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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Ulundts Geschichte der musischen Künste

ganzen Recht haben. Aber das Dornröschen halten wir für kein glücklich ge¬
wähltes Beispiel. Es offenbart doch so viel zarte Ritterlichkeit und Senti¬
mentalität, daß es später entstanden zu sein scheint als die bedeutend rohere
Hottehümaid.

Der Ahnenkult drängt zur Verherrlichung der Taten der Vorfahren und
erzeugt so das Heldenlied. "Aber in dem Maße, als sich mit der Ferne der
Zeiten die Gestalten der verschieden Personen in der Erinnerung verwischen,
werden die Vorfahren der lebenden Fürsten- und Adelsgeschlechter immer mehr
in ein mythisches Dunkel gehüllt. Sie leben in Sage und Dichtung nur als
mythische Repräsentanten der einzelnen Stämme oder Geschlechter fort. Das
Epos bringt nun diese Stammesheroen mit den treuer im Gedächtnis bewahrten
großen Kämpfen der Vergangenheit in Verbindung. So werden die Helden
des Epos zu Persönlichkeiten, die trotz ihrem Charakter durch ihre Verbindung
mit bestimmten Landschaften, Stämmen und Geschlechtern immer noch eine
lebendige Beziehung zur Gegenwart bewahren. Das ist das Gepräge des
homerischen Epos. Es ist möglich, daß seine Helden wirklich gelebt haben, es
ist aber ebensogut das Gegenteil möglich. Jedenfalls führt die geschichtliche
Erinnerung nicht mehr zu ihnen, sondern nur noch zu dem großen Ereignis
des Trojanerzuges selbst zurück. Diese in den epischen Heldengesang aus¬
mündende Ahnenverehrung hat zugleich an der homerischen Dichtung eine
charakteristische Eigenschaft des ausgebildeten Epos besonders deutlich ausgeprägt:
dieses Epos ist keine Dichtung für das Volk. Es wird gesungen an den Höfen
der Fürsten und Vornehmen. Es verherrlicht die Ahnen ihres Geschlechts, die
°n den Kämpfen und Siegen der Vorzeit angeblich selbst teilgenommen haben.
Darum herrscht in dem Epos durchaus die Lebensanschauung dieser bevor¬
rechteten Kreise. Ihre Begriffe von Tugend und Ehre, von den Sorgen und
Freuden des Lebens sind allein giltig. Der griechische Aste wie der Spiel¬
mann des deutschen Mittelalters erfüllen so ihre Dichtung mit dem Denken und
Trachten der Kreise in denen sie ihren Gesang ertönen lassen; und sie erringen
sich um so reichern Beifall, je höher sie die Kraft und den Ruhm der alten
Heldengeschlechter vor deren Enkeln zu preisen wissen. So wächst das Bild
der epischen Helden und ihrer Taten ins Riesengröße, und mit ihnen wachst not¬
wendig auch der mythologische Hintergrund, von dem sie sich abheben Die
Dämonen und die in beschränktem Gebiet wirkenden Sondergötter des täglichen
Lebens und Berufs genügen hier nicht mehr. Auch dem kleinern Märchenzauber.
°n dem sich das niedere Volk ergötzt, fühlt sich diese Herrenwelt entwachsen.
Sie verlangt Großes. Gewaltiges überall. So drängt hier alles nach einer
Umwandlung der mythologischen Stoffe ins Erhabne. Manche Spuren Mer
niedern Vorstellungsform haften ja freilich auch noch dem großen Epos in.
Sie drängen sich nicht bloß in die Episoden ein. in denen die alten Märchen-
gestalten fortan ihr Wesen treiben, sondern auch die Welt der großen Götter
bleibt nicht frei davon. Aber diese Spuren zeigen doch eben nur, daß auch


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ganzen Recht haben. Aber das Dornröschen halten wir für kein glücklich ge¬
wähltes Beispiel. Es offenbart doch so viel zarte Ritterlichkeit und Senti¬
mentalität, daß es später entstanden zu sein scheint als die bedeutend rohere
Hottehümaid.

