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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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ZVundts Geschichte der musischen Künste

diese gewaltige Umwandlung, die das Epos in den mythologischen Vorstellungen
hervorgebracht hat, keine völlige Neuschöpfung ist, sondern daß überall die
Quellen der höhern schon in der niedern Mythologie fließen, ganz so wie das
Epos selbst aus der poetischen Form dieser niedern Mythologie, aus der Märchen¬
dichtung, hervorgewachsen ist."

Wie das Lied, so ist der mit ihm verbundne Tanz zunächst individuelle
Affektäußerung, wird aber dann im Gemeinschaftsleben zu einer Angelegenheit
der Gemeinschaft erhoben, diszipliniert und verschiednen Zwecken dienstbar ge¬
macht, besonders dem Kultus. Psychologisch sind die ekstatischen Tänze von
den mimischen zu unterscheiden. Da die Ekstase ein hochgesteigerter Affekt ist,
so sind die ekstatischen Tänze gewöhnlich Einzeltünze. Auch der Gesellschafts¬
tanz pflegt bei höchster Steigerung der Ekstase in Einzeltanz überzugehn, während
der mimische Tanz in der Regel ein gemeinsamer bleibt. Die Flagellantcn-
epidemie ist eine der sehr mannigfachen Erscheinungen, die in dieses Gebiet
gehören, und jedermann weiß, daß sich ein ekstatischer Kulttanz, der der Derwische,
bis in unsre Zeit erhalten hat. Wundt erwähnt nicht, daß sich, abgesehen von
Shakern und ähnlichen ekstatischen Sekten sowie von den Vorgängen bei religiösen
Negermeetings, in einer spanischen Kathedrale, wenn wir nicht irren zu Sevilla,
ein liturgischer Tanz erhalten hat, der in der Karwoche von kostümierter Knaben
sehr anmutig und würdevoll, ohne ekstatische Verrenkungen und Sprünge, auf¬
geführt werden soll. Und wie sich denn bei allen Völkern und zu allen Zeiten
an die Kulthandlungen Lustbarkeiten anschließen, die den dem Kult geweihten
Tag in jeder Beziehung zu einem Festtage machen, so wird der Kulttanz selbst,
gleich dem Kultgesang, um so leichter zu einem Vergnügen, weil jede aus
innerm Drange hervorgehende heftige Bewegung an sich schon Genuß bereitet.
Zuletzt trennt er sich vom Kult völlig ab und wird eine rein weltliche Lustbarkeit.
Außer den religiösen Anlässen sind es Gemeinschaftsangelegenheiten wie Krieg,
Jagd und Maurerweihe, die mit Tanz begangen werden. Die Tänze gehn leicht
in gymnastische Übungen über, sodaß auch die zu Ehren eines bestatteten
Toten veranstalteten Wettkümpfe, von denen die Ilias erzählt, dahin zu rechnen
sind. Die Kulttänze sind zu einem großen Teil Zaubertänze. Das gilt besonders
von den mimischen Tänzen, mit denen die landwirtschaftlichen Verrichtungen
sowohl eingeleitet als abgeschlossen zu werden Pflegen. Entweder werden dabei
diese Verrichtungen nachgeahmt oder die für das Gedeihen der Früchte wichtigen
Himmelserscheinungen dargestellt. Ursprünglich ist die Absicht dabei keineswegs,
sich mit einem mimischen Spiel oder Schauspiel zu ergötzen, sondern man glaubt
durch solche Handlungen die Sonnenschein, Regen und Fruchtbarkeit der Erde
spendenden Dämonen günstig stimmen zu können. Man verwendet dabei auch
die Tiere, i>le der Regen aus Erdlöchern hervorlockt, wie Frösche und Schlangen,
indem man sie für die Urheber des Regens hält. So führen die Priester der
Mokiindicmer bei anhaltender Trockenheit einen Tanz auf und tragen dabei
lebende Klapperschlangen im Munde, ohne jemals, wie sie versichern, gebissen


ZVundts Geschichte der musischen Künste

diese gewaltige Umwandlung, die das Epos in den mythologischen Vorstellungen
hervorgebracht hat, keine völlige Neuschöpfung ist, sondern daß überall die
Quellen der höhern schon in der niedern Mythologie fließen, ganz so wie das
Epos selbst aus der poetischen Form dieser niedern Mythologie, aus der Märchen¬
dichtung, hervorgewachsen ist."

