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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vom bürgerlichen Parteiwesen

stellen Verstand; von dem Augenblick an, wo sich die Partei unter dem Einfluß
ihrer redegewandten freihändlerischen Mitglieder Laster, Bamberger usw. von
der großzügigen Reichspolitik Bismarcks ab- und der Opposition zuwandte,
ging sie überraschend schnell zurück.

Die Partei machte damals einen Rückfall in das alte liberale Programm
durch, das vor der Gründung des Reichs entstanden und darum überholt war.
Darin hatte freilich der Cobdenismus, der Freihandel zu Englands Gunsten eine
große Rolle gespielt; heute ist er sogar im britischen Reiche fast ohne Bedeutung
und nur in der neusten Zeit zur Wiederbelebung der liberalen Partei vorüber¬
gehend hervorgesucht worden, in allen übrigen Ländern aber längst verlassen
und vergessen. Die nationalliberale Partei wurde damals binnen wenig Jahren
durch Spaltungen und Wahlverluste auf die Hälfte ihres frühern Bestandes
reduziert. Auch in der Gegenwart scheint sie sich wieder in einen Rückfall in
die alte liberale Doktrin verloren zu haben. Zunächst kann nicht gut ein
Zweifel darüber bestehn, daß sich viele ihrer Führer der Täuschung hingeben,
weil die größte Stärke der Partei von hundertachtzig Mandaten in die Zeit
des Kulturkampfs fiel, müsse man eifrig Kulturkampf treiben, um wieder in
die Höhe zu kommen und dem Vaterlande zu nützen. Es ist jedoch ein Irrtum,
daß die nationalliberale Partei durch den Kulturkampf groß geworden sei. Dieser
fiel in die Zeit der größten innern Machtfülle Bismarcks, hinter dem die
Nationalliberalen damals Mann an Mann als Vorkämpfer für den Reichs¬
gedanken standen. Darin lag ihre Stärke, das Kampfobjekt dagegen war
ziemlich nebensächlich. Wenn die Partei dabei die unnötigen Härten der kirchen¬
politischen Gesetzgebung, die erst hinterher aufkamen, übersehen hatte, so ist ihr
daraus kein Vorwurf zu machen, denn andre taten dasselbe, und sie war am
ersten durch ihren Ursprung aus der alten liberalen Partei zu entschuldigen.
Ein Fehler ist es aber, wenn man jetzt den damaligen Kampfeseifer wieder be¬
leben will. Die Zeit des Kulturkampfs ist endgiltig vorüber, und er kann auch
von einer Partei allein, wäre sie auch noch so stark, nicht geführt werden. Die
Regierung sieht aber kein Bedürfnis für einen solchen und wird sich nicht durch
die Ausstreuung, sie stehe im ultramontanen Lager, dazu drängen lassen.
Auch die Mehrzahl des Volks will keinen Kulturkampf wieder.

Die Zukunft der nationalliberalen Partei wird sich demnach nicht auf die
Wiederanschürung des Kulturkampfs, sondern auf die Wiederbelebung ihrer rein¬
nationalen Vergangenheit gründen müssen. Die Machtstellung des Zentrums
rührt keineswegs von der Organisation der streitbaren katholischen Kirche und
auch nicht von der Unterwerfung unter irgendeine kirchliche Autorität, sondern
von der Einigkeit her, in der politisch scharfblickende, taktisch gewandte und zu
praktisch nützlichem Entgegenkommen bereite Führer die an sich sehr wider¬
strebenden Elemente der Partei zusammenzuhalten verstehn. Das Zentrum hat
Konservative, Liberale und sehr Radikale in seinen Reihen, und doch ordnen sich
alle einem Gedanken unter, denn sie wissen, Einigkeit gibt Macht, und die allein


vom bürgerlichen Parteiwesen

stellen Verstand; von dem Augenblick an, wo sich die Partei unter dem Einfluß
ihrer redegewandten freihändlerischen Mitglieder Laster, Bamberger usw. von
der großzügigen Reichspolitik Bismarcks ab- und der Opposition zuwandte,
ging sie überraschend schnell zurück.

Die Partei machte damals einen Rückfall in das alte liberale Programm
durch, das vor der Gründung des Reichs entstanden und darum überholt war.
Darin hatte freilich der Cobdenismus, der Freihandel zu Englands Gunsten eine
große Rolle gespielt; heute ist er sogar im britischen Reiche fast ohne Bedeutung
und nur in der neusten Zeit zur Wiederbelebung der liberalen Partei vorüber¬
gehend hervorgesucht worden, in allen übrigen Ländern aber längst verlassen
und vergessen. Die nationalliberale Partei wurde damals binnen wenig Jahren
durch Spaltungen und Wahlverluste auf die Hälfte ihres frühern Bestandes
reduziert. Auch in der Gegenwart scheint sie sich wieder in einen Rückfall in
die alte liberale Doktrin verloren zu haben. Zunächst kann nicht gut ein
Zweifel darüber bestehn, daß sich viele ihrer Führer der Täuschung hingeben,
weil die größte Stärke der Partei von hundertachtzig Mandaten in die Zeit
des Kulturkampfs fiel, müsse man eifrig Kulturkampf treiben, um wieder in
die Höhe zu kommen und dem Vaterlande zu nützen. Es ist jedoch ein Irrtum,
daß die nationalliberale Partei durch den Kulturkampf groß geworden sei. Dieser
fiel in die Zeit der größten innern Machtfülle Bismarcks, hinter dem die
Nationalliberalen damals Mann an Mann als Vorkämpfer für den Reichs¬
gedanken standen. Darin lag ihre Stärke, das Kampfobjekt dagegen war
ziemlich nebensächlich. Wenn die Partei dabei die unnötigen Härten der kirchen¬
politischen Gesetzgebung, die erst hinterher aufkamen, übersehen hatte, so ist ihr
daraus kein Vorwurf zu machen, denn andre taten dasselbe, und sie war am
ersten durch ihren Ursprung aus der alten liberalen Partei zu entschuldigen.
Ein Fehler ist es aber, wenn man jetzt den damaligen Kampfeseifer wieder be¬
leben will. Die Zeit des Kulturkampfs ist endgiltig vorüber, und er kann auch
von einer Partei allein, wäre sie auch noch so stark, nicht geführt werden. Die
Regierung sieht aber kein Bedürfnis für einen solchen und wird sich nicht durch
die Ausstreuung, sie stehe im ultramontanen Lager, dazu drängen lassen.
Auch die Mehrzahl des Volks will keinen Kulturkampf wieder.

