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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Soldaten und Matrosen! Es ist eure heilige Pflicht, das russische Volk von
dieser verräterischen Regierung zu befreien und die gewählten Vertreter des Volkes
zu verteidigen. Jeder, der sein Leben in diesem heiligen Kriege opfert, ist nie
welkenden Ruhmes sicher, und das russische Volk wird sein Andenken ehren. Darum
mutig für die Heimat, das Volk für Land und Freiheit -- in den Kampf gegen
die verbrecherische Regierung! in diesem Kampf werden die Erwählten des Volkes
mit euch sein.


Das Vereinigte Komitee der Arbeitsgruppe und der sozialdemokratischen
Fraktion der Reichsduma.

Se. Petersburg, den 12. (25.) Juli 1906.

Dieses Manifest erschien anonym. Es hatte in Verbindung mit örtlichen
Verhältnissen die Militäraufstände in Kronstäbe und Sweaborg zur Folge sowie
das furchtbare Attentat auf den Ministerpräsidenten. Wie wenig aber den
Meuterern selbst an der Politik lag, geht daraus hervor, daß sie sich bei den
einzelnen Überfällen auf die Offiziere rühmten, nach ihnen kämen die Kaufleute
in der Stadt dran -- denen würde ihr Geld abgenommen werden, und dann
würden sie. die Matrosen, gut leben. Von irgendeiner politischen Begeisterung
war nirgends etwas zu bemerken -- um so mehr aber Raub- und Mordlust.

Aber diese äußern Vorgänge interessieren uns nicht. Wichtiger scheint es
uns, festzuhalten, wie sehr aus einem Guß die beiden Manifeste hergestellt sind.
Zunächst wird in beiden wider besseres Wissen die Behauptung aufgestellt, die
Auflösung der Dumm sei nur eine Vorstufe zur Aufhebung der Konstitution
überhaupt. Die Bekräftigung des Zaren in seinem Manifest vom 8. Juli, daß
die die Konstitution einführende Gesetzgebung erhalten bleiben soll, wird als
Lüge hingestellt und diese Auffassung im Volke verbreitet. Aus diesem Zu¬
sammenhang geht hervor, daß den Kadetten nnr wenig an einer friedlichen Er¬
neuerung Rußlands lag, daß sie, vielleicht unbewußt, Mittel anwandten, die
den Zusammenbruch des Reiches beschleunigen mußten. Wäre ihr Sinnen
wirklich vor allem auf eine friedliche Entwicklung gerichtet gewesen, dann mußte
der an sich durchaus berechtigte Appell an die Wühler zunächst auffordern,
ruhig zu bleiben. Dann mußten die Prinzipien der Agrarreform klargelegt und
die Ursachen der Auflösung dargestellt werden. Ohne sich etwas zu vergeben,
hätten die Kadetten es sehr wohl auf ein Plebiszit ankommen lassen können ^
wenn sie nur ihrer Sache, das heißt der Dauerhaftigkeit ihrer Ideale sicher
gewesen wären. Tatsächlich können ihre Ideale aber nicht haltbar sein. Ein
von religiösen und nationalen Anschauungen entkleideter Materialismus, wie er
in dem durchaus sozialistischen Programm der konstitutionellen Demokraten zum
Ausdruck kommt, kann vielleicht bei absterbenden, nicht aber bei jungen, werdenden
Völkern Wurzel fassen. Denn dieser Materialismus kultiviert nur die tierischen
Instinkte im Menschen -- ohne Ausnutzung der Eigenschaften, die ihn über
das Säugetier hinaussehen. Die Russen aber sind ein werdendes Volk!

Wo der Mittelpunkt der moralischen Kräfte des russischen Volkes tatsächlich
liegt, hat sich auch bei dieser Gelegenheit gezeigt: bei den national empfindenden


Russische Briefe

Soldaten und Matrosen! Es ist eure heilige Pflicht, das russische Volk von
dieser verräterischen Regierung zu befreien und die gewählten Vertreter des Volkes
zu verteidigen. Jeder, der sein Leben in diesem heiligen Kriege opfert, ist nie
welkenden Ruhmes sicher, und das russische Volk wird sein Andenken ehren. Darum
mutig für die Heimat, das Volk für Land und Freiheit — in den Kampf gegen
die verbrecherische Regierung! in diesem Kampf werden die Erwählten des Volkes
mit euch sein.


Das Vereinigte Komitee der Arbeitsgruppe und der sozialdemokratischen
Fraktion der Reichsduma.

Se. Petersburg, den 12. (25.) Juli 1906.

Dieses Manifest erschien anonym. Es hatte in Verbindung mit örtlichen
Verhältnissen die Militäraufstände in Kronstäbe und Sweaborg zur Folge sowie
das furchtbare Attentat auf den Ministerpräsidenten. Wie wenig aber den
Meuterern selbst an der Politik lag, geht daraus hervor, daß sie sich bei den
einzelnen Überfällen auf die Offiziere rühmten, nach ihnen kämen die Kaufleute
in der Stadt dran — denen würde ihr Geld abgenommen werden, und dann
würden sie. die Matrosen, gut leben. Von irgendeiner politischen Begeisterung
war nirgends etwas zu bemerken — um so mehr aber Raub- und Mordlust.