Wie das Lied, so ist der mit ihm verbundne Tanz zunächst individuelle
Affektäußerung, wird aber dann im Gemeinschaftsleben zu einer Angelegenheit
der Gemeinschaft erhoben, diszipliniert und verschiednen Zwecken dienstbar ge¬
macht, besonders dem Kultus. Psychologisch sind die ekstatischen Tänze von
den mimischen zu unterscheiden. Da die Ekstase ein hochgesteigerter Affekt ist,
so sind die ekstatischen Tänze gewöhnlich Einzeltünze. Auch der Gesellschafts¬
tanz pflegt bei höchster Steigerung der Ekstase in Einzeltanz überzugehn, während
der mimische Tanz in der Regel ein gemeinsamer bleibt. Die Flagellantcn-
epidemie ist eine der sehr mannigfachen Erscheinungen, die in dieses Gebiet
gehören, und jedermann weiß, daß sich ein ekstatischer Kulttanz, der der Derwische,
bis in unsre Zeit erhalten hat. Wundt erwähnt nicht, daß sich, abgesehen von
Shakern und ähnlichen ekstatischen Sekten sowie von den Vorgängen bei religiösen
Negermeetings, in einer spanischen Kathedrale, wenn wir nicht irren zu Sevilla,
ein liturgischer Tanz erhalten hat, der in der Karwoche von kostümierter Knaben
sehr anmutig und würdevoll, ohne ekstatische Verrenkungen und Sprünge, auf¬
geführt werden soll. Und wie sich denn bei allen Völkern und zu allen Zeiten
an die Kulthandlungen Lustbarkeiten anschließen, die den dem Kult geweihten
Tag in jeder Beziehung zu einem Festtage machen, so wird der Kulttanz selbst,
gleich dem Kultgesang, um so leichter zu einem Vergnügen, weil jede aus
innerm Drange hervorgehende heftige Bewegung an sich schon Genuß bereitet.
Zuletzt trennt er sich vom Kult völlig ab und wird eine rein weltliche Lustbarkeit.
Außer den religiösen Anlässen sind es Gemeinschaftsangelegenheiten wie Krieg,
Jagd und Maurerweihe, die mit Tanz begangen werden. Die Tänze gehn leicht
in gymnastische Übungen über, sodaß auch die zu Ehren eines bestatteten
Toten veranstalteten Wettkümpfe, von denen die Ilias erzählt, dahin zu rechnen
sind. Die Kulttänze sind zu einem großen Teil Zaubertänze. Das gilt besonders
von den mimischen Tänzen, mit denen die landwirtschaftlichen Verrichtungen
sowohl eingeleitet als abgeschlossen zu werden Pflegen. Entweder werden dabei
diese Verrichtungen nachgeahmt oder die für das Gedeihen der Früchte wichtigen
Himmelserscheinungen dargestellt. Ursprünglich ist die Absicht dabei keineswegs,
sich mit einem mimischen Spiel oder Schauspiel zu ergötzen, sondern man glaubt
durch solche Handlungen die Sonnenschein, Regen und Fruchtbarkeit der Erde
spendenden Dämonen günstig stimmen zu können. Man verwendet dabei auch
die Tiere, i>le der Regen aus Erdlöchern hervorlockt, wie Frösche und Schlangen,
indem man sie für die Urheber des Regens hält. So führen die Priester der
Mokiindicmer bei anhaltender Trockenheit einen Tanz auf und tragen dabei
lebende Klapperschlangen im Munde, ohne jemals, wie sie versichern, gebissen


