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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die Schöpfung der Sprache

überall durch das sekundäre hindurch zum Primärer vordringen, und das
Problem der Sprachschöpfung spitzt sich zu in der einen Aufgabe: die Vielheit
der Urgebilde der Sprache, der sogenannten Sprachwurzeln, zurückzuführen auf
eine einfache Einheit. Wir treten also an die Sprache mit einem großen
treibenden Gedanken heran, der den Schlüssel zu ihren Geheimnissen führen
muß, mit einer philosophischen Idee, die den ungeheuern Sprachstoff zunächst
der indogermanischen Sprachfamilie dadurch zu beherrschen sucht, daß sie das
Einzelne im Ganzen und das Ganze im Einzelnen erkennt, mit jener intuitiver
Anschauung eines Goethe und Spinoza, die jede Einzelerscheinung als Teil
eines großen Organismus in seiner innersten Bedingtheit, in seiner Notwendig¬
keit schaut und darum überall Gesetz sieht.

Treten wir mit dem innern Bedürfnis der Einheit in das unermeßliche
Reich des Sprachstosfs ein, so liegt ein Gesetz, nach dem die Sprache die Viel¬
heit ihrer Formen hervorgebracht hat, sofort zutage, das ist die vokalische Ab¬
wandlung ein und derselben Wurzel, die von Haus aus jeder vokalischen
Differenzierung fähig ist. Jedem, sogar dem Laien, springt diese Wahrheit
ins Auge, wenn man ihn nur darauf hinweist, wie dieselbe Wurzel im neu¬
hochdeutschen zum Beispiel als dread-en, ge-broad-en, (er) brach, (er)brich-t,
Bruch, also mit sämtlichen fünf Vokalen erscheint. Einiges Nachdenken er¬
fordert schon die Erkenntnis, daß nach demselben Gesetz matt und müd-e,
Blatt und Blut-e, tat-t und kühl, Tor und Tür, Hahn und Huhn
jedesmal Variationen ein und derselben Wurzel sind, und zugleich stellen wir
fest, wie die formelle Differenzierung hinterher in den Dienst einer innern
treten kann, wie also zum Beispiel die Formen Hahn und Huhn, die ursprüng¬
lich unterschiedslos beide die Art bezeichnen, hinterher von der Sprache zur
Bezeichnung des innern Gegensatzes von männlichem und weiblichem Geschlecht
verwandt werden.

Ein zweites, in seiner Tragweite bisher unbekanntes Gesetz der Wurzel¬
abwandlung, das nach seiner äußern Wirkung zunächst etwas ganz Über¬
raschendes an sich hat, ist die Metathesis oder Lautumsetznng. Wie die äußere
Verschiedenheit mancher anorganischen Körper nur auf die verschiedenartige
Lagerung der Atome zurückzuführen ist (ich erinnere nur an die Kohle und
den Diamant), so hat auch die Sprache die Vielheit ihrer Gebilde zum Teil
durch das einfache Mittel der Umlagerung der Laute hervorgebracht: die
Wurzel kann in jeder Lagerung ihrer Bestandteile erscheinen. Im Lichte dieses
Gesetzes traten mit einemmal uns allen wohlvertraute Wortgestalten in engste
Verbindung, die dem oberflächlichen Blicke weit getrennt erscheinen und doch
ihrem innersten Wesen nach zusammengehören. Von früher Jugend auf sind
wir gewohnt, die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für "Furcht",
ein-or und niht-us, oft in einem Atem zu nennen, aber jetzt erst begreifen
wir die völlige Gleichartigkeit ihres Wesens nach Bedeutung und Form, wo
wir sehen, daß der Begriff "Furcht" an die Wurzel thu wirklich gebunden ist,


Die Schöpfung der Sprache

überall durch das sekundäre hindurch zum Primärer vordringen, und das
Problem der Sprachschöpfung spitzt sich zu in der einen Aufgabe: die Vielheit
der Urgebilde der Sprache, der sogenannten Sprachwurzeln, zurückzuführen auf
eine einfache Einheit. Wir treten also an die Sprache mit einem großen
treibenden Gedanken heran, der den Schlüssel zu ihren Geheimnissen führen
muß, mit einer philosophischen Idee, die den ungeheuern Sprachstoff zunächst
der indogermanischen Sprachfamilie dadurch zu beherrschen sucht, daß sie das
Einzelne im Ganzen und das Ganze im Einzelnen erkennt, mit jener intuitiver
Anschauung eines Goethe und Spinoza, die jede Einzelerscheinung als Teil
eines großen Organismus in seiner innersten Bedingtheit, in seiner Notwendig¬
keit schaut und darum überall Gesetz sieht.

Treten wir mit dem innern Bedürfnis der Einheit in das unermeßliche
Reich des Sprachstosfs ein, so liegt ein Gesetz, nach dem die Sprache die Viel¬
heit ihrer Formen hervorgebracht hat, sofort zutage, das ist die vokalische Ab¬
wandlung ein und derselben Wurzel, die von Haus aus jeder vokalischen
Differenzierung fähig ist. Jedem, sogar dem Laien, springt diese Wahrheit
ins Auge, wenn man ihn nur darauf hinweist, wie dieselbe Wurzel im neu¬
hochdeutschen zum Beispiel als dread-en, ge-broad-en, (er) brach, (er)brich-t,
Bruch, also mit sämtlichen fünf Vokalen erscheint. Einiges Nachdenken er¬
fordert schon die Erkenntnis, daß nach demselben Gesetz matt und müd-e,
Blatt und Blut-e, tat-t und kühl, Tor und Tür, Hahn und Huhn
jedesmal Variationen ein und derselben Wurzel sind, und zugleich stellen wir
fest, wie die formelle Differenzierung hinterher in den Dienst einer innern
treten kann, wie also zum Beispiel die Formen Hahn und Huhn, die ursprüng¬
lich unterschiedslos beide die Art bezeichnen, hinterher von der Sprache zur
Bezeichnung des innern Gegensatzes von männlichem und weiblichem Geschlecht
verwandt werden.

