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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

Ehre machen würde. So wunderbar stecken vorzügliche Menschen in allen Winkeln
der Erde. niedergedrückt vom entsetzlichsten Elend behauptet der Menschengeist
doch immer wieder einmal seine Rechte." Das alte Ziegeltor, an dem jene
Begegnung zwischen dem vom Schicksal in jeder Weise überschwenglich be¬
günstigten Dichter und dem von ihm niedergebeugten "Naturdichter" stattfand,
steht, wenn auch seitab vom Verkehr, noch heute; bei einem Großneffen Fürn-
steins, Herrn Kaufmann Josef Fürnstein, sah ich das von dem Beklagenswerten
benutzte winzig kleine Stühlchen, das aus dem Brande von Fürnsteins Haus
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gerettet worden ist.

Goethe nahm damals seinen Rückweg von Schloß Hardenberg nach Eger
über Gossengrün, wo er sich an dem Aufblühen eines erst unlängst durch den
Grafen Auersperg eingeführten neuen Erwerbszweiges erfreute, der Anfertigung
Brüsseler Spitzen, die heute dort in schönster Blüte steht. Maria-Kulm, der
berühmte Wallfahrtsort, blieb links vom Wege, und nach vierstündiger Fahrt
durch das anmutige Hügelland rollte der Wagen wieder über den Egercr
Marktplatz in die Torfahrt der "Goldner Sonne" ein.

"NL. Gleich nach der Ankunft Abschrift der neusten Strophen", lesen wir
im Tagebuch über die Fortführung der "Marienbader Elegie", an deren Schluß
es heißt:

Allein am Fels, in Moor und Moos -- es ist, als flüchte sich der Dichter,
ergriffen von einer Vorahnung, daß er das geliebte, durch die letzten Herzens¬
erlebnisse doppelt teure Egerlcmd nicht wieder sehen sollte, noch einmal hinaus,
um in der Einsamkeit Abschied zu nehmen. Der Kammerbühl, dessen geheimnis¬
volle Entstehung ihn seit dem Jahre 1808 immer aufs neue beschäftigt hatte,
wäre der rechte Ort gewesen zu solchem Abschied. Einsam erhebt er sich aus
der Niederung, einen unvergleichlichen Rundblick gewährend: weithin gegen Abend
und Mitternacht breiten sich die Moore, die feuchten Wiesen und die Teiche von
Franzensbad, dahinter in schönem Bogen die Waldberge des Fichtel- und des
Erzgebirges, gegen Morgen mannigfache Hügel stromabwärts das gesegnete
Egerland hinab, mehr südwärts sodann die Höhen des Kaiserwaldes bis hinüber
nach Königswart und zu den waldigen Kuppen, hinter denen das geliebte
Marienbad im Frieden seiner Fichtenwälder ruht.

Was Goethe den getreuen Weggenossen zuruft:

das hatte er hier seit Jahren selbst geübt. Von diesem Hügel aus hatte sein
Auge, rückschauend in die grauen Tage der Vorzeit, das böhmische Binnenmeer
erblickt, wie es, bis an den Granit des Fichtelgebirges brandend, das Land


Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

Ehre machen würde. So wunderbar stecken vorzügliche Menschen in allen Winkeln
der Erde. niedergedrückt vom entsetzlichsten Elend behauptet der Menschengeist
doch immer wieder einmal seine Rechte." Das alte Ziegeltor, an dem jene
Begegnung zwischen dem vom Schicksal in jeder Weise überschwenglich be¬
günstigten Dichter und dem von ihm niedergebeugten „Naturdichter" stattfand,
steht, wenn auch seitab vom Verkehr, noch heute; bei einem Großneffen Fürn-
steins, Herrn Kaufmann Josef Fürnstein, sah ich das von dem Beklagenswerten
benutzte winzig kleine Stühlchen, das aus dem Brande von Fürnsteins Haus
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gerettet worden ist.

Goethe nahm damals seinen Rückweg von Schloß Hardenberg nach Eger
über Gossengrün, wo er sich an dem Aufblühen eines erst unlängst durch den
Grafen Auersperg eingeführten neuen Erwerbszweiges erfreute, der Anfertigung
Brüsseler Spitzen, die heute dort in schönster Blüte steht. Maria-Kulm, der
berühmte Wallfahrtsort, blieb links vom Wege, und nach vierstündiger Fahrt
durch das anmutige Hügelland rollte der Wagen wieder über den Egercr
Marktplatz in die Torfahrt der „Goldner Sonne" ein.

