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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Überarbeitung und Nervenüberreizung als Entschuldigung für das Verfahren der
ehemaligen Abgeordneten annehmen, denn gearbeitet wurde in den Kommissionen
der Duma ganz erstaunlich viel, und die Arbeit mußte vornehmlich von Kadetten
geleistet werden. Eine weitere Entschuldigung für das Verhalten wird jeder
Freund der fortschrittlichen Bewegung in dem tiefen Mißtrauen finden, das sich
gegen eine Negierung festsetzen mußte, in deren Ministerien die gefährlichsten
Proklamationen von Gendarmerieoffizieren gedruckt wurden, mit dem Zweck, be¬
stimmte Teile der Bevölkerung zu Mord und Brand aufzureizen. Diese Vor¬
gänge durften aber nicht mehr Stolypin zur Last gelegt werden, nachdem er
sein Kabinett in liberaler Richtung reformiert hatte und sogar mit Vertretern
aus dem Parlament, wie Heyden, Lwow und Stachowitsch, wegen Eintritts in
sein Kabinett verhandelt hatte.

Der Aufruf sollte jedoch nicht den Zweck verfolgen, das "Volk aufzureizen",
sondern nur den, die "Verbindung" der Kadetten mit dem vielleicht revolutionären
Volke aufrecht zu erhalten. Das war wenigstens die Auffassung der Kadetten-
Schon seit Wochen war die Haupttätigkeit der Dumafraktion darauf gerichtet
bildeten gewesen, diese "Verbindung" möglichst eng zu gestalte". Einen
Maßstab für die Kadetten die Adressen an Mitglieder der Fraktion, von
denen während der Tagung der Duma neunundneunzig veröffentlicht wurden.
Wie falsch dieser Maßstab aber ist, ergibt sich schon daraus, daß es
erst einer Anregung der Duma bedürfte, die Adressen hervorzurufen. Doch
wie dem nun auch sei, die Kadetten gaben sich am 9. Juli den Anschein,
als seien sie davon überzeugt, daß die Revolution sofort an allen Ecken des
Reichs losbrechen würde, um die Abgeordneten zu schützen. Darum wollten
auch sie beweisen, daß sie es mit dem Volke hielten, sonst nichts! Um so
größer war die Niedergeschlagenheit und Zerfahrenheit, als die Revolution nicht
ausbrach, für die einzig und allein die Minister verantwortlich gemacht werden
sollten. Man hatte nicht daran gedacht, daß die Ernte eben begonnen hatte,
und daß die Intelligenz zu den Ferien auf den Landsitzen zerstreut war. Man
hatte aber auch nicht damit gerechnet, daß die Negierung so schneidig und be¬
dacht vorgehn würde. Das Rechenexempel erwies sich als falsch, die Blamage
in Wiborg war umsonst!

Am 10. Juli siedelte das "Rumpfparlament" nach Terjoki, näher an die
russische Grenze, über, wo es in Erwartung der Dinge, die kommen sollten,
noch einige male meist in Fraktionssitzungen der konstitutionellen Demo¬
kraten, teils in solchen der Sozialdemokraten zusammentrat, dann aber aus¬
einanderlief.

Noch enttäuschter als die Kadetten waren die offnen Revolutionäre ^
die Sozialdemokraten und ihr Anhang. Sie führten den dem Wiborger Auf¬
ruf zugrunde liegenden Gedanken weiter aus in einem "Manifest an die Armee
und Marine von der Arbeitsgruppe und der sozialdemokratischen Fraktion der
Reichsduma". Es lautete:


Russische Briefe

Überarbeitung und Nervenüberreizung als Entschuldigung für das Verfahren der
ehemaligen Abgeordneten annehmen, denn gearbeitet wurde in den Kommissionen
der Duma ganz erstaunlich viel, und die Arbeit mußte vornehmlich von Kadetten
geleistet werden. Eine weitere Entschuldigung für das Verhalten wird jeder
Freund der fortschrittlichen Bewegung in dem tiefen Mißtrauen finden, das sich
gegen eine Negierung festsetzen mußte, in deren Ministerien die gefährlichsten
Proklamationen von Gendarmerieoffizieren gedruckt wurden, mit dem Zweck, be¬
stimmte Teile der Bevölkerung zu Mord und Brand aufzureizen. Diese Vor¬
gänge durften aber nicht mehr Stolypin zur Last gelegt werden, nachdem er
sein Kabinett in liberaler Richtung reformiert hatte und sogar mit Vertretern
aus dem Parlament, wie Heyden, Lwow und Stachowitsch, wegen Eintritts in
sein Kabinett verhandelt hatte.

