Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Briefe

die panslawistischm Ideen des Grafen Alexander Wjelcpolski*) zum Ausgangs¬
punkt einer russisch-polnischen Verständigung annahm und mit Hilfe seines Bruders
Konstantin Nikolajewitsch zur Durchführung zu bringen suchte. Das Verhalten
der unversöhnlichen Allpolen unter der Führung des Grafen Samojski ließ alle
Bemühungen scheitern und führte zu den Aufständen von 1861 bis 1863.

Aber auch in Rußland hatte das nationale Bewußtsein die ersten konser¬
vativen Schößlinge getrieben. Hegels Philosophie hatte einen Katkvw erzogen.
Sein flammendes Wort erinnerte die Moskowiter daran, daß die Polen 1812
in das heilige Moskau eingezogen waren, und rief ihnen Nikolaus des Ersten
Wort ins Gedächtnis. Die Liberalen unterlagen vor den Nationalisten, und
Alexander der Zweite mußte uuter dem Druck der öffentlichen Meinung seine
Polenpolitik nach Grundsätzen richten, die hauptsächlich Rußlands Wohl im
Auge hatten. Die Verwaltung Polens wurde einem russischen Generalgouvemeur
unterstellt und der in den russische" Gouvernements angepaßt. Alexander der
Dritte und Nikolaus der Zweite regierten bis 1904 nach den bewährten Prin¬
zipien weiter. Welches Prinzip seitdem in der Frage herrscht, wissen wir nicht.
Tatsache aber ist, daß sich die Ideen Wjelepolskis in deu höchsten Kreisen
wieder Eingang verschafft haben.

Wenn wir heute dennoch vor einer gegen Rußland verbündeten polnischen
und russischen Gesellschaft stehn, so ist daran hauptsächlich die russische Negierung
schuld, die ebenso wie Nikolaus der Erste es tat, alle Russen durch einen Tolstoj
und Pobjedonostzew grausamem Gewissenszwang unterwarf. Sie hat dadurch
die vor fünfzig Jahren aufkeimenden Interessen zu einem starken Bande heran¬
wachsen lassen.





") Iiottres et'rin MnWioinmo polousi" an l'rinvo <to Uvtwrruob 1346, S. 315/87,
siehe Tatischtschew, Alexander der Zweite, Bd. I, S. 430. Wjelepolksi tritt darin für eine Aus¬
söhnung der Polen mit Rußland auf allslawischer Grundlage ein. Die Bedingungen, unter
denen Wjelcpolski die Stellung des höchsten Verwaltungsbeamten in Polen annehmen wollte,
gibt Tatischtschew wie folgt an ". . . Loskauf (vkvlim"viiovvimijs) aller Bauern im Zartum
nach einem von Wjelcpolski ausgearbeiteten Projekt und unter seiner Leitung, Wieder-
cinrichtung der Warschauer Universität, Einrichtung eines vom Rcichsrat unabhängigen höchsten
Kassationshofes, Unterstellung der öffentlichen Arbeiten im Zartum einer eignen von der russischen
Zentrale unabhängigen Behörde, Aufhebung des Instituts der Adclsmarschälle, Entziehung der
politischen Vergehen der Kompetenz der Kriegsgerichte, Führung des offiziellen Schriftverkehrs
ausschließlich in polnischer Sprache und mit den russischen Behörden in französischer, Einrichtung
eines Senats aus lebenslänglichen Mitgliedern als höchste gesetzgebende Instanz sowie gewählter
Provinzialräte und eines Stadtrates für Warschau..."
Russische Briefe

die panslawistischm Ideen des Grafen Alexander Wjelcpolski*) zum Ausgangs¬
punkt einer russisch-polnischen Verständigung annahm und mit Hilfe seines Bruders
Konstantin Nikolajewitsch zur Durchführung zu bringen suchte. Das Verhalten
der unversöhnlichen Allpolen unter der Führung des Grafen Samojski ließ alle
Bemühungen scheitern und führte zu den Aufständen von 1861 bis 1863.

Aber auch in Rußland hatte das nationale Bewußtsein die ersten konser¬
vativen Schößlinge getrieben. Hegels Philosophie hatte einen Katkvw erzogen.
Sein flammendes Wort erinnerte die Moskowiter daran, daß die Polen 1812
in das heilige Moskau eingezogen waren, und rief ihnen Nikolaus des Ersten
Wort ins Gedächtnis. Die Liberalen unterlagen vor den Nationalisten, und
Alexander der Zweite mußte uuter dem Druck der öffentlichen Meinung seine
Polenpolitik nach Grundsätzen richten, die hauptsächlich Rußlands Wohl im
Auge hatten. Die Verwaltung Polens wurde einem russischen Generalgouvemeur
unterstellt und der in den russische» Gouvernements angepaßt. Alexander der
Dritte und Nikolaus der Zweite regierten bis 1904 nach den bewährten Prin¬
zipien weiter. Welches Prinzip seitdem in der Frage herrscht, wissen wir nicht.
Tatsache aber ist, daß sich die Ideen Wjelepolskis in deu höchsten Kreisen
wieder Eingang verschafft haben.

