Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Moritz Lazarus Lebenserinnerungen

in seinem Gedächtnis oder in Briefen hatte. Deshalb tritt Lazarus Person
wenigstens äußerlich in den meisten Kapiteln sehr zurück. Gerade deshalb wäre
es angebracht gewesen, das Buch mit einer ganz knappen, nur das Notwendigste
bietenden Lebensskizze des Mannes zu eröffnen. Bei einer zweiten Auflage läßt
sich dieser Mangel leicht abstellen. Übrigens war die Aufgabe der Bearbeiter
dieser Lebenserinnerungen recht schwierig: es mußten Massen sehr heterogenen
Stoffes gesichtet und nach gewissen Grundsätzen verknüpft werden. Dabei
ist weder eine chronologische noch eine lokale noch eine persönliche Anordnung
streng durchgeführt worden: neben persönlichen Überschriften, wie "Rückert",
"Gottfried Keller". "Paul Heyse", finden sich lokale, wie "Paris", "Ber¬
liner Erinnerungen" und stoffliche, wie "Schillerstiftuug", "Aus der Welt des
Theaters" usw. Nur eine böswillige Kritik kann diese auf den sorgfältigsten
Erwägungen beruhende Anordnung des Stoffs bemängeln. Eine noch größere,
weil tieferliegende Schwierigkeit lag darin, daß die Bearbeiter zu den ver¬
schiedensten politischen und literarischen Charakteren, zu den mannigfaltigsten
ästhetischen und philosophischen Fragen Stellung nehmen mußten.

Es ist fast selbstverständlich, daß schon in der Auswahl des Stoffes nicht
alle Wünsche erfüllt worden sind, noch mehr werden die Charakteristiken der
auftretenden Personen und manches andre gefällte Urteil hie und da Anstoß
erregen, je nach dem Standpunkte, den der Leser mitbringt. Ich kann mich zum
Beispiel mit den politischen Anschauungen Lazarus, der ein Gesinnungsgenosse
von Virchow und Mommsen war, nicht einverstanden erklären; ich finde, daß
gerade der Liberalismus dieser Richtung bei aller Humanitären Färbung durch
seine Begünstigung des Kapitalismus und Jndustricilismns dem deutschen Volks-
tume die tiefsten Wunden geschlagen hat; ferner bin ich durchaus nicht der An¬
sicht, daß die antisemitische Bewegung des Jahres 1879 und der folgenden
Jahre nur aus "krankhaften und verbrecherischen Umtrieben" (S. 100) hervor¬
gewachsen sei. Gewiß war in dieser Bewegung viel Unlauteres, aber sie ent¬
sprang doch wenigstens zum Teil einer wahren Not des deutschen Volkes, und
Lazarus hat wohl im Jahre 1887 und später, als er sich bei den Septennats-
verhandlnngen von seinen politischen Genossen trennte und zu den Verteidigern
der nationalen Ehre übertrat, genugsam ein sich selbst erfahren, wie viele seiner
Religionsgenossen die gegen sie erhobnen Vorwürfe verdienten. Auch die Be¬
arbeiter seiner Lebenserinnerungen mußten sich gerade von jüdischer Seite die
übelwollendste und boshafteste Kritik gefallen lassen. Aber obwohl man sich
nicht jedes der in dem Buche geäußerten Urteile zu eigen machen kann, so darf
doch zweierlei keinen Augenblick verkannt werden: erstens, daß Lazarus eine
nicht nur reich begabte, sondern auch durchaus edle, einwandfreie, nach den
höchsten Idealen strebende Persönlichkeit war, und zweitens, daß die beiden
Bearbeiter seiner Lebenserinnerungen in staunenswertem Fleiße und wohl¬
geordneter, gefülliger Darstellung ein Werk geschaffen haben, für das ihnen der
Dank aller gebildeten Deutschen gebührt. Vor der Fülle des uns hier dar-


Moritz Lazarus Lebenserinnerungen

in seinem Gedächtnis oder in Briefen hatte. Deshalb tritt Lazarus Person
wenigstens äußerlich in den meisten Kapiteln sehr zurück. Gerade deshalb wäre