Der Aufruf sollte jedoch nicht den Zweck verfolgen, das „Volk aufzureizen",
sondern nur den, die „Verbindung" der Kadetten mit dem vielleicht revolutionären
Volke aufrecht zu erhalten. Das war wenigstens die Auffassung der Kadetten-
Schon seit Wochen war die Haupttätigkeit der Dumafraktion darauf gerichtet
bildeten gewesen, diese „Verbindung" möglichst eng zu gestalte«. Einen
Maßstab für die Kadetten die Adressen an Mitglieder der Fraktion, von
denen während der Tagung der Duma neunundneunzig veröffentlicht wurden.
Wie falsch dieser Maßstab aber ist, ergibt sich schon daraus, daß es
erst einer Anregung der Duma bedürfte, die Adressen hervorzurufen. Doch
wie dem nun auch sei, die Kadetten gaben sich am 9. Juli den Anschein,
als seien sie davon überzeugt, daß die Revolution sofort an allen Ecken des
Reichs losbrechen würde, um die Abgeordneten zu schützen. Darum wollten
auch sie beweisen, daß sie es mit dem Volke hielten, sonst nichts! Um so
größer war die Niedergeschlagenheit und Zerfahrenheit, als die Revolution nicht
ausbrach, für die einzig und allein die Minister verantwortlich gemacht werden
sollten. Man hatte nicht daran gedacht, daß die Ernte eben begonnen hatte,
und daß die Intelligenz zu den Ferien auf den Landsitzen zerstreut war. Man
hatte aber auch nicht damit gerechnet, daß die Negierung so schneidig und be¬
dacht vorgehn würde. Das Rechenexempel erwies sich als falsch, die Blamage
in Wiborg war umsonst!

Am 10. Juli siedelte das „Rumpfparlament" nach Terjoki, näher an die
russische Grenze, über, wo es in Erwartung der Dinge, die kommen sollten,
noch einige male meist in Fraktionssitzungen der konstitutionellen Demo¬
kraten, teils in solchen der Sozialdemokraten zusammentrat, dann aber aus¬
einanderlief.

Noch enttäuschter als die Kadetten waren die offnen Revolutionäre ^
die Sozialdemokraten und ihr Anhang. Sie führten den dem Wiborger Auf¬
ruf zugrunde liegenden Gedanken weiter aus in einem „Manifest an die Armee
und Marine von der Arbeitsgruppe und der sozialdemokratischen Fraktion der
Reichsduma". Es lautete:


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[0530] Russische Briefe Überarbeitung und Nervenüberreizung als Entschuldigung für das Verfahren der ehemaligen Abgeordneten annehmen, denn gearbeitet wurde in den Kommissionen der Duma ganz erstaunlich viel, und die Arbeit mußte vornehmlich von Kadetten geleistet werden. Eine weitere Entschuldigung für das Verhalten wird jeder Freund der fortschrittlichen Bewegung in dem tiefen Mißtrauen finden, das sich gegen eine Negierung festsetzen mußte, in deren Ministerien die gefährlichsten Proklamationen von Gendarmerieoffizieren gedruckt wurden, mit dem Zweck, be¬ stimmte Teile der Bevölkerung zu Mord und Brand aufzureizen. Diese Vor¬ gänge durften aber nicht mehr Stolypin zur Last gelegt werden, nachdem er sein Kabinett in liberaler Richtung reformiert hatte und sogar mit Vertretern aus dem Parlament, wie Heyden, Lwow und Stachowitsch, wegen Eintritts in sein Kabinett verhandelt hatte. Der Aufruf sollte jedoch nicht den Zweck verfolgen, das „Volk aufzureizen", sondern nur den, die „Verbindung" der Kadetten mit dem vielleicht revolutionären Volke aufrecht zu erhalten. Das war wenigstens die Auffassung der Kadetten- Schon seit Wochen war die Haupttätigkeit der Dumafraktion darauf gerichtet bildeten gewesen, diese „Verbindung" möglichst eng zu gestalte«. Einen Maßstab für die Kadetten die Adressen an Mitglieder der Fraktion, von denen während der Tagung der Duma neunundneunzig veröffentlicht wurden. Wie falsch dieser Maßstab aber ist, ergibt sich schon daraus, daß es erst einer Anregung der Duma bedürfte, die Adressen hervorzurufen. Doch wie dem nun auch sei, die Kadetten gaben sich am 9. Juli den Anschein, als seien sie davon überzeugt, daß die Revolution sofort an allen Ecken des Reichs losbrechen würde, um die Abgeordneten zu schützen. Darum wollten auch sie beweisen, daß sie es mit dem Volke hielten, sonst nichts! Um so größer war die Niedergeschlagenheit und Zerfahrenheit, als die Revolution nicht ausbrach, für die einzig und allein die Minister verantwortlich gemacht werden sollten. Man hatte nicht daran gedacht, daß die Ernte eben begonnen hatte, und daß die Intelligenz zu den Ferien auf den Landsitzen zerstreut war. Man hatte aber auch nicht damit gerechnet, daß die Negierung so schneidig und be¬ dacht vorgehn würde. Das Rechenexempel erwies sich als falsch, die Blamage in Wiborg war umsonst! Am 10. Juli siedelte das „Rumpfparlament" nach Terjoki, näher an die russische Grenze, über, wo es in Erwartung der Dinge, die kommen sollten, noch einige male meist in Fraktionssitzungen der konstitutionellen Demo¬ kraten, teils in solchen der Sozialdemokraten zusammentrat, dann aber aus¬ einanderlief. Noch enttäuschter als die Kadetten waren die offnen Revolutionäre ^ die Sozialdemokraten und ihr Anhang. Sie führten den dem Wiborger Auf¬ ruf zugrunde liegenden Gedanken weiter aus in einem „Manifest an die Armee und Marine von der Arbeitsgruppe und der sozialdemokratischen Fraktion der Reichsduma". Es lautete:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/530>, abgerufen am 23.07.2024.