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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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gebotnen interessanten Stoffs für die Erkenntnis des deutschen Geisteslebens
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts muß jeder kleinliche Tadel
verstummen.

Kein schöneres Eingangskapitel konnte für Lazarus Lebenserinnerungen
gewühlt werden als das über Rückert. Es führt uns in das "Gehäuse seines
Daseins", in das Idyll seines Gutes Neuseß bei Koburg und zeigt uns darin
den Dichter im Kreise der Seinen in Bildern und Szenen, die uns anmuten
wie Grüße aus einer vergangnen, schönem Welt. Man begreift, daß ein so
naturwüchsiger Charakter in Berlin nicht Wurzel fassen konnte, man freut sich,
daß der Lieblingswunsch des greisen Rückert, seine "Freudenfrohburg, Ehreu-
burg und Residenz", das ist Neuseß:

n>ögc der Familie erhalten bleiben, durch die Hilfe werktätiger Freunde, unter
denen Lazarus nicht der letzte war, in Erfüllung gegangen ist, und man genießt
nach solcher Stimmungsbereitnng am Schlüsse das tief gegründete Urteil des
Vvlkerpsychologen über den Dichter: "Rückert hat seine ganze Welt poetisch ver¬
wart, er hob die ganze Erde in den Himmel der Poesie: er lohnt dem Vogel
^ Käfig den Gesang mit seinem Liede, er besingt den Weinberg, den er ge¬
glänzt, das Kind, das geboren wird, und das der Ewigkeit zurückgegebne, jede
schöpferische Leistung, jedes Volk. Wäre alles Gedächtnis der Menschheit ver¬
ascht und seine Werke blieben: man würde den großen Gang der Geschichte
"ut ihre Höhe darin erkennen und von allem Hohen und Tiefen ein Zeugnis
darin finden."

Das Gottfried Keller gewidmete Kapitel hat seinen Hauptreiz in zwei sehr
charakteristischen Briefen des Schweizer Dichters, die hier zum erstenmale mit¬
geteilt werden, und in der anmutigen Erzählung, wie der Schluß der Kellerschen
Modelle: "Das Fähnlein der sieben Aufrechten", die vielleicht Kellers beste
Forelle ist, im Jahre 1860 am Vorabende des Churer Eidgenössischen Gcsangs-
festes durch Lazarus Verdienst noch rechtzeitig zustande kam, damit sie den
^hrgang iggl von Berthold Auerbachs Volkskalender zieren konnte.

Das dritte Kapitel bringt Erinnerungen an Berthold Auerbach, der vor
kaum einem Vierteljahrhundert (1882) gestorben, heute schon viel von seiner
Scherr Popularität eingebüßt hat. Die zahlreichen uns mitgeteilten Briefe an
^zarus zeigen den unermüdlichen Schriftsteller, der die Kluft zwischen den Ge¬
ödeten und dem Volke, zwischen Judentum und Christentum durch eine allen
weisen verständliche Erzählungsliteratur zu verringern suchte, vorzugsweise als
einen weich und warm empfindenden Menschen, der ein ausgesprochnes Bedürfnis
^es Freundschaft in seinem Herzen trug und sich eben deshalb an den willens¬
starken Lazarus anrankte wie der Weinstock an die Ulme. Seit 1855 war


gebotnen interessanten Stoffs für die Erkenntnis des deutschen Geisteslebens
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts muß jeder kleinliche Tadel
verstummen.

Kein schöneres Eingangskapitel konnte für Lazarus Lebenserinnerungen
gewühlt werden als das über Rückert. Es führt uns in das „Gehäuse seines
Daseins", in das Idyll seines Gutes Neuseß bei Koburg und zeigt uns darin
den Dichter im Kreise der Seinen in Bildern und Szenen, die uns anmuten
wie Grüße aus einer vergangnen, schönem Welt. Man begreift, daß ein so
naturwüchsiger Charakter in Berlin nicht Wurzel fassen konnte, man freut sich,
daß der Lieblingswunsch des greisen Rückert, seine „Freudenfrohburg, Ehreu-
burg und Residenz", das ist Neuseß:

n>ögc der Familie erhalten bleiben, durch die Hilfe werktätiger Freunde, unter
denen Lazarus nicht der letzte war, in Erfüllung gegangen ist, und man genießt
nach solcher Stimmungsbereitnng am Schlüsse das tief gegründete Urteil des
Vvlkerpsychologen über den Dichter: „Rückert hat seine ganze Welt poetisch ver¬
wart, er hob die ganze Erde in den Himmel der Poesie: er lohnt dem Vogel
^ Käfig den Gesang mit seinem Liede, er besingt den Weinberg, den er ge¬
glänzt, das Kind, das geboren wird, und das der Ewigkeit zurückgegebne, jede
schöpferische Leistung, jedes Volk. Wäre alles Gedächtnis der Menschheit ver¬
ascht und seine Werke blieben: man würde den großen Gang der Geschichte
"ut ihre Höhe darin erkennen und von allem Hohen und Tiefen ein Zeugnis
darin finden."