Die Zukunft der nationalliberalen Partei wird sich demnach nicht auf die
Wiederanschürung des Kulturkampfs, sondern auf die Wiederbelebung ihrer rein¬
nationalen Vergangenheit gründen müssen. Die Machtstellung des Zentrums
rührt keineswegs von der Organisation der streitbaren katholischen Kirche und
auch nicht von der Unterwerfung unter irgendeine kirchliche Autorität, sondern
von der Einigkeit her, in der politisch scharfblickende, taktisch gewandte und zu
praktisch nützlichem Entgegenkommen bereite Führer die an sich sehr wider¬
strebenden Elemente der Partei zusammenzuhalten verstehn. Das Zentrum hat
Konservative, Liberale und sehr Radikale in seinen Reihen, und doch ordnen sich
alle einem Gedanken unter, denn sie wissen, Einigkeit gibt Macht, und die allein


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[0346] vom bürgerlichen Parteiwesen stellen Verstand; von dem Augenblick an, wo sich die Partei unter dem Einfluß ihrer redegewandten freihändlerischen Mitglieder Laster, Bamberger usw. von der großzügigen Reichspolitik Bismarcks ab- und der Opposition zuwandte, ging sie überraschend schnell zurück. Die Partei machte damals einen Rückfall in das alte liberale Programm durch, das vor der Gründung des Reichs entstanden und darum überholt war. Darin hatte freilich der Cobdenismus, der Freihandel zu Englands Gunsten eine große Rolle gespielt; heute ist er sogar im britischen Reiche fast ohne Bedeutung und nur in der neusten Zeit zur Wiederbelebung der liberalen Partei vorüber¬ gehend hervorgesucht worden, in allen übrigen Ländern aber längst verlassen und vergessen. Die nationalliberale Partei wurde damals binnen wenig Jahren durch Spaltungen und Wahlverluste auf die Hälfte ihres frühern Bestandes reduziert. Auch in der Gegenwart scheint sie sich wieder in einen Rückfall in die alte liberale Doktrin verloren zu haben. Zunächst kann nicht gut ein Zweifel darüber bestehn, daß sich viele ihrer Führer der Täuschung hingeben, weil die größte Stärke der Partei von hundertachtzig Mandaten in die Zeit des Kulturkampfs fiel, müsse man eifrig Kulturkampf treiben, um wieder in die Höhe zu kommen und dem Vaterlande zu nützen. Es ist jedoch ein Irrtum, daß die nationalliberale Partei durch den Kulturkampf groß geworden sei. Dieser fiel in die Zeit der größten innern Machtfülle Bismarcks, hinter dem die Nationalliberalen damals Mann an Mann als Vorkämpfer für den Reichs¬ gedanken standen. Darin lag ihre Stärke, das Kampfobjekt dagegen war ziemlich nebensächlich. Wenn die Partei dabei die unnötigen Härten der kirchen¬ politischen Gesetzgebung, die erst hinterher aufkamen, übersehen hatte, so ist ihr daraus kein Vorwurf zu machen, denn andre taten dasselbe, und sie war am ersten durch ihren Ursprung aus der alten liberalen Partei zu entschuldigen. Ein Fehler ist es aber, wenn man jetzt den damaligen Kampfeseifer wieder be¬ leben will. Die Zeit des Kulturkampfs ist endgiltig vorüber, und er kann auch von einer Partei allein, wäre sie auch noch so stark, nicht geführt werden. Die Regierung sieht aber kein Bedürfnis für einen solchen und wird sich nicht durch die Ausstreuung, sie stehe im ultramontanen Lager, dazu drängen lassen. Auch die Mehrzahl des Volks will keinen Kulturkampf wieder. Die Zukunft der nationalliberalen Partei wird sich demnach nicht auf die Wiederanschürung des Kulturkampfs, sondern auf die Wiederbelebung ihrer rein¬ nationalen Vergangenheit gründen müssen. Die Machtstellung des Zentrums rührt keineswegs von der Organisation der streitbaren katholischen Kirche und auch nicht von der Unterwerfung unter irgendeine kirchliche Autorität, sondern von der Einigkeit her, in der politisch scharfblickende, taktisch gewandte und zu praktisch nützlichem Entgegenkommen bereite Führer die an sich sehr wider¬ strebenden Elemente der Partei zusammenzuhalten verstehn. Das Zentrum hat Konservative, Liberale und sehr Radikale in seinen Reihen, und doch ordnen sich alle einem Gedanken unter, denn sie wissen, Einigkeit gibt Macht, und die allein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/346>, abgerufen am 23.07.2024.