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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vom bürgerlichen Parteiwesen

die Partei; es soll hier nicht aufgezählt werden, wie oft er in den letzten Jahr¬
zehnten von Einzelnen, ja von der Gesamtheit in sein Gegenteil verkehrt worden
ist, wenn Mandatsinteressen der Parteien in Frage kamen.

Sobald neue Aufgaben im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben
der Völker entstehn, Pflegen sich neue Parteien zu bilden, Sie erfüllen dann
nicht immer in der in ihrem Programm ausgedrückten, sondern zuweilen in
ganz andrer Weise ihre Aufgabe und sollten danach eigentlich wieder verschwinden,
um andern Platz zu machen, die zu neuen Weiterentwicklungen berufen sind.
Die nationalliberale Partei ist unter dem ersten Jubelliede der Lerche von der
deutschen Einheit über dem Schlachtfelde von Königgrcitz geboren worden und zog
alle entwicklungsfähigen Elemente des deutschen Liberalismus, wie er sich nach
den Traditionen der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
gebildet hatte, an sich. Was dieser Entwicklung nicht fähig war, ist, trotz all¬
gemein anerkannter großer parlamentarischer und wahltaktischer Begabung der
Führer, in der Gegenwart verschwunden bis auf geringe Neste, die sich nicht
aus eigner Kraft, sondern durch gelegentliche Unterstützung von rechts und links
erhalten haben. Auch die nationalliberale Partei hat starke Einbußen erlitten,
es scheint aber doch, daß sie noch nicht zu den ausgelebten Parteien zu werfen
ist, denn ihr Programm ist noch keineswegs erfüllt. In seinen wesentlichen,
wenn auch von der Partei selbst nicht zu allen Zeiten mit Sorgfalt gehüteten
Teilen ist es noch immer lebenskräftig und entwicklungsfähig.

Große Erinnerungen lasten auf den Nachkommen; sie wirken in der Regel
in ihrer Vielseitigkeit störend und lassen darum oft nur schwer die Ursachen der
einstigen Größe klar erkennen. Auch die heutigen Nationalliberalen leiden unter
dem Druck der frühern Größe der Partei, eine gewisse Unklarheit über die eigentliche
Ursache des Rückgangs gibt ihrem Auftreten zuweilen etwas Schwankendes und
ist durchaus nicht geeignet, die Partei wieder auf die ehemalige Höhe zu bringen.
Parteien können sich aber ebensowenig wie Staaten von den politischen Grund¬
lagen entfernen, auf denen sie entstanden sind. Die Nationalliberalen hatten
nach dem Grundsatze Macaulays: "Ein Staatsmann ist oft genötigt, auch in
Maßregeln, die ihm mißfallen, zu willigen, um nicht den Erfolg von Ma߬
regeln zu gefährden, in denen er ein Lebensinteresse sieht", sich rüstig in den
lebendigen Strom der Gründung des Reichs geworfen und -- um mit einem
liberalen Schlagwort zu reden -- die Einheit über die Freiheit gestellt. Da¬
durch gewannen sie die Führung des parlamentarischen Lebens und kamen
gerade deshalb in die Lage, für die Verfassung wie für die Gesetzgebung
des jungen Reichs einzelne recht beachtenswerte liberale Grundsätze wie
das Budgetrecht des Reichstags, die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers u. a.
durchzusetzen, während der doktrinäre Liberalismus fruchtlos blieb. Die Stärke
der nationalliberalen Partei fällt genan mit der Beibehaltung dieses Stand¬
punkts zusammen. Sie blieb groß und ausschlaggebend, solange sie den bürger¬
lichen Liberalismus zu dessen eignem Vorteil in den Dienst der Reichsidee zu


vom bürgerlichen Parteiwesen

die Partei; es soll hier nicht aufgezählt werden, wie oft er in den letzten Jahr¬
zehnten von Einzelnen, ja von der Gesamtheit in sein Gegenteil verkehrt worden
ist, wenn Mandatsinteressen der Parteien in Frage kamen.

Sobald neue Aufgaben im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben
der Völker entstehn, Pflegen sich neue Parteien zu bilden, Sie erfüllen dann
nicht immer in der in ihrem Programm ausgedrückten, sondern zuweilen in
ganz andrer Weise ihre Aufgabe und sollten danach eigentlich wieder verschwinden,
um andern Platz zu machen, die zu neuen Weiterentwicklungen berufen sind.
Die nationalliberale Partei ist unter dem ersten Jubelliede der Lerche von der
deutschen Einheit über dem Schlachtfelde von Königgrcitz geboren worden und zog
alle entwicklungsfähigen Elemente des deutschen Liberalismus, wie er sich nach
den Traditionen der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
gebildet hatte, an sich. Was dieser Entwicklung nicht fähig war, ist, trotz all¬
gemein anerkannter großer parlamentarischer und wahltaktischer Begabung der
Führer, in der Gegenwart verschwunden bis auf geringe Neste, die sich nicht
aus eigner Kraft, sondern durch gelegentliche Unterstützung von rechts und links
erhalten haben. Auch die nationalliberale Partei hat starke Einbußen erlitten,
es scheint aber doch, daß sie noch nicht zu den ausgelebten Parteien zu werfen
ist, denn ihr Programm ist noch keineswegs erfüllt. In seinen wesentlichen,
wenn auch von der Partei selbst nicht zu allen Zeiten mit Sorgfalt gehüteten
Teilen ist es noch immer lebenskräftig und entwicklungsfähig.