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[0708] ZVundts Geschichte der musischen Künste diese gewaltige Umwandlung, die das Epos in den mythologischen Vorstellungen hervorgebracht hat, keine völlige Neuschöpfung ist, sondern daß überall die Quellen der höhern schon in der niedern Mythologie fließen, ganz so wie das Epos selbst aus der poetischen Form dieser niedern Mythologie, aus der Märchen¬ dichtung, hervorgewachsen ist." Wie das Lied, so ist der mit ihm verbundne Tanz zunächst individuelle Affektäußerung, wird aber dann im Gemeinschaftsleben zu einer Angelegenheit der Gemeinschaft erhoben, diszipliniert und verschiednen Zwecken dienstbar ge¬ macht, besonders dem Kultus. Psychologisch sind die ekstatischen Tänze von den mimischen zu unterscheiden. Da die Ekstase ein hochgesteigerter Affekt ist, so sind die ekstatischen Tänze gewöhnlich Einzeltünze. Auch der Gesellschafts¬ tanz pflegt bei höchster Steigerung der Ekstase in Einzeltanz überzugehn, während der mimische Tanz in der Regel ein gemeinsamer bleibt. Die Flagellantcn- epidemie ist eine der sehr mannigfachen Erscheinungen, die in dieses Gebiet gehören, und jedermann weiß, daß sich ein ekstatischer Kulttanz, der der Derwische, bis in unsre Zeit erhalten hat. Wundt erwähnt nicht, daß sich, abgesehen von Shakern und ähnlichen ekstatischen Sekten sowie von den Vorgängen bei religiösen Negermeetings, in einer spanischen Kathedrale, wenn wir nicht irren zu Sevilla, ein liturgischer Tanz erhalten hat, der in der Karwoche von kostümierter Knaben sehr anmutig und würdevoll, ohne ekstatische Verrenkungen und Sprünge, auf¬ geführt werden soll. Und wie sich denn bei allen Völkern und zu allen Zeiten an die Kulthandlungen Lustbarkeiten anschließen, die den dem Kult geweihten Tag in jeder Beziehung zu einem Festtage machen, so wird der Kulttanz selbst, gleich dem Kultgesang, um so leichter zu einem Vergnügen, weil jede aus innerm Drange hervorgehende heftige Bewegung an sich schon Genuß bereitet. Zuletzt trennt er sich vom Kult völlig ab und wird eine rein weltliche Lustbarkeit. Außer den religiösen Anlässen sind es Gemeinschaftsangelegenheiten wie Krieg, Jagd und Maurerweihe, die mit Tanz begangen werden. Die Tänze gehn leicht in gymnastische Übungen über, sodaß auch die zu Ehren eines bestatteten Toten veranstalteten Wettkümpfe, von denen die Ilias erzählt, dahin zu rechnen sind. Die Kulttänze sind zu einem großen Teil Zaubertänze. Das gilt besonders von den mimischen Tänzen, mit denen die landwirtschaftlichen Verrichtungen sowohl eingeleitet als abgeschlossen zu werden Pflegen. Entweder werden dabei diese Verrichtungen nachgeahmt oder die für das Gedeihen der Früchte wichtigen Himmelserscheinungen dargestellt. Ursprünglich ist die Absicht dabei keineswegs, sich mit einem mimischen Spiel oder Schauspiel zu ergötzen, sondern man glaubt durch solche Handlungen die Sonnenschein, Regen und Fruchtbarkeit der Erde spendenden Dämonen günstig stimmen zu können. Man verwendet dabei auch die Tiere, i>le der Regen aus Erdlöchern hervorlockt, wie Frösche und Schlangen, indem man sie für die Urheber des Regens hält. So führen die Priester der Mokiindicmer bei anhaltender Trockenheit einen Tanz auf und tragen dabei lebende Klapperschlangen im Munde, ohne jemals, wie sie versichern, gebissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/708>, abgerufen am 23.07.2024.