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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Nie Schöpfung der Sprache

(Das gesperrt Gedruckte bezeichnet jedesmal den Urbestandteil des Wortes,
dem die Sprachwissenschaft die Bezeichnung "Wurzel" gegeben hat.) Dieses
Wort timor nun kann doch nicht jeden beliebigen andern Begriff bezeichnen,
sondern nur diesen einen oder einen engverwandten, wie zum Beispiel den Be¬
griff "Schrecken". Freilich, ein Blick in irgendein Wörterbuch scheint uns das
Gegenteil sagen zu wollen, da bezeichnet oft ein und dasselbe Wort scheinbar
die verschiedenartigsten, bisweilen entgegengesetzten Begriffe. Das kann nicht
sein. In Wirklichkeit, so sagt unser Verfasser, ist es dann nicht ein und das¬
selbe Wort, sondern verschiedne sind zufällig in derselben Form in ihrer Ent¬
wicklung gemundet, wie zum Beispiel das französische Verbum Icmsr zugleich
"loben" und "mieten" bedeuten kann. Der Kenner weiß, daß hier zwei im
Kern grnudverschiedne Wörter vorliegen, indem das eine aus dem lateinischen
lkluäars, das andre aus dem lateinischen lovars entsteinten ist. Es muß also
nach tiefern Gründen für die Zusammengehörigkeit von Sprachgebilden gesucht
werden, und man darf nicht, wie es die Etymologie bisher immer getan hat,
nur nach dem äußern Gleichklang Wörter verbinden wollen. Ein solches Ver¬
fahren muß zu den größten Ungereimtheiten führen.

Wir stehn damit vor dem Problem der Sprachschöpfung, das gleich¬
bedeutend ist mit der Frage nach dem innersten Wesen des Wortes. Es
müssen doch Gründe dafür vorhanden sein, weshalb das einzelne Wort gerade
den von ihm ausgedrückten Gegenstand bezeichnet, und es darf doch auch nicht
jeden beliebigen andern bezeichnen können: zwischen Lautkörper und Begriff
muß irgendwie von Anbeginn eine innere, naturnotwendige Verbindung bestehn.
Im andern Falle hörte alles Forschen auf; auf dieser Voraussetzung ruht,
bewußt oder unbewußt, die ganze vergleichende Sprachwissenschaft wie auf
einem granitnen Sockel. Dieser einfache Gedanke muß uns als Leitstern bei
der Lösung der Frage führen: Auf welche Weise sind die tausend und aber¬
tausend Wortgebilde entstanden, wie wir sie Tag für Tag in unsrer Mutter¬
sprache sprechen, wie sie uns in der griechischen und in der lateinischen Schwester¬
sprache, kurz in allen Sprachen der indogermanischen Völker entgegentreten?
Indem zwischen dem Lautkörper und der Bedeutung der zahllosen Sprach¬
gebilde ein inneres Band bestehn muß, muß diese unendliche, zunächst ver¬
wirrende Vielheit der Wortgebilde hervorgegangen sein aus einer einfachen
Einheit, ähnlich wie die mannigfaltigen Schöpfungen der übrigen Natur bei
aller Verschiedenheit eine tiefe Einheit durchzieht. Es gilt deshalb, die Einheit
in der Vielheit der Sprachgebilde überall aufzudecken, die Gesetze zu erforschen,
nach denen die Sprache den ungeheuer" Reichtum ihrer Gebilde geschaffen hat.
Diese Gesetze müssen dieselben sein, nach denen sich die Sprache weiter ent¬
wickelt hat. Da nun das Wesen eines Wortes an seine Wurzel gebunden
ist, die gleichsam seine Seele enthält, während alles andre wie Endung,
Suffix usw. nur sein äußeres Kleid ausmacht, in dem andre Wörter ebenso¬
gut erscheinen können, so ist uns unser Weg klar vorgezeichnet, indem wir


Nie Schöpfung der Sprache

(Das gesperrt Gedruckte bezeichnet jedesmal den Urbestandteil des Wortes,
dem die Sprachwissenschaft die Bezeichnung „Wurzel" gegeben hat.) Dieses
Wort timor nun kann doch nicht jeden beliebigen andern Begriff bezeichnen,
sondern nur diesen einen oder einen engverwandten, wie zum Beispiel den Be¬
griff „Schrecken". Freilich, ein Blick in irgendein Wörterbuch scheint uns das
Gegenteil sagen zu wollen, da bezeichnet oft ein und dasselbe Wort scheinbar
die verschiedenartigsten, bisweilen entgegengesetzten Begriffe. Das kann nicht
sein. In Wirklichkeit, so sagt unser Verfasser, ist es dann nicht ein und das¬
selbe Wort, sondern verschiedne sind zufällig in derselben Form in ihrer Ent¬
wicklung gemundet, wie zum Beispiel das französische Verbum Icmsr zugleich
„loben" und „mieten" bedeuten kann. Der Kenner weiß, daß hier zwei im
Kern grnudverschiedne Wörter vorliegen, indem das eine aus dem lateinischen
lkluäars, das andre aus dem lateinischen lovars entsteinten ist. Es muß also
nach tiefern Gründen für die Zusammengehörigkeit von Sprachgebilden gesucht
werden, und man darf nicht, wie es die Etymologie bisher immer getan hat,
nur nach dem äußern Gleichklang Wörter verbinden wollen. Ein solches Ver¬
fahren muß zu den größten Ungereimtheiten führen.