es angebracht gewesen, das Buch mit einer ganz knappen, nur das Notwendigste
bietenden Lebensskizze des Mannes zu eröffnen. Bei einer zweiten Auflage läßt
sich dieser Mangel leicht abstellen. Übrigens war die Aufgabe der Bearbeiter
dieser Lebenserinnerungen recht schwierig: es mußten Massen sehr heterogenen
Stoffes gesichtet und nach gewissen Grundsätzen verknüpft werden. Dabei
ist weder eine chronologische noch eine lokale noch eine persönliche Anordnung
streng durchgeführt worden: neben persönlichen Überschriften, wie „Rückert",
„Gottfried Keller". „Paul Heyse", finden sich lokale, wie „Paris", „Ber¬
liner Erinnerungen" und stoffliche, wie „Schillerstiftuug", „Aus der Welt des
Theaters" usw. Nur eine böswillige Kritik kann diese auf den sorgfältigsten
Erwägungen beruhende Anordnung des Stoffs bemängeln. Eine noch größere,
weil tieferliegende Schwierigkeit lag darin, daß die Bearbeiter zu den ver¬
schiedensten politischen und literarischen Charakteren, zu den mannigfaltigsten
ästhetischen und philosophischen Fragen Stellung nehmen mußten.

Es ist fast selbstverständlich, daß schon in der Auswahl des Stoffes nicht
alle Wünsche erfüllt worden sind, noch mehr werden die Charakteristiken der
auftretenden Personen und manches andre gefällte Urteil hie und da Anstoß
erregen, je nach dem Standpunkte, den der Leser mitbringt. Ich kann mich zum
Beispiel mit den politischen Anschauungen Lazarus, der ein Gesinnungsgenosse
von Virchow und Mommsen war, nicht einverstanden erklären; ich finde, daß
gerade der Liberalismus dieser Richtung bei aller Humanitären Färbung durch
seine Begünstigung des Kapitalismus und Jndustricilismns dem deutschen Volks-
tume die tiefsten Wunden geschlagen hat; ferner bin ich durchaus nicht der An¬
sicht, daß die antisemitische Bewegung des Jahres 1879 und der folgenden
Jahre nur aus „krankhaften und verbrecherischen Umtrieben" (S. 100) hervor¬
gewachsen sei. Gewiß war in dieser Bewegung viel Unlauteres, aber sie ent¬
sprang doch wenigstens zum Teil einer wahren Not des deutschen Volkes, und
Lazarus hat wohl im Jahre 1887 und später, als er sich bei den Septennats-
verhandlnngen von seinen politischen Genossen trennte und zu den Verteidigern
der nationalen Ehre übertrat, genugsam ein sich selbst erfahren, wie viele seiner
Religionsgenossen die gegen sie erhobnen Vorwürfe verdienten. Auch die Be¬
arbeiter seiner Lebenserinnerungen mußten sich gerade von jüdischer Seite die
übelwollendste und boshafteste Kritik gefallen lassen. Aber obwohl man sich
nicht jedes der in dem Buche geäußerten Urteile zu eigen machen kann, so darf
doch zweierlei keinen Augenblick verkannt werden: erstens, daß Lazarus eine
nicht nur reich begabte, sondern auch durchaus edle, einwandfreie, nach den
höchsten Idealen strebende Persönlichkeit war, und zweitens, daß die beiden
Bearbeiter seiner Lebenserinnerungen in staunenswertem Fleiße und wohl¬
geordneter, gefülliger Darstellung ein Werk geschaffen haben, für das ihnen der
Dank aller gebildeten Deutschen gebührt. Vor der Fülle des uns hier dar-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0466" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300965"/>
          <fw type="header" place="top"> Moritz Lazarus Lebenserinnerungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1931" prev="#ID_1930"> in seinem Gedächtnis oder in Briefen hatte. Deshalb tritt Lazarus Person<lb/>