Ein zweites, in seiner Tragweite bisher unbekanntes Gesetz der Wurzel¬
abwandlung, das nach seiner äußern Wirkung zunächst etwas ganz Über¬
raschendes an sich hat, ist die Metathesis oder Lautumsetznng. Wie die äußere
Verschiedenheit mancher anorganischen Körper nur auf die verschiedenartige
Lagerung der Atome zurückzuführen ist (ich erinnere nur an die Kohle und
den Diamant), so hat auch die Sprache die Vielheit ihrer Gebilde zum Teil
durch das einfache Mittel der Umlagerung der Laute hervorgebracht: die
Wurzel kann in jeder Lagerung ihrer Bestandteile erscheinen. Im Lichte dieses
Gesetzes traten mit einemmal uns allen wohlvertraute Wortgestalten in engste
Verbindung, die dem oberflächlichen Blicke weit getrennt erscheinen und doch
ihrem innersten Wesen nach zusammengehören. Von früher Jugend auf sind
wir gewohnt, die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für „Furcht",
ein-or und niht-us, oft in einem Atem zu nennen, aber jetzt erst begreifen
wir die völlige Gleichartigkeit ihres Wesens nach Bedeutung und Form, wo
wir sehen, daß der Begriff „Furcht" an die Wurzel thu wirklich gebunden ist,


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[0256] Die Schöpfung der Sprache überall durch das sekundäre hindurch zum Primärer vordringen, und das Problem der Sprachschöpfung spitzt sich zu in der einen Aufgabe: die Vielheit der Urgebilde der Sprache, der sogenannten Sprachwurzeln, zurückzuführen auf eine einfache Einheit. Wir treten also an die Sprache mit einem großen treibenden Gedanken heran, der den Schlüssel zu ihren Geheimnissen führen muß, mit einer philosophischen Idee, die den ungeheuern Sprachstoff zunächst der indogermanischen Sprachfamilie dadurch zu beherrschen sucht, daß sie das Einzelne im Ganzen und das Ganze im Einzelnen erkennt, mit jener intuitiver Anschauung eines Goethe und Spinoza, die jede Einzelerscheinung als Teil eines großen Organismus in seiner innersten Bedingtheit, in seiner Notwendig¬ keit schaut und darum überall Gesetz sieht. Treten wir mit dem innern Bedürfnis der Einheit in das unermeßliche Reich des Sprachstosfs ein, so liegt ein Gesetz, nach dem die Sprache die Viel¬ heit ihrer Formen hervorgebracht hat, sofort zutage, das ist die vokalische Ab¬ wandlung ein und derselben Wurzel, die von Haus aus jeder vokalischen Differenzierung fähig ist. Jedem, sogar dem Laien, springt diese Wahrheit ins Auge, wenn man ihn nur darauf hinweist, wie dieselbe Wurzel im neu¬ hochdeutschen zum Beispiel als dread-en, ge-broad-en, (er) brach, (er)brich-t, Bruch, also mit sämtlichen fünf Vokalen erscheint. Einiges Nachdenken er¬ fordert schon die Erkenntnis, daß nach demselben Gesetz matt und müd-e, Blatt und Blut-e, tat-t und kühl, Tor und Tür, Hahn und Huhn jedesmal Variationen ein und derselben Wurzel sind, und zugleich stellen wir fest, wie die formelle Differenzierung hinterher in den Dienst einer innern treten kann, wie also zum Beispiel die Formen Hahn und Huhn, die ursprüng¬ lich unterschiedslos beide die Art bezeichnen, hinterher von der Sprache zur Bezeichnung des innern Gegensatzes von männlichem und weiblichem Geschlecht verwandt werden. Ein zweites, in seiner Tragweite bisher unbekanntes Gesetz der Wurzel¬ abwandlung, das nach seiner äußern Wirkung zunächst etwas ganz Über¬ raschendes an sich hat, ist die Metathesis oder Lautumsetznng. Wie die äußere Verschiedenheit mancher anorganischen Körper nur auf die verschiedenartige Lagerung der Atome zurückzuführen ist (ich erinnere nur an die Kohle und den Diamant), so hat auch die Sprache die Vielheit ihrer Gebilde zum Teil durch das einfache Mittel der Umlagerung der Laute hervorgebracht: die Wurzel kann in jeder Lagerung ihrer Bestandteile erscheinen. Im Lichte dieses Gesetzes traten mit einemmal uns allen wohlvertraute Wortgestalten in engste Verbindung, die dem oberflächlichen Blicke weit getrennt erscheinen und doch ihrem innersten Wesen nach zusammengehören. Von früher Jugend auf sind wir gewohnt, die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für „Furcht", ein-or und niht-us, oft in einem Atem zu nennen, aber jetzt erst begreifen wir die völlige Gleichartigkeit ihres Wesens nach Bedeutung und Form, wo wir sehen, daß der Begriff „Furcht" an die Wurzel thu wirklich gebunden ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/256>, abgerufen am 04.07.2024.