Wir stehn damit vor dem Problem der Sprachschöpfung, das gleich¬
bedeutend ist mit der Frage nach dem innersten Wesen des Wortes. Es
müssen doch Gründe dafür vorhanden sein, weshalb das einzelne Wort gerade
den von ihm ausgedrückten Gegenstand bezeichnet, und es darf doch auch nicht
jeden beliebigen andern bezeichnen können: zwischen Lautkörper und Begriff
muß irgendwie von Anbeginn eine innere, naturnotwendige Verbindung bestehn.
Im andern Falle hörte alles Forschen auf; auf dieser Voraussetzung ruht,
bewußt oder unbewußt, die ganze vergleichende Sprachwissenschaft wie auf
einem granitnen Sockel. Dieser einfache Gedanke muß uns als Leitstern bei
der Lösung der Frage führen: Auf welche Weise sind die tausend und aber¬
tausend Wortgebilde entstanden, wie wir sie Tag für Tag in unsrer Mutter¬
sprache sprechen, wie sie uns in der griechischen und in der lateinischen Schwester¬
sprache, kurz in allen Sprachen der indogermanischen Völker entgegentreten?
Indem zwischen dem Lautkörper und der Bedeutung der zahllosen Sprach¬
gebilde ein inneres Band bestehn muß, muß diese unendliche, zunächst ver¬
wirrende Vielheit der Wortgebilde hervorgegangen sein aus einer einfachen
Einheit, ähnlich wie die mannigfaltigen Schöpfungen der übrigen Natur bei
aller Verschiedenheit eine tiefe Einheit durchzieht. Es gilt deshalb, die Einheit
in der Vielheit der Sprachgebilde überall aufzudecken, die Gesetze zu erforschen,
nach denen die Sprache den ungeheuer» Reichtum ihrer Gebilde geschaffen hat.
Diese Gesetze müssen dieselben sein, nach denen sich die Sprache weiter ent¬
wickelt hat. Da nun das Wesen eines Wortes an seine Wurzel gebunden
ist, die gleichsam seine Seele enthält, während alles andre wie Endung,
Suffix usw. nur sein äußeres Kleid ausmacht, in dem andre Wörter ebenso¬
gut erscheinen können, so ist uns unser Weg klar vorgezeichnet, indem wir


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[0255] Nie Schöpfung der Sprache (Das gesperrt Gedruckte bezeichnet jedesmal den Urbestandteil des Wortes, dem die Sprachwissenschaft die Bezeichnung „Wurzel" gegeben hat.) Dieses Wort timor nun kann doch nicht jeden beliebigen andern Begriff bezeichnen, sondern nur diesen einen oder einen engverwandten, wie zum Beispiel den Be¬ griff „Schrecken". Freilich, ein Blick in irgendein Wörterbuch scheint uns das Gegenteil sagen zu wollen, da bezeichnet oft ein und dasselbe Wort scheinbar die verschiedenartigsten, bisweilen entgegengesetzten Begriffe. Das kann nicht sein. In Wirklichkeit, so sagt unser Verfasser, ist es dann nicht ein und das¬ selbe Wort, sondern verschiedne sind zufällig in derselben Form in ihrer Ent¬ wicklung gemundet, wie zum Beispiel das französische Verbum Icmsr zugleich „loben" und „mieten" bedeuten kann. Der Kenner weiß, daß hier zwei im Kern grnudverschiedne Wörter vorliegen, indem das eine aus dem lateinischen lkluäars, das andre aus dem lateinischen lovars entsteinten ist. Es muß also nach tiefern Gründen für die Zusammengehörigkeit von Sprachgebilden gesucht werden, und man darf nicht, wie es die Etymologie bisher immer getan hat, nur nach dem äußern Gleichklang Wörter verbinden wollen. Ein solches Ver¬ fahren muß zu den größten Ungereimtheiten führen. Wir stehn damit vor dem Problem der Sprachschöpfung, das gleich¬ bedeutend ist mit der Frage nach dem innersten Wesen des Wortes. Es müssen doch Gründe dafür vorhanden sein, weshalb das einzelne Wort gerade den von ihm ausgedrückten Gegenstand bezeichnet, und es darf doch auch nicht jeden beliebigen andern bezeichnen können: zwischen Lautkörper und Begriff muß irgendwie von Anbeginn eine innere, naturnotwendige Verbindung bestehn. Im andern Falle hörte alles Forschen auf; auf dieser Voraussetzung ruht, bewußt oder unbewußt, die ganze vergleichende Sprachwissenschaft wie auf einem granitnen Sockel. Dieser einfache Gedanke muß uns als Leitstern bei der Lösung der Frage führen: Auf welche Weise sind die tausend und aber¬ tausend Wortgebilde entstanden, wie wir sie Tag für Tag in unsrer Mutter¬ sprache sprechen, wie sie uns in der griechischen und in der lateinischen Schwester¬ sprache, kurz in allen Sprachen der indogermanischen Völker entgegentreten? Indem zwischen dem Lautkörper und der Bedeutung der zahllosen Sprach¬ gebilde ein inneres Band bestehn muß, muß diese unendliche, zunächst ver¬ wirrende Vielheit der Wortgebilde hervorgegangen sein aus einer einfachen Einheit, ähnlich wie die mannigfaltigen Schöpfungen der übrigen Natur bei aller Verschiedenheit eine tiefe Einheit durchzieht. Es gilt deshalb, die Einheit in der Vielheit der Sprachgebilde überall aufzudecken, die Gesetze zu erforschen, nach denen die Sprache den ungeheuer» Reichtum ihrer Gebilde geschaffen hat. Diese Gesetze müssen dieselben sein, nach denen sich die Sprache weiter ent¬ wickelt hat. Da nun das Wesen eines Wortes an seine Wurzel gebunden ist, die gleichsam seine Seele enthält, während alles andre wie Endung, Suffix usw. nur sein äußeres Kleid ausmacht, in dem andre Wörter ebenso¬ gut erscheinen können, so ist uns unser Weg klar vorgezeichnet, indem wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/255>, abgerufen am 02.07.2024.