wenigstens äußerlich in den meisten Kapiteln sehr zurück. Gerade deshalb wäre<lb/>
es angebracht gewesen, das Buch mit einer ganz knappen, nur das Notwendigste<lb/>
bietenden Lebensskizze des Mannes zu eröffnen. Bei einer zweiten Auflage läßt<lb/>
sich dieser Mangel leicht abstellen. Übrigens war die Aufgabe der Bearbeiter<lb/>
dieser Lebenserinnerungen recht schwierig: es mußten Massen sehr heterogenen<lb/>
Stoffes gesichtet und nach gewissen Grundsätzen verknüpft werden. Dabei<lb/>
ist weder eine chronologische noch eine lokale noch eine persönliche Anordnung<lb/>
streng durchgeführt worden: neben persönlichen Überschriften, wie &#x201E;Rückert",<lb/>
&#x201E;Gottfried Keller". &#x201E;Paul Heyse", finden sich lokale, wie &#x201E;Paris", &#x201E;Ber¬<lb/>
liner Erinnerungen" und stoffliche, wie &#x201E;Schillerstiftuug", &#x201E;Aus der Welt des<lb/>
Theaters" usw. Nur eine böswillige Kritik kann diese auf den sorgfältigsten<lb/>
Erwägungen beruhende Anordnung des Stoffs bemängeln. Eine noch größere,<lb/>
weil tieferliegende Schwierigkeit lag darin, daß die Bearbeiter zu den ver¬<lb/>
schiedensten politischen und literarischen Charakteren, zu den mannigfaltigsten<lb/>
ästhetischen und philosophischen Fragen Stellung nehmen mußten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1932" next="#ID_1933"> Es ist fast selbstverständlich, daß schon in der Auswahl des Stoffes nicht<lb/>
alle Wünsche erfüllt worden sind, noch mehr werden die Charakteristiken der<lb/>
auftretenden Personen und manches andre gefällte Urteil hie und da Anstoß<lb/>
erregen, je nach dem Standpunkte, den der Leser mitbringt. Ich kann mich zum<lb/>
Beispiel mit den politischen Anschauungen Lazarus, der ein Gesinnungsgenosse<lb/>
von Virchow und Mommsen war, nicht einverstanden erklären; ich finde, daß<lb/>
gerade der Liberalismus dieser Richtung bei aller Humanitären Färbung durch<lb/>
seine Begünstigung des Kapitalismus und Jndustricilismns dem deutschen Volks-<lb/>
tume die tiefsten Wunden geschlagen hat; ferner bin ich durchaus nicht der An¬<lb/>
sicht, daß die antisemitische Bewegung des Jahres 1879 und der folgenden<lb/>
Jahre nur aus &#x201E;krankhaften und verbrecherischen Umtrieben" (S. 100) hervor¬<lb/>
gewachsen sei. Gewiß war in dieser Bewegung viel Unlauteres, aber sie ent¬<lb/>
sprang doch wenigstens zum Teil einer wahren Not des deutschen Volkes, und<lb/>
Lazarus hat wohl im Jahre 1887 und später, als er sich bei den Septennats-<lb/>
verhandlnngen von seinen politischen Genossen trennte und zu den Verteidigern<lb/>
der nationalen Ehre übertrat, genugsam ein sich selbst erfahren, wie viele seiner<lb/>
Religionsgenossen die gegen sie erhobnen Vorwürfe verdienten. Auch die Be¬<lb/>
arbeiter seiner Lebenserinnerungen mußten sich gerade von jüdischer Seite die<lb/>
übelwollendste und boshafteste Kritik gefallen lassen. Aber obwohl man sich<lb/>
nicht jedes der in dem Buche geäußerten Urteile zu eigen machen kann, so darf<lb/>
doch zweierlei keinen Augenblick verkannt werden: erstens, daß Lazarus eine<lb/>
nicht nur reich begabte, sondern auch durchaus edle, einwandfreie, nach den<lb/>
höchsten Idealen strebende Persönlichkeit war, und zweitens, daß die beiden<lb/>
Bearbeiter seiner Lebenserinnerungen in staunenswertem Fleiße und wohl¬<lb/>
geordneter, gefülliger Darstellung ein Werk geschaffen haben, für das ihnen der<lb/>