Das Gottfried Keller gewidmete Kapitel hat seinen Hauptreiz in zwei sehr
charakteristischen Briefen des Schweizer Dichters, die hier zum erstenmale mit¬
geteilt werden, und in der anmutigen Erzählung, wie der Schluß der Kellerschen
Modelle: „Das Fähnlein der sieben Aufrechten", die vielleicht Kellers beste
Forelle ist, im Jahre 1860 am Vorabende des Churer Eidgenössischen Gcsangs-
festes durch Lazarus Verdienst noch rechtzeitig zustande kam, damit sie den
^hrgang iggl von Berthold Auerbachs Volkskalender zieren konnte.

Das dritte Kapitel bringt Erinnerungen an Berthold Auerbach, der vor
kaum einem Vierteljahrhundert (1882) gestorben, heute schon viel von seiner
Scherr Popularität eingebüßt hat. Die zahlreichen uns mitgeteilten Briefe an
^zarus zeigen den unermüdlichen Schriftsteller, der die Kluft zwischen den Ge¬
ödeten und dem Volke, zwischen Judentum und Christentum durch eine allen
weisen verständliche Erzählungsliteratur zu verringern suchte, vorzugsweise als
einen weich und warm empfindenden Menschen, der ein ausgesprochnes Bedürfnis
^es Freundschaft in seinem Herzen trug und sich eben deshalb an den willens¬
starken Lazarus anrankte wie der Weinstock an die Ulme. Seit 1855 war


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[0467] gebotnen interessanten Stoffs für die Erkenntnis des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts muß jeder kleinliche Tadel verstummen. Kein schöneres Eingangskapitel konnte für Lazarus Lebenserinnerungen gewühlt werden als das über Rückert. Es führt uns in das „Gehäuse seines Daseins", in das Idyll seines Gutes Neuseß bei Koburg und zeigt uns darin den Dichter im Kreise der Seinen in Bildern und Szenen, die uns anmuten wie Grüße aus einer vergangnen, schönem Welt. Man begreift, daß ein so naturwüchsiger Charakter in Berlin nicht Wurzel fassen konnte, man freut sich, daß der Lieblingswunsch des greisen Rückert, seine „Freudenfrohburg, Ehreu- burg und Residenz", das ist Neuseß: n>ögc der Familie erhalten bleiben, durch die Hilfe werktätiger Freunde, unter denen Lazarus nicht der letzte war, in Erfüllung gegangen ist, und man genießt nach solcher Stimmungsbereitnng am Schlüsse das tief gegründete Urteil des Vvlkerpsychologen über den Dichter: „Rückert hat seine ganze Welt poetisch ver¬ wart, er hob die ganze Erde in den Himmel der Poesie: er lohnt dem Vogel ^ Käfig den Gesang mit seinem Liede, er besingt den Weinberg, den er ge¬ glänzt, das Kind, das geboren wird, und das der Ewigkeit zurückgegebne, jede schöpferische Leistung, jedes Volk. Wäre alles Gedächtnis der Menschheit ver¬ ascht und seine Werke blieben: man würde den großen Gang der Geschichte "ut ihre Höhe darin erkennen und von allem Hohen und Tiefen ein Zeugnis darin finden." Das Gottfried Keller gewidmete Kapitel hat seinen Hauptreiz in zwei sehr charakteristischen Briefen des Schweizer Dichters, die hier zum erstenmale mit¬ geteilt werden, und in der anmutigen Erzählung, wie der Schluß der Kellerschen Modelle: „Das Fähnlein der sieben Aufrechten", die vielleicht Kellers beste Forelle ist, im Jahre 1860 am Vorabende des Churer Eidgenössischen Gcsangs- festes durch Lazarus Verdienst noch rechtzeitig zustande kam, damit sie den ^hrgang iggl von Berthold Auerbachs Volkskalender zieren konnte. Das dritte Kapitel bringt Erinnerungen an Berthold Auerbach, der vor kaum einem Vierteljahrhundert (1882) gestorben, heute schon viel von seiner Scherr Popularität eingebüßt hat. Die zahlreichen uns mitgeteilten Briefe an ^zarus zeigen den unermüdlichen Schriftsteller, der die Kluft zwischen den Ge¬ ödeten und dem Volke, zwischen Judentum und Christentum durch eine allen weisen verständliche Erzählungsliteratur zu verringern suchte, vorzugsweise als einen weich und warm empfindenden Menschen, der ein ausgesprochnes Bedürfnis ^es Freundschaft in seinem Herzen trug und sich eben deshalb an den willens¬ starken Lazarus anrankte wie der Weinstock an die Ulme. Seit 1855 war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/467>, abgerufen am 23.07.2024.