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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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1830, 31, 61, 63 schuldig seien, sondern die Russen, das heißt die reaktionäre
russische Gesellschaft. Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Besonders
lehrreich zur Entscheidung dieser Frage sind der Briefwechsel zwischen dem Statt¬
halter in Polen, Konstantin Pawlowitsch, und dem Zaren Nikolaus den. Ersten/)
die Zusammensetzung und die Tätigkeit der Untersuchungskommission zur Fest¬
stellung der Geheimgesellschaften °''°) und das schon erwähnte Urteil des Vize¬
königs über seine Landsleute. Es hat den Zaren und seine Regierung schwere,
innere Kämpfe gekostet, ehe sie sich entschlossen, gegen die in Rußland lebenden,
des Landesverrats überführten Polen vorzugehn. Er mußte sich aber seiner
Haut wehren. Nikolaus erkannte die Lage durchaus richtig, indem er an seinen
Bruder schrieb: Hui ass clsux äoit x6rir, og,r it xarM aus x6rir 1l taut, gst-o<z
ig. Russie- on ig, ?oloMS . . .

Der Ausbruch des Aufstandes von 1830 bestätigte seine Auffassung.

Erst nach diesem Aufstande wurde die polnische Konstitution von 1815
aufgehoben, erst nachdem die Polen sich als erbitterte und unversöhnliche Feinde
des Russentums offenbart hatten; als sie durch den Aufstand ihre wahren Ab¬
sichten, nämlich über Rußland herrschen zu wollen, zeigten, da entzog ihnen
Nikolaus die Mittel, mit denen sie Rußland bekämpften. Der Zar handelte
unbedingt in der Notwehr. Polen erhielt im Jahre 1832 das sogenannte "orga¬
nische Statut" (26. Februar) und wurde durch einen Statthalter - Paskewitsch --
regiert.

Der Ausspruch Nikolaus des Ersten charakterisiert vollständig die Richtung
seiner Polenpolitik. Ein näheres Eingehn auf die Verwaltungstätigkeit des
Generalgouverneurs Paskewitsch ist deshalb überflüssig. Die für Rußland einzig
mögliche Konsequenz aus seinen Gedanken über die russisch-polnischen Beziehungen
hat Nikolaus jedoch nicht gezogen. Er hat die Russen geistig nicht gehoben,
um sie dadurch geeigneter zum Kampf für ihre Nationalität zu machen. Jeden
Wunsch nach Kultur und politischen Freiheiten hat er unterdrückt. Die ge¬
bildeten Kreise in Nußland fühlten sich deshalb durch das Walten der Regierung
in ihrer weit gefaßten Auffassung der Menschenrechte ebenso beleidigt wie die
Polen in ihrem engen Nationalbewußtsein. Darum erstarkten in der Regierungs¬
zeit Nikolaus des Ersten jene ersten Keime russisch-polnischer Interessengemein¬
schaft, die von den Dekabristen in Südrußland gepflanzt worden waren. Die
Politische Bewegung der fünfziger und der sechziger Jahre brauste über Nu߬
land und Polen hin. Sie hatte neben liberalen Formen im Innern des Reichs
auch die Wiedereinrichtung des autonomen Staatsrath in Polen zur Folge.
Aus dieser Zeit ist für uns von Wert, festzustellen, daß Alexander der Zweite




*) Schilder, Nikolaus der Erste, Bd. I, S. 373/83 und Anm. 433 ff.
*") Ebenda, S. 378. Das Untersuchungskomitee bestand aus fünf polnischen und fünf
russischen Mitgliedern und einem polnischen Präsidenten (Gras Stanislaw Samojski). Trotz der
Aussagen Pestels und Wolkonskis (s. o.) und den Geständnissen des Präsidenten der Geheim¬
gesellschaften, Jablonowski, ergaben die Untersuchungen kein Resultat!

1830, 31, 61, 63 schuldig seien, sondern die Russen, das heißt die reaktionäre
russische Gesellschaft. Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Besonders
lehrreich zur Entscheidung dieser Frage sind der Briefwechsel zwischen dem Statt¬
halter in Polen, Konstantin Pawlowitsch, und dem Zaren Nikolaus den. Ersten/)
die Zusammensetzung und die Tätigkeit der Untersuchungskommission zur Fest¬
stellung der Geheimgesellschaften °''°) und das schon erwähnte Urteil des Vize¬
königs über seine Landsleute. Es hat den Zaren und seine Regierung schwere,
innere Kämpfe gekostet, ehe sie sich entschlossen, gegen die in Rußland lebenden,
des Landesverrats überführten Polen vorzugehn. Er mußte sich aber seiner
Haut wehren. Nikolaus erkannte die Lage durchaus richtig, indem er an seinen
Bruder schrieb: Hui ass clsux äoit x6rir, og,r it xarM aus x6rir 1l taut, gst-o<z
ig. Russie- on ig, ?oloMS . . .

Der Ausbruch des Aufstandes von 1830 bestätigte seine Auffassung.

Erst nach diesem Aufstande wurde die polnische Konstitution von 1815
aufgehoben, erst nachdem die Polen sich als erbitterte und unversöhnliche Feinde
des Russentums offenbart hatten; als sie durch den Aufstand ihre wahren Ab¬
sichten, nämlich über Rußland herrschen zu wollen, zeigten, da entzog ihnen
Nikolaus die Mittel, mit denen sie Rußland bekämpften. Der Zar handelte
unbedingt in der Notwehr. Polen erhielt im Jahre 1832 das sogenannte „orga¬
nische Statut" (26. Februar) und wurde durch einen Statthalter - Paskewitsch —
regiert.

Der Ausspruch Nikolaus des Ersten charakterisiert vollständig die Richtung
seiner Polenpolitik. Ein näheres Eingehn auf die Verwaltungstätigkeit des
Generalgouverneurs Paskewitsch ist deshalb überflüssig. Die für Rußland einzig
mögliche Konsequenz aus seinen Gedanken über die russisch-polnischen Beziehungen
hat Nikolaus jedoch nicht gezogen. Er hat die Russen geistig nicht gehoben,
um sie dadurch geeigneter zum Kampf für ihre Nationalität zu machen. Jeden
Wunsch nach Kultur und politischen Freiheiten hat er unterdrückt. Die ge¬
bildeten Kreise in Nußland fühlten sich deshalb durch das Walten der Regierung
in ihrer weit gefaßten Auffassung der Menschenrechte ebenso beleidigt wie die
Polen in ihrem engen Nationalbewußtsein. Darum erstarkten in der Regierungs¬
zeit Nikolaus des Ersten jene ersten Keime russisch-polnischer Interessengemein¬
schaft, die von den Dekabristen in Südrußland gepflanzt worden waren. Die
Politische Bewegung der fünfziger und der sechziger Jahre brauste über Nu߬
land und Polen hin. Sie hatte neben liberalen Formen im Innern des Reichs
auch die Wiedereinrichtung des autonomen Staatsrath in Polen zur Folge.
Aus dieser Zeit ist für uns von Wert, festzustellen, daß Alexander der Zweite




*) Schilder, Nikolaus der Erste, Bd. I, S. 373/83 und Anm. 433 ff.
*») Ebenda, S. 378. Das Untersuchungskomitee bestand aus fünf polnischen und fünf
russischen Mitgliedern und einem polnischen Präsidenten (Gras Stanislaw Samojski). Trotz der
Aussagen Pestels und Wolkonskis (s. o.) und den Geständnissen des Präsidenten der Geheim¬
gesellschaften, Jablonowski, ergaben die Untersuchungen kein Resultat!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/139>, abgerufen am 02.07.2024.