Der Ahnenkult drängt zur Verherrlichung der Taten der Vorfahren und
erzeugt so das Heldenlied. „Aber in dem Maße, als sich mit der Ferne der
Zeiten die Gestalten der verschieden Personen in der Erinnerung verwischen,
werden die Vorfahren der lebenden Fürsten- und Adelsgeschlechter immer mehr
in ein mythisches Dunkel gehüllt. Sie leben in Sage und Dichtung nur als
mythische Repräsentanten der einzelnen Stämme oder Geschlechter fort. Das
Epos bringt nun diese Stammesheroen mit den treuer im Gedächtnis bewahrten
großen Kämpfen der Vergangenheit in Verbindung. So werden die Helden
des Epos zu Persönlichkeiten, die trotz ihrem Charakter durch ihre Verbindung
mit bestimmten Landschaften, Stämmen und Geschlechtern immer noch eine
lebendige Beziehung zur Gegenwart bewahren. Das ist das Gepräge des
homerischen Epos. Es ist möglich, daß seine Helden wirklich gelebt haben, es
ist aber ebensogut das Gegenteil möglich. Jedenfalls führt die geschichtliche
Erinnerung nicht mehr zu ihnen, sondern nur noch zu dem großen Ereignis
des Trojanerzuges selbst zurück. Diese in den epischen Heldengesang aus¬
mündende Ahnenverehrung hat zugleich an der homerischen Dichtung eine
charakteristische Eigenschaft des ausgebildeten Epos besonders deutlich ausgeprägt:
dieses Epos ist keine Dichtung für das Volk. Es wird gesungen an den Höfen
der Fürsten und Vornehmen. Es verherrlicht die Ahnen ihres Geschlechts, die
°n den Kämpfen und Siegen der Vorzeit angeblich selbst teilgenommen haben.
Darum herrscht in dem Epos durchaus die Lebensanschauung dieser bevor¬
rechteten Kreise. Ihre Begriffe von Tugend und Ehre, von den Sorgen und
Freuden des Lebens sind allein giltig. Der griechische Aste wie der Spiel¬
mann des deutschen Mittelalters erfüllen so ihre Dichtung mit dem Denken und
Trachten der Kreise in denen sie ihren Gesang ertönen lassen; und sie erringen
sich um so reichern Beifall, je höher sie die Kraft und den Ruhm der alten
Heldengeschlechter vor deren Enkeln zu preisen wissen. So wächst das Bild
der epischen Helden und ihrer Taten ins Riesengröße, und mit ihnen wachst not¬
wendig auch der mythologische Hintergrund, von dem sie sich abheben Die
Dämonen und die in beschränktem Gebiet wirkenden Sondergötter des täglichen
Lebens und Berufs genügen hier nicht mehr. Auch dem kleinern Märchenzauber.
°n dem sich das niedere Volk ergötzt, fühlt sich diese Herrenwelt entwachsen.
Sie verlangt Großes. Gewaltiges überall. So drängt hier alles nach einer
Umwandlung der mythologischen Stoffe ins Erhabne. Manche Spuren Mer
niedern Vorstellungsform haften ja freilich auch noch dem großen Epos in.
Sie drängen sich nicht bloß in die Episoden ein. in denen die alten Märchen-
gestalten fortan ihr Wesen treiben, sondern auch die Welt der großen Götter
bleibt nicht frei davon. Aber diese Spuren zeigen doch eben nur, daß auch


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[0707] Ulundts Geschichte der musischen Künste ganzen Recht haben. Aber das Dornröschen halten wir für kein glücklich ge¬ wähltes Beispiel. Es offenbart doch so viel zarte Ritterlichkeit und Senti¬ mentalität, daß es später entstanden zu sein scheint als die bedeutend rohere Hottehümaid. Der Ahnenkult drängt zur Verherrlichung der Taten der Vorfahren und erzeugt so das Heldenlied. „Aber in dem Maße, als sich mit der Ferne der Zeiten die Gestalten der verschieden Personen in der Erinnerung verwischen, werden die Vorfahren der lebenden Fürsten- und Adelsgeschlechter immer mehr in ein mythisches Dunkel gehüllt. Sie leben in Sage und Dichtung nur als mythische Repräsentanten der einzelnen Stämme oder Geschlechter fort. Das Epos bringt nun diese Stammesheroen mit den treuer im Gedächtnis bewahrten großen Kämpfen der Vergangenheit in Verbindung. So werden die Helden des Epos zu Persönlichkeiten, die trotz ihrem Charakter durch ihre Verbindung mit bestimmten Landschaften, Stämmen und Geschlechtern immer noch eine lebendige Beziehung zur Gegenwart bewahren. Das ist das Gepräge des homerischen Epos. Es ist möglich, daß seine Helden wirklich gelebt haben, es ist aber ebensogut das Gegenteil möglich. Jedenfalls führt die geschichtliche Erinnerung nicht mehr zu ihnen, sondern nur noch zu dem großen Ereignis des Trojanerzuges selbst zurück. Diese in den epischen Heldengesang aus¬ mündende Ahnenverehrung hat zugleich an der homerischen Dichtung eine charakteristische Eigenschaft des ausgebildeten Epos besonders deutlich ausgeprägt: dieses Epos ist keine Dichtung für das Volk. Es wird gesungen an den Höfen der Fürsten und Vornehmen. Es verherrlicht die Ahnen ihres Geschlechts, die °n den Kämpfen und Siegen der Vorzeit angeblich selbst teilgenommen haben. Darum herrscht in dem Epos durchaus die Lebensanschauung dieser bevor¬ rechteten Kreise. Ihre Begriffe von Tugend und Ehre, von den Sorgen und Freuden des Lebens sind allein giltig. Der griechische Aste wie der Spiel¬ mann des deutschen Mittelalters erfüllen so ihre Dichtung mit dem Denken und Trachten der Kreise in denen sie ihren Gesang ertönen lassen; und sie erringen sich um so reichern Beifall, je höher sie die Kraft und den Ruhm der alten Heldengeschlechter vor deren Enkeln zu preisen wissen. So wächst das Bild der epischen Helden und ihrer Taten ins Riesengröße, und mit ihnen wachst not¬ wendig auch der mythologische Hintergrund, von dem sie sich abheben Die Dämonen und die in beschränktem Gebiet wirkenden Sondergötter des täglichen Lebens und Berufs genügen hier nicht mehr. Auch dem kleinern Märchenzauber. °n dem sich das niedere Volk ergötzt, fühlt sich diese Herrenwelt entwachsen. Sie verlangt Großes. Gewaltiges überall. So drängt hier alles nach einer Umwandlung der mythologischen Stoffe ins Erhabne. Manche Spuren Mer niedern Vorstellungsform haften ja freilich auch noch dem großen Epos in. Sie drängen sich nicht bloß in die Episoden ein. in denen die alten Märchen- gestalten fortan ihr Wesen treiben, sondern auch die Welt der großen Götter bleibt nicht frei davon. Aber diese Spuren zeigen doch eben nur, daß auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/707>, abgerufen am 23.07.2024.