auf den Menschen ausübte: dann kann mau sich eine schwache Vorstellung
von der ursprünglichen Wirksamkeit dieses Gesetzes machen, das sich auch heute
noch überall dort geltend macht, wo sich das Leben der Sprache in ähnlich
naiven, unbewußten Formen abspielt. Die Sprachen der Naturvölker zeigen
uns die Erscheinung auf Schritt lind Tritt in so reicher Entfaltung, daß zum
Beispiel die Sprache der Snahelineger, deren Material im Munde ihrer Trüger
bis auf den heutigen Tag gleichsam flüssig bewegt geblieben ist, ein und das¬
selbe Wort in jeder möglichen Lagerung seiner Laute aufweist. Die Mund¬
arten in ihrer Urwüchsigkeit sind voll davon, und zwar bei allen Kulturvölkern.
Mag im Munde des deutschen Volkes das französische ser^ent (Sergeant)
die Form Schersant angenommen haben oder der alte mens VossAus des
Cäsar, wie ihn auch unsre Vorfahren in Übereinstimmung mit der heutigen
Bezeichnung Wels-gen-wald nannten, die Form Vöges-en, mag uns in
italienischen Dialekten statt des gewöhnlichen tsleKralo ein tolokra^o, statt
xarolg. (Wort) ein xalorg, ans Ohr schlagen, mag uns unser kitz-ein aus dem


Die Schöpfung der Sprache

der Sprache organisch zusammenfinden in seinem gemeinsamen Ursprünge, der
Wurzel, in so verschiednen Formen diese auch äußerlich auftreten mag. So
könnte ich noch Hunderte, ja Tausende von Beispielen für die Wirksamkeit
dieses sprachschöpferischen Gesetzes anführen und in seinem Lichte die interessan¬
testen, bisher verborgen gebliebner etymologischen Zusammenhänge ausweisen;
aber auch so schon wird man sich überzeugt haben, wie uns unser Glaube an
ein inneres Band zwischen Form und Inhalt in der Sprache nicht betrogen
hat: die Form der Wurzel wechselt, während ihr Weseninhalt derselbe bleibt.
Zugleich sieht man, welch erstaunlichen Formenreichtum die Sprache durch die
Wirkung des Metathesisgesetzes auf dem einfachsten Wege hervorzubringen ver¬
mochte, einen Formenreichtum, der denn in der Tat über die Gesamtheit der
indogermanischen Sprachen ausgegossen ist, sodaß uus hier dieser, dort jener
Typus je nach der Entwicklung der besondern Sprachgenosseuschaften ent¬
gegentritt.

Was ist denn nun die Metathesis der Laute ihrem Wesen nach? Worauf
beruht diese eigentümliche, für die Urschöpfung der zahllosen Sprachgebilde so
grundbedeutsame Erscheinung? Zweifellos haben wir es mit einem physiologisch¬
psychologischen Vorgange zu tun, einer Reproduktion der Lautgruppen, indem
die zuletzt in das Bewußtsein gelangten Laute als der frischeste Eindruck die
Vorstellung ganz beherrschen und so bei einer Wiedergabe leicht zuerst wieder
zur Erscheinung kommen, und zwar besonders, wenn diese Wiedergabe durch
ein zweites Individuum erfolgt, das den Eindruck der Laute empfangen hat.
Man denke sich in die Zeit der Sprachschöpfung, in die erste Kindheit des
Menschengeschlechts zurück, wo das sprechende und das hörende Individuum
gleichmäßig Naturkinder waren, wo uoch uicht der leiseste Gedanke an eine
schriftliche Wiedergabe der Sprachgebilde aufgetaucht war, und das Knltur-
produkt der schriftlich fixierten Sprache noch nicht seine unberechenbare Wirkung
auf den Menschen ausübte: dann kann mau sich eine schwache Vorstellung
von der ursprünglichen Wirksamkeit dieses Gesetzes machen, das sich auch heute
noch überall dort geltend macht, wo sich das Leben der Sprache in ähnlich
naiven, unbewußten Formen abspielt. Die Sprachen der Naturvölker zeigen
uns die Erscheinung auf Schritt lind Tritt in so reicher Entfaltung, daß zum
Beispiel die Sprache der Snahelineger, deren Material im Munde ihrer Trüger
bis auf den heutigen Tag gleichsam flüssig bewegt geblieben ist, ein und das¬
selbe Wort in jeder möglichen Lagerung seiner Laute aufweist. Die Mund¬
arten in ihrer Urwüchsigkeit sind voll davon, und zwar bei allen Kulturvölkern.
Mag im Munde des deutschen Volkes das französische ser^ent (Sergeant)
die Form Schersant angenommen haben oder der alte mens VossAus des
Cäsar, wie ihn auch unsre Vorfahren in Übereinstimmung mit der heutigen
Bezeichnung Wels-gen-wald nannten, die Form Vöges-en, mag uns in
italienischen Dialekten statt des gewöhnlichen tsleKralo ein tolokra^o, statt
xarolg. (Wort) ein xalorg, ans Ohr schlagen, mag uns unser kitz-ein aus dem