Große Erinnerungen lasten auf den Nachkommen; sie wirken in der Regel
in ihrer Vielseitigkeit störend und lassen darum oft nur schwer die Ursachen der
einstigen Größe klar erkennen. Auch die heutigen Nationalliberalen leiden unter
dem Druck der frühern Größe der Partei, eine gewisse Unklarheit über die eigentliche
Ursache des Rückgangs gibt ihrem Auftreten zuweilen etwas Schwankendes und
ist durchaus nicht geeignet, die Partei wieder auf die ehemalige Höhe zu bringen.
Parteien können sich aber ebensowenig wie Staaten von den politischen Grund¬
lagen entfernen, auf denen sie entstanden sind. Die Nationalliberalen hatten
nach dem Grundsatze Macaulays: „Ein Staatsmann ist oft genötigt, auch in
Maßregeln, die ihm mißfallen, zu willigen, um nicht den Erfolg von Ma߬
regeln zu gefährden, in denen er ein Lebensinteresse sieht", sich rüstig in den
lebendigen Strom der Gründung des Reichs geworfen und — um mit einem
liberalen Schlagwort zu reden — die Einheit über die Freiheit gestellt. Da¬
durch gewannen sie die Führung des parlamentarischen Lebens und kamen
gerade deshalb in die Lage, für die Verfassung wie für die Gesetzgebung
des jungen Reichs einzelne recht beachtenswerte liberale Grundsätze wie
das Budgetrecht des Reichstags, die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers u. a.
durchzusetzen, während der doktrinäre Liberalismus fruchtlos blieb. Die Stärke
der nationalliberalen Partei fällt genan mit der Beibehaltung dieses Stand¬
punkts zusammen. Sie blieb groß und ausschlaggebend, solange sie den bürger¬
lichen Liberalismus zu dessen eignem Vorteil in den Dienst der Reichsidee zu


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[0345] vom bürgerlichen Parteiwesen die Partei; es soll hier nicht aufgezählt werden, wie oft er in den letzten Jahr¬ zehnten von Einzelnen, ja von der Gesamtheit in sein Gegenteil verkehrt worden ist, wenn Mandatsinteressen der Parteien in Frage kamen. Sobald neue Aufgaben im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben der Völker entstehn, Pflegen sich neue Parteien zu bilden, Sie erfüllen dann nicht immer in der in ihrem Programm ausgedrückten, sondern zuweilen in ganz andrer Weise ihre Aufgabe und sollten danach eigentlich wieder verschwinden, um andern Platz zu machen, die zu neuen Weiterentwicklungen berufen sind. Die nationalliberale Partei ist unter dem ersten Jubelliede der Lerche von der deutschen Einheit über dem Schlachtfelde von Königgrcitz geboren worden und zog alle entwicklungsfähigen Elemente des deutschen Liberalismus, wie er sich nach den Traditionen der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gebildet hatte, an sich. Was dieser Entwicklung nicht fähig war, ist, trotz all¬ gemein anerkannter großer parlamentarischer und wahltaktischer Begabung der Führer, in der Gegenwart verschwunden bis auf geringe Neste, die sich nicht aus eigner Kraft, sondern durch gelegentliche Unterstützung von rechts und links erhalten haben. Auch die nationalliberale Partei hat starke Einbußen erlitten, es scheint aber doch, daß sie noch nicht zu den ausgelebten Parteien zu werfen ist, denn ihr Programm ist noch keineswegs erfüllt. In seinen wesentlichen, wenn auch von der Partei selbst nicht zu allen Zeiten mit Sorgfalt gehüteten Teilen ist es noch immer lebenskräftig und entwicklungsfähig. Große Erinnerungen lasten auf den Nachkommen; sie wirken in der Regel in ihrer Vielseitigkeit störend und lassen darum oft nur schwer die Ursachen der einstigen Größe klar erkennen. Auch die heutigen Nationalliberalen leiden unter dem Druck der frühern Größe der Partei, eine gewisse Unklarheit über die eigentliche Ursache des Rückgangs gibt ihrem Auftreten zuweilen etwas Schwankendes und ist durchaus nicht geeignet, die Partei wieder auf die ehemalige Höhe zu bringen. Parteien können sich aber ebensowenig wie Staaten von den politischen Grund¬ lagen entfernen, auf denen sie entstanden sind. Die Nationalliberalen hatten nach dem Grundsatze Macaulays: „Ein Staatsmann ist oft genötigt, auch in Maßregeln, die ihm mißfallen, zu willigen, um nicht den Erfolg von Ma߬ regeln zu gefährden, in denen er ein Lebensinteresse sieht", sich rüstig in den lebendigen Strom der Gründung des Reichs geworfen und — um mit einem liberalen Schlagwort zu reden — die Einheit über die Freiheit gestellt. Da¬ durch gewannen sie die Führung des parlamentarischen Lebens und kamen gerade deshalb in die Lage, für die Verfassung wie für die Gesetzgebung des jungen Reichs einzelne recht beachtenswerte liberale Grundsätze wie das Budgetrecht des Reichstags, die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers u. a. durchzusetzen, während der doktrinäre Liberalismus fruchtlos blieb. Die Stärke der nationalliberalen Partei fällt genan mit der Beibehaltung dieses Stand¬ punkts zusammen. Sie blieb groß und ausschlaggebend, solange sie den bürger¬ lichen Liberalismus zu dessen eignem Vorteil in den Dienst der Reichsidee zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/345>, abgerufen am 23.07.2024.