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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

Sonntag", den er zweimal, 1821 und 1822, miterlebte. Dieses Fest, ursprüng¬
lich aus einer Dankfeier für überstandne Kriegsnöte hervorgegangen, wird all¬
jährlich am letzten Sonntag im August begangen, es vereinigt heute zwei Feiern
in sich: eine geistliche zu Ehren des Schutzpatrons Se. Vincentius, und eine
weltliche, das Erntedankfest. Schon im Stifte Tepl hatte mir der ehrwürdige,
aus Eger gebürtige Herr Prior auf meine Frage berichtet, das Fest werde auch
heutigentags noch kirchlich gefeiert; und so fand ich mich am 26. August, dem
heurigen "Vinzenzi-Sonntag", schon in aller Frühe auf dem Marktplatz ein.
Goethes Tagebuch von 1821 enthält unter demselben Tage folgende Notizen:

"Se. Vincenztag, großes Fest in Eger.

Früh aufgestanden. Den Entschluß der Einladung nach Hardenberg ^zum
Grafen Auersperg^ zu folgen dem Policeirath Grüner erklärt; mit demselben
auf den Ring und in die Hauptkirche fErzdecanalkirche Se. Niklas > gegangen;
die Stadt sehr lebhaft, die Processionen von neun Pfarreien mit ihren unter¬
geordneten Ortschaften zogen von 7 Uhr an einzeln in die Stadt, in die Haupt¬
kirche, von wo aus um 10 Uhr die große Procession ausging.

In langen Reihen, erst die Schulmädchen, dann die Schulknaben, ferner
die Gymnasiasten, darauf die Handwerker mit ihren Fahnen, die Schützen¬
compagnie, die Geistlichkeit, auch Mönche, zuletzt der Dechant, welcher den mit
Perlen und Edelsteinen eingehüllten Schädel des heiligen Vincenz trug, sodann
der Rath und Honoratioren. Zuletzt ein Schwall von Männern, alle Dorf¬
schaften waren zusammengeschmolzen, sowie zuletzt auch ein gleicher Strom von
Weibern, den Kopf meistentheils mit einer seltsam geknüpften Serviette aus¬
geputzt. Dieses allgemeine Volks- und Stadtfest war vom schönsten Sonnen¬
schein begünstigt. Drohende Cumulus zogen zwar vorüber.

Vor allem wäre zu sagen gewesen, daß Eger einen der schönsten Markt¬
platze hat, der Ring genannt, zwar ansteigend, aber durchaus mit schönen Ge¬
bäuden umgeben. An der einen Seite dieses Platzes zog die Procession herauf,
verlor sich in anstoßende Straßen, kam aber unten wieder hervor, um den
ganzen Raum zu umgehen, welches sich sehr gut ausnahm.

Nachdem alle auseinander gegangen, blieb die Menge noch truppweis
stehen, versammelte sich aber besonders um die Wagen voll Birnen, welche von
Bareuth ^VayreuthZ und aus dem Saatzer Kreis her, zu diesem Feste gekommen
waren. Ich habe nicht leicht so lustig einbeißen sehn, die kaum gekauften Birn
wurden auf der Stelle verzehrt."

Alles verlief auch diesesmal im wesentlichen, wie Goethe es hier schildert.
Nur fehlte in der Prozession die gesamte männliche Jugend der weltlichen
Schulen. Im übrigen wäre etwa noch zu bemerken, daß der Schädel des heiligen
Vincentius nicht, wie zu Goethes Zeit, vom Erzdechanten selbst, sondern, un¬
mittelbar vor diesem her, von vier Geistlichen getragen wurde, und zwar auf
einer auf ihren Schultern ruhenden, prächtig geschmückten Bahre. Die in einem
silbernen Behältnis verborgne, unter einem Glasgehäuse ruhende Reliquie ist


Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

Sonntag", den er zweimal, 1821 und 1822, miterlebte. Dieses Fest, ursprüng¬
lich aus einer Dankfeier für überstandne Kriegsnöte hervorgegangen, wird all¬
jährlich am letzten Sonntag im August begangen, es vereinigt heute zwei Feiern
in sich: eine geistliche zu Ehren des Schutzpatrons Se. Vincentius, und eine
weltliche, das Erntedankfest. Schon im Stifte Tepl hatte mir der ehrwürdige,
aus Eger gebürtige Herr Prior auf meine Frage berichtet, das Fest werde auch
heutigentags noch kirchlich gefeiert; und so fand ich mich am 26. August, dem
heurigen „Vinzenzi-Sonntag", schon in aller Frühe auf dem Marktplatz ein.
Goethes Tagebuch von 1821 enthält unter demselben Tage folgende Notizen:

„Se. Vincenztag, großes Fest in Eger.

Früh aufgestanden. Den Entschluß der Einladung nach Hardenberg ^zum
Grafen Auersperg^ zu folgen dem Policeirath Grüner erklärt; mit demselben
auf den Ring und in die Hauptkirche fErzdecanalkirche Se. Niklas > gegangen;
die Stadt sehr lebhaft, die Processionen von neun Pfarreien mit ihren unter¬
geordneten Ortschaften zogen von 7 Uhr an einzeln in die Stadt, in die Haupt¬
kirche, von wo aus um 10 Uhr die große Procession ausging.

In langen Reihen, erst die Schulmädchen, dann die Schulknaben, ferner
die Gymnasiasten, darauf die Handwerker mit ihren Fahnen, die Schützen¬
compagnie, die Geistlichkeit, auch Mönche, zuletzt der Dechant, welcher den mit
Perlen und Edelsteinen eingehüllten Schädel des heiligen Vincenz trug, sodann
der Rath und Honoratioren. Zuletzt ein Schwall von Männern, alle Dorf¬
schaften waren zusammengeschmolzen, sowie zuletzt auch ein gleicher Strom von
Weibern, den Kopf meistentheils mit einer seltsam geknüpften Serviette aus¬
geputzt. Dieses allgemeine Volks- und Stadtfest war vom schönsten Sonnen¬
schein begünstigt. Drohende Cumulus zogen zwar vorüber.

Vor allem wäre zu sagen gewesen, daß Eger einen der schönsten Markt¬
platze hat, der Ring genannt, zwar ansteigend, aber durchaus mit schönen Ge¬
bäuden umgeben. An der einen Seite dieses Platzes zog die Procession herauf,
verlor sich in anstoßende Straßen, kam aber unten wieder hervor, um den
ganzen Raum zu umgehen, welches sich sehr gut ausnahm.

Nachdem alle auseinander gegangen, blieb die Menge noch truppweis
stehen, versammelte sich aber besonders um die Wagen voll Birnen, welche von
Bareuth ^VayreuthZ und aus dem Saatzer Kreis her, zu diesem Feste gekommen
waren. Ich habe nicht leicht so lustig einbeißen sehn, die kaum gekauften Birn
wurden auf der Stelle verzehrt."

Alles verlief auch diesesmal im wesentlichen, wie Goethe es hier schildert.
Nur fehlte in der Prozession die gesamte männliche Jugend der weltlichen
Schulen. Im übrigen wäre etwa noch zu bemerken, daß der Schädel des heiligen
Vincentius nicht, wie zu Goethes Zeit, vom Erzdechanten selbst, sondern, un¬
mittelbar vor diesem her, von vier Geistlichen getragen wurde, und zwar auf
einer auf ihren Schultern ruhenden, prächtig geschmückten Bahre. Die in einem
silbernen Behältnis verborgne, unter einem Glasgehäuse ruhende Reliquie ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/143>, abgerufen am 02.07.2024.