Wenn wir heute dennoch vor einer gegen Rußland verbündeten polnischen
und russischen Gesellschaft stehn, so ist daran hauptsächlich die russische Negierung
schuld, die ebenso wie Nikolaus der Erste es tat, alle Russen durch einen Tolstoj
und Pobjedonostzew grausamem Gewissenszwang unterwarf. Sie hat dadurch
die vor fünfzig Jahren aufkeimenden Interessen zu einem starken Bande heran¬
wachsen lassen.





") Iiottres et'rin MnWioinmo polousi« an l'rinvo <to Uvtwrruob 1346, S. 315/87,
siehe Tatischtschew, Alexander der Zweite, Bd. I, S. 430. Wjelepolksi tritt darin für eine Aus¬
söhnung der Polen mit Rußland auf allslawischer Grundlage ein. Die Bedingungen, unter
denen Wjelcpolski die Stellung des höchsten Verwaltungsbeamten in Polen annehmen wollte,
gibt Tatischtschew wie folgt an „. . . Loskauf (vkvlim»viiovvimijs) aller Bauern im Zartum
nach einem von Wjelcpolski ausgearbeiteten Projekt und unter seiner Leitung, Wieder-
cinrichtung der Warschauer Universität, Einrichtung eines vom Rcichsrat unabhängigen höchsten
Kassationshofes, Unterstellung der öffentlichen Arbeiten im Zartum einer eignen von der russischen
Zentrale unabhängigen Behörde, Aufhebung des Instituts der Adclsmarschälle, Entziehung der
politischen Vergehen der Kompetenz der Kriegsgerichte, Führung des offiziellen Schriftverkehrs
ausschließlich in polnischer Sprache und mit den russischen Behörden in französischer, Einrichtung
eines Senats aus lebenslänglichen Mitgliedern als höchste gesetzgebende Instanz sowie gewählter
Provinzialräte und eines Stadtrates für Warschau..."
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301394"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Briefe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_473" prev="#ID_472"> die panslawistischm Ideen des Grafen Alexander Wjelcpolski*) zum Ausgangs¬<lb/>
punkt einer russisch-polnischen Verständigung annahm und mit Hilfe seines Bruders<lb/>
Konstantin Nikolajewitsch zur Durchführung zu bringen suchte. Das Verhalten<lb/>
der unversöhnlichen Allpolen unter der Führung des Grafen Samojski ließ alle<lb/>
Bemühungen scheitern und führte zu den Aufständen von 1861 bis 1863.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_474"> Aber auch in Rußland hatte das nationale Bewußtsein die ersten konser¬<lb/>
vativen Schößlinge getrieben. Hegels Philosophie hatte einen Katkvw erzogen.<lb/>
Sein flammendes Wort erinnerte die Moskowiter daran, daß die Polen 1812<lb/>
in das heilige Moskau eingezogen waren, und rief ihnen Nikolaus des Ersten<lb/>
Wort ins Gedächtnis. Die Liberalen unterlagen vor den Nationalisten, und<lb/>
Alexander der Zweite mußte uuter dem Druck der öffentlichen Meinung seine<lb/>
Polenpolitik nach Grundsätzen richten, die hauptsächlich Rußlands Wohl im<lb/>
Auge hatten. Die Verwaltung Polens wurde einem russischen Generalgouvemeur<lb/>
unterstellt und der in den russische» Gouvernements angepaßt. Alexander der<lb/>
Dritte und Nikolaus der Zweite regierten bis 1904 nach den bewährten Prin¬<lb/>
zipien weiter. Welches Prinzip seitdem in der Frage herrscht, wissen wir nicht.<lb/>
Tatsache aber ist, daß sich die Ideen Wjelepolskis in deu höchsten Kreisen<lb/>
wieder Eingang verschafft haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_475"> Wenn wir heute dennoch vor einer gegen Rußland verbündeten polnischen<lb/>
und russischen Gesellschaft stehn, so ist daran hauptsächlich die russische Negierung<lb/>
schuld, die ebenso wie Nikolaus der Erste es tat, alle Russen durch einen Tolstoj<lb/>
und Pobjedonostzew grausamem Gewissenszwang unterwarf. Sie hat dadurch<lb/>
die vor fünfzig Jahren aufkeimenden Interessen zu einem starken Bande heran¬<lb/>
wachsen lassen.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_24" place="foot"> ") Iiottres et'rin MnWioinmo polousi« an l'rinvo &lt;to Uvtwrruob 1346, S. 315/87,<lb/>
siehe Tatischtschew, Alexander der Zweite, Bd. I, S. 430. Wjelepolksi tritt darin für eine Aus¬<lb/>
söhnung der Polen mit Rußland auf allslawischer Grundlage ein. Die Bedingungen, unter<lb/>