„NL. Gleich nach der Ankunft Abschrift der neusten Strophen", lesen wir
im Tagebuch über die Fortführung der „Marienbader Elegie", an deren Schluß
es heißt:

Allein am Fels, in Moor und Moos — es ist, als flüchte sich der Dichter,
ergriffen von einer Vorahnung, daß er das geliebte, durch die letzten Herzens¬
erlebnisse doppelt teure Egerlcmd nicht wieder sehen sollte, noch einmal hinaus,
um in der Einsamkeit Abschied zu nehmen. Der Kammerbühl, dessen geheimnis¬
volle Entstehung ihn seit dem Jahre 1808 immer aufs neue beschäftigt hatte,
wäre der rechte Ort gewesen zu solchem Abschied. Einsam erhebt er sich aus
der Niederung, einen unvergleichlichen Rundblick gewährend: weithin gegen Abend
und Mitternacht breiten sich die Moore, die feuchten Wiesen und die Teiche von
Franzensbad, dahinter in schönem Bogen die Waldberge des Fichtel- und des
Erzgebirges, gegen Morgen mannigfache Hügel stromabwärts das gesegnete
Egerland hinab, mehr südwärts sodann die Höhen des Kaiserwaldes bis hinüber
nach Königswart und zu den waldigen Kuppen, hinter denen das geliebte
Marienbad im Frieden seiner Fichtenwälder ruht.

Was Goethe den getreuen Weggenossen zuruft:

das hatte er hier seit Jahren selbst geübt. Von diesem Hügel aus hatte sein
Auge, rückschauend in die grauen Tage der Vorzeit, das böhmische Binnenmeer
erblickt, wie es, bis an den Granit des Fichtelgebirges brandend, das Land


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[0149] Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen Ehre machen würde. So wunderbar stecken vorzügliche Menschen in allen Winkeln der Erde. niedergedrückt vom entsetzlichsten Elend behauptet der Menschengeist doch immer wieder einmal seine Rechte." Das alte Ziegeltor, an dem jene Begegnung zwischen dem vom Schicksal in jeder Weise überschwenglich be¬ günstigten Dichter und dem von ihm niedergebeugten „Naturdichter" stattfand, steht, wenn auch seitab vom Verkehr, noch heute; bei einem Großneffen Fürn- steins, Herrn Kaufmann Josef Fürnstein, sah ich das von dem Beklagenswerten benutzte winzig kleine Stühlchen, das aus dem Brande von Fürnsteins Haus in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gerettet worden ist. Goethe nahm damals seinen Rückweg von Schloß Hardenberg nach Eger über Gossengrün, wo er sich an dem Aufblühen eines erst unlängst durch den Grafen Auersperg eingeführten neuen Erwerbszweiges erfreute, der Anfertigung Brüsseler Spitzen, die heute dort in schönster Blüte steht. Maria-Kulm, der berühmte Wallfahrtsort, blieb links vom Wege, und nach vierstündiger Fahrt durch das anmutige Hügelland rollte der Wagen wieder über den Egercr Marktplatz in die Torfahrt der „Goldner Sonne" ein. „NL. Gleich nach der Ankunft Abschrift der neusten Strophen", lesen wir im Tagebuch über die Fortführung der „Marienbader Elegie", an deren Schluß es heißt: Allein am Fels, in Moor und Moos — es ist, als flüchte sich der Dichter, ergriffen von einer Vorahnung, daß er das geliebte, durch die letzten Herzens¬ erlebnisse doppelt teure Egerlcmd nicht wieder sehen sollte, noch einmal hinaus, um in der Einsamkeit Abschied zu nehmen. Der Kammerbühl, dessen geheimnis¬ volle Entstehung ihn seit dem Jahre 1808 immer aufs neue beschäftigt hatte, wäre der rechte Ort gewesen zu solchem Abschied. Einsam erhebt er sich aus der Niederung, einen unvergleichlichen Rundblick gewährend: weithin gegen Abend und Mitternacht breiten sich die Moore, die feuchten Wiesen und die Teiche von Franzensbad, dahinter in schönem Bogen die Waldberge des Fichtel- und des Erzgebirges, gegen Morgen mannigfache Hügel stromabwärts das gesegnete Egerland hinab, mehr südwärts sodann die Höhen des Kaiserwaldes bis hinüber nach Königswart und zu den waldigen Kuppen, hinter denen das geliebte Marienbad im Frieden seiner Fichtenwälder ruht. Was Goethe den getreuen Weggenossen zuruft: das hatte er hier seit Jahren selbst geübt. Von diesem Hügel aus hatte sein Auge, rückschauend in die grauen Tage der Vorzeit, das böhmische Binnenmeer erblickt, wie es, bis an den Granit des Fichtelgebirges brandend, das Land

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/149>, abgerufen am 04.07.2024.