Aber diese äußern Vorgänge interessieren uns nicht. Wichtiger scheint es
uns, festzuhalten, wie sehr aus einem Guß die beiden Manifeste hergestellt sind.
Zunächst wird in beiden wider besseres Wissen die Behauptung aufgestellt, die
Auflösung der Dumm sei nur eine Vorstufe zur Aufhebung der Konstitution
überhaupt. Die Bekräftigung des Zaren in seinem Manifest vom 8. Juli, daß
die die Konstitution einführende Gesetzgebung erhalten bleiben soll, wird als
Lüge hingestellt und diese Auffassung im Volke verbreitet. Aus diesem Zu¬
sammenhang geht hervor, daß den Kadetten nnr wenig an einer friedlichen Er¬
neuerung Rußlands lag, daß sie, vielleicht unbewußt, Mittel anwandten, die
den Zusammenbruch des Reiches beschleunigen mußten. Wäre ihr Sinnen
wirklich vor allem auf eine friedliche Entwicklung gerichtet gewesen, dann mußte
der an sich durchaus berechtigte Appell an die Wühler zunächst auffordern,
ruhig zu bleiben. Dann mußten die Prinzipien der Agrarreform klargelegt und
die Ursachen der Auflösung dargestellt werden. Ohne sich etwas zu vergeben,
hätten die Kadetten es sehr wohl auf ein Plebiszit ankommen lassen können ^
wenn sie nur ihrer Sache, das heißt der Dauerhaftigkeit ihrer Ideale sicher
gewesen wären. Tatsächlich können ihre Ideale aber nicht haltbar sein. Ein
von religiösen und nationalen Anschauungen entkleideter Materialismus, wie er
in dem durchaus sozialistischen Programm der konstitutionellen Demokraten zum
Ausdruck kommt, kann vielleicht bei absterbenden, nicht aber bei jungen, werdenden
Völkern Wurzel fassen. Denn dieser Materialismus kultiviert nur die tierischen
Instinkte im Menschen — ohne Ausnutzung der Eigenschaften, die ihn über
das Säugetier hinaussehen. Die Russen aber sind ein werdendes Volk!

Wo der Mittelpunkt der moralischen Kräfte des russischen Volkes tatsächlich
liegt, hat sich auch bei dieser Gelegenheit gezeigt: bei den national empfindenden


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[0532] Russische Briefe Soldaten und Matrosen! Es ist eure heilige Pflicht, das russische Volk von dieser verräterischen Regierung zu befreien und die gewählten Vertreter des Volkes zu verteidigen. Jeder, der sein Leben in diesem heiligen Kriege opfert, ist nie welkenden Ruhmes sicher, und das russische Volk wird sein Andenken ehren. Darum mutig für die Heimat, das Volk für Land und Freiheit — in den Kampf gegen die verbrecherische Regierung! in diesem Kampf werden die Erwählten des Volkes mit euch sein. Das Vereinigte Komitee der Arbeitsgruppe und der sozialdemokratischen Fraktion der Reichsduma. Se. Petersburg, den 12. (25.) Juli 1906. Dieses Manifest erschien anonym. Es hatte in Verbindung mit örtlichen Verhältnissen die Militäraufstände in Kronstäbe und Sweaborg zur Folge sowie das furchtbare Attentat auf den Ministerpräsidenten. Wie wenig aber den Meuterern selbst an der Politik lag, geht daraus hervor, daß sie sich bei den einzelnen Überfällen auf die Offiziere rühmten, nach ihnen kämen die Kaufleute in der Stadt dran — denen würde ihr Geld abgenommen werden, und dann würden sie. die Matrosen, gut leben. Von irgendeiner politischen Begeisterung war nirgends etwas zu bemerken — um so mehr aber Raub- und Mordlust. Aber diese äußern Vorgänge interessieren uns nicht. Wichtiger scheint es uns, festzuhalten, wie sehr aus einem Guß die beiden Manifeste hergestellt sind. Zunächst wird in beiden wider besseres Wissen die Behauptung aufgestellt, die Auflösung der Dumm sei nur eine Vorstufe zur Aufhebung der Konstitution überhaupt. Die Bekräftigung des Zaren in seinem Manifest vom 8. Juli, daß die die Konstitution einführende Gesetzgebung erhalten bleiben soll, wird als Lüge hingestellt und diese Auffassung im Volke verbreitet. Aus diesem Zu¬ sammenhang geht hervor, daß den Kadetten nnr wenig an einer friedlichen Er¬ neuerung Rußlands lag, daß sie, vielleicht unbewußt, Mittel anwandten, die den Zusammenbruch des Reiches beschleunigen mußten. Wäre ihr Sinnen wirklich vor allem auf eine friedliche Entwicklung gerichtet gewesen, dann mußte der an sich durchaus berechtigte Appell an die Wühler zunächst auffordern, ruhig zu bleiben. Dann mußten die Prinzipien der Agrarreform klargelegt und die Ursachen der Auflösung dargestellt werden. Ohne sich etwas zu vergeben, hätten die Kadetten es sehr wohl auf ein Plebiszit ankommen lassen können ^ wenn sie nur ihrer Sache, das heißt der Dauerhaftigkeit ihrer Ideale sicher gewesen wären. Tatsächlich können ihre Ideale aber nicht haltbar sein. Ein von religiösen und nationalen Anschauungen entkleideter Materialismus, wie er in dem durchaus sozialistischen Programm der konstitutionellen Demokraten zum Ausdruck kommt, kann vielleicht bei absterbenden, nicht aber bei jungen, werdenden Völkern Wurzel fassen. Denn dieser Materialismus kultiviert nur die tierischen Instinkte im Menschen — ohne Ausnutzung der Eigenschaften, die ihn über das Säugetier hinaussehen. Die Russen aber sind ein werdendes Volk! Wo der Mittelpunkt der moralischen Kräfte des russischen Volkes tatsächlich liegt, hat sich auch bei dieser Gelegenheit gezeigt: bei den national empfindenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/532>, abgerufen am 25.08.2024.