denen Wjelcpolski die Stellung des höchsten Verwaltungsbeamten in Polen annehmen wollte,<lb/>
gibt Tatischtschew wie folgt an &#x201E;. . . Loskauf (vkvlim»viiovvimijs) aller Bauern im Zartum<lb/>
nach einem von Wjelcpolski ausgearbeiteten Projekt und unter seiner Leitung, Wieder-<lb/>
cinrichtung der Warschauer Universität, Einrichtung eines vom Rcichsrat unabhängigen höchsten<lb/>
Kassationshofes, Unterstellung der öffentlichen Arbeiten im Zartum einer eignen von der russischen<lb/>
Zentrale unabhängigen Behörde, Aufhebung des Instituts der Adclsmarschälle, Entziehung der<lb/>
politischen Vergehen der Kompetenz der Kriegsgerichte, Führung des offiziellen Schriftverkehrs<lb/>
ausschließlich in polnischer Sprache und mit den russischen Behörden in französischer, Einrichtung<lb/>
eines Senats aus lebenslänglichen Mitgliedern als höchste gesetzgebende Instanz sowie gewählter<lb/>
Provinzialräte und eines Stadtrates für Warschau..."</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0140] Russische Briefe die panslawistischm Ideen des Grafen Alexander Wjelcpolski*) zum Ausgangs¬ punkt einer russisch-polnischen Verständigung annahm und mit Hilfe seines Bruders Konstantin Nikolajewitsch zur Durchführung zu bringen suchte. Das Verhalten der unversöhnlichen Allpolen unter der Führung des Grafen Samojski ließ alle Bemühungen scheitern und führte zu den Aufständen von 1861 bis 1863. Aber auch in Rußland hatte das nationale Bewußtsein die ersten konser¬ vativen Schößlinge getrieben. Hegels Philosophie hatte einen Katkvw erzogen. Sein flammendes Wort erinnerte die Moskowiter daran, daß die Polen 1812 in das heilige Moskau eingezogen waren, und rief ihnen Nikolaus des Ersten Wort ins Gedächtnis. Die Liberalen unterlagen vor den Nationalisten, und Alexander der Zweite mußte uuter dem Druck der öffentlichen Meinung seine Polenpolitik nach Grundsätzen richten, die hauptsächlich Rußlands Wohl im Auge hatten. Die Verwaltung Polens wurde einem russischen Generalgouvemeur unterstellt und der in den russische» Gouvernements angepaßt. Alexander der Dritte und Nikolaus der Zweite regierten bis 1904 nach den bewährten Prin¬ zipien weiter. Welches Prinzip seitdem in der Frage herrscht, wissen wir nicht. Tatsache aber ist, daß sich die Ideen Wjelepolskis in deu höchsten Kreisen wieder Eingang verschafft haben. Wenn wir heute dennoch vor einer gegen Rußland verbündeten polnischen und russischen Gesellschaft stehn, so ist daran hauptsächlich die russische Negierung schuld, die ebenso wie Nikolaus der Erste es tat, alle Russen durch einen Tolstoj und Pobjedonostzew grausamem Gewissenszwang unterwarf. Sie hat dadurch die vor fünfzig Jahren aufkeimenden Interessen zu einem starken Bande heran¬ wachsen lassen. ") Iiottres et'rin MnWioinmo polousi« an l'rinvo <to Uvtwrruob 1346, S. 315/87, siehe Tatischtschew, Alexander der Zweite, Bd. I, S. 430. Wjelepolksi tritt darin für eine Aus¬ söhnung der Polen mit Rußland auf allslawischer Grundlage ein. Die Bedingungen, unter denen Wjelcpolski die Stellung des höchsten Verwaltungsbeamten in Polen annehmen wollte, gibt Tatischtschew wie folgt an „. . . Loskauf (vkvlim»viiovvimijs) aller Bauern im Zartum nach einem von Wjelcpolski ausgearbeiteten Projekt und unter seiner Leitung, Wieder- cinrichtung der Warschauer Universität, Einrichtung eines vom Rcichsrat unabhängigen höchsten Kassationshofes, Unterstellung der öffentlichen Arbeiten im Zartum einer eignen von der russischen Zentrale unabhängigen Behörde, Aufhebung des Instituts der Adclsmarschälle, Entziehung der politischen Vergehen der Kompetenz der Kriegsgerichte, Führung des offiziellen Schriftverkehrs ausschließlich in polnischer Sprache und mit den russischen Behörden in französischer, Einrichtung eines Senats aus lebenslänglichen Mitgliedern als höchste gesetzgebende Instanz sowie gewählter Provinzialräte und eines Stadtrates für Warschau..."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/140
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/140>, abgerufen am 30.06.2024.