Dank aller gebildeten Deutschen gebührt.  Vor der Fülle des uns hier dar-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0466] Moritz Lazarus Lebenserinnerungen in seinem Gedächtnis oder in Briefen hatte. Deshalb tritt Lazarus Person wenigstens äußerlich in den meisten Kapiteln sehr zurück. Gerade deshalb wäre es angebracht gewesen, das Buch mit einer ganz knappen, nur das Notwendigste bietenden Lebensskizze des Mannes zu eröffnen. Bei einer zweiten Auflage läßt sich dieser Mangel leicht abstellen. Übrigens war die Aufgabe der Bearbeiter dieser Lebenserinnerungen recht schwierig: es mußten Massen sehr heterogenen Stoffes gesichtet und nach gewissen Grundsätzen verknüpft werden. Dabei ist weder eine chronologische noch eine lokale noch eine persönliche Anordnung streng durchgeführt worden: neben persönlichen Überschriften, wie „Rückert", „Gottfried Keller". „Paul Heyse", finden sich lokale, wie „Paris", „Ber¬ liner Erinnerungen" und stoffliche, wie „Schillerstiftuug", „Aus der Welt des Theaters" usw. Nur eine böswillige Kritik kann diese auf den sorgfältigsten Erwägungen beruhende Anordnung des Stoffs bemängeln. Eine noch größere, weil tieferliegende Schwierigkeit lag darin, daß die Bearbeiter zu den ver¬ schiedensten politischen und literarischen Charakteren, zu den mannigfaltigsten ästhetischen und philosophischen Fragen Stellung nehmen mußten. Es ist fast selbstverständlich, daß schon in der Auswahl des Stoffes nicht alle Wünsche erfüllt worden sind, noch mehr werden die Charakteristiken der auftretenden Personen und manches andre gefällte Urteil hie und da Anstoß erregen, je nach dem Standpunkte, den der Leser mitbringt. Ich kann mich zum Beispiel mit den politischen Anschauungen Lazarus, der ein Gesinnungsgenosse von Virchow und Mommsen war, nicht einverstanden erklären; ich finde, daß gerade der Liberalismus dieser Richtung bei aller Humanitären Färbung durch seine Begünstigung des Kapitalismus und Jndustricilismns dem deutschen Volks- tume die tiefsten Wunden geschlagen hat; ferner bin ich durchaus nicht der An¬ sicht, daß die antisemitische Bewegung des Jahres 1879 und der folgenden Jahre nur aus „krankhaften und verbrecherischen Umtrieben" (S. 100) hervor¬ gewachsen sei. Gewiß war in dieser Bewegung viel Unlauteres, aber sie ent¬ sprang doch wenigstens zum Teil einer wahren Not des deutschen Volkes, und Lazarus hat wohl im Jahre 1887 und später, als er sich bei den Septennats- verhandlnngen von seinen politischen Genossen trennte und zu den Verteidigern der nationalen Ehre übertrat, genugsam ein sich selbst erfahren, wie viele seiner Religionsgenossen die gegen sie erhobnen Vorwürfe verdienten. Auch die Be¬ arbeiter seiner Lebenserinnerungen mußten sich gerade von jüdischer Seite die übelwollendste und boshafteste Kritik gefallen lassen. Aber obwohl man sich nicht jedes der in dem Buche geäußerten Urteile zu eigen machen kann, so darf doch zweierlei keinen Augenblick verkannt werden: erstens, daß Lazarus eine nicht nur reich begabte, sondern auch durchaus edle, einwandfreie, nach den höchsten Idealen strebende Persönlichkeit war, und zweitens, daß die beiden Bearbeiter seiner Lebenserinnerungen in staunenswertem Fleiße und wohl¬ geordneter, gefülliger Darstellung ein Werk geschaffen haben, für das ihnen der Dank aller gebildeten Deutschen gebührt. Vor der Fülle des uns hier dar-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/466
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/466>, abgerufen am 23.07.2024.