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[0258] Die Schöpfung der Sprache der Sprache organisch zusammenfinden in seinem gemeinsamen Ursprünge, der Wurzel, in so verschiednen Formen diese auch äußerlich auftreten mag. So könnte ich noch Hunderte, ja Tausende von Beispielen für die Wirksamkeit dieses sprachschöpferischen Gesetzes anführen und in seinem Lichte die interessan¬ testen, bisher verborgen gebliebner etymologischen Zusammenhänge ausweisen; aber auch so schon wird man sich überzeugt haben, wie uns unser Glaube an ein inneres Band zwischen Form und Inhalt in der Sprache nicht betrogen hat: die Form der Wurzel wechselt, während ihr Weseninhalt derselbe bleibt. Zugleich sieht man, welch erstaunlichen Formenreichtum die Sprache durch die Wirkung des Metathesisgesetzes auf dem einfachsten Wege hervorzubringen ver¬ mochte, einen Formenreichtum, der denn in der Tat über die Gesamtheit der indogermanischen Sprachen ausgegossen ist, sodaß uus hier dieser, dort jener Typus je nach der Entwicklung der besondern Sprachgenosseuschaften ent¬ gegentritt. Was ist denn nun die Metathesis der Laute ihrem Wesen nach? Worauf beruht diese eigentümliche, für die Urschöpfung der zahllosen Sprachgebilde so grundbedeutsame Erscheinung? Zweifellos haben wir es mit einem physiologisch¬ psychologischen Vorgange zu tun, einer Reproduktion der Lautgruppen, indem die zuletzt in das Bewußtsein gelangten Laute als der frischeste Eindruck die Vorstellung ganz beherrschen und so bei einer Wiedergabe leicht zuerst wieder zur Erscheinung kommen, und zwar besonders, wenn diese Wiedergabe durch ein zweites Individuum erfolgt, das den Eindruck der Laute empfangen hat. Man denke sich in die Zeit der Sprachschöpfung, in die erste Kindheit des Menschengeschlechts zurück, wo das sprechende und das hörende Individuum gleichmäßig Naturkinder waren, wo uoch uicht der leiseste Gedanke an eine schriftliche Wiedergabe der Sprachgebilde aufgetaucht war, und das Knltur- produkt der schriftlich fixierten Sprache noch nicht seine unberechenbare Wirkung auf den Menschen ausübte: dann kann mau sich eine schwache Vorstellung von der ursprünglichen Wirksamkeit dieses Gesetzes machen, das sich auch heute noch überall dort geltend macht, wo sich das Leben der Sprache in ähnlich naiven, unbewußten Formen abspielt. Die Sprachen der Naturvölker zeigen uns die Erscheinung auf Schritt lind Tritt in so reicher Entfaltung, daß zum Beispiel die Sprache der Snahelineger, deren Material im Munde ihrer Trüger bis auf den heutigen Tag gleichsam flüssig bewegt geblieben ist, ein und das¬ selbe Wort in jeder möglichen Lagerung seiner Laute aufweist. Die Mund¬ arten in ihrer Urwüchsigkeit sind voll davon, und zwar bei allen Kulturvölkern. Mag im Munde des deutschen Volkes das französische ser^ent (Sergeant) die Form Schersant angenommen haben oder der alte mens VossAus des Cäsar, wie ihn auch unsre Vorfahren in Übereinstimmung mit der heutigen Bezeichnung Wels-gen-wald nannten, die Form Vöges-en, mag uns in italienischen Dialekten statt des gewöhnlichen tsleKralo ein tolokra^o, statt xarolg. (Wort) ein xalorg, ans Ohr schlagen, mag uns unser kitz-ein aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/258>, abgerufen am 04.07.2024.