Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom bürgerlichen Parteiwesen

Frankreich und Italien übertroffen wird, aber sogar noch über Spanien steht,
das weniger Einwohner hat, als Deutschland Katholiken zählt. Solchen noto¬
rischen Verhältnissen müssen der Kaiser und die Regierung Rechnung tragen.

Trotz dieser Sachlage ist freilich die heutige Stellung des Zentrums, die
es infolge seiner Starke und Geschlossenheit inne hat, kein erfreulicher Zustand
für das Reich, das nicht aus Gedanken entsprossen ist, die in dieser Partei
vorherrschen. Aber die bisher gemachten Versuche, die Stellung des Zentrums
zu brechen, haben nur einmal einen Erfolg gehabt: dem Altreichskanzler gelang
es in der großen nationalen Erregung bei den Septennatswahlen von 1887
durch das Kartell. Die Lehre, die sich daraus ergab, ging bald darauf in dem
dem Kanzlerwechsel folgenden politischen Wirrwarr verloren und ist heute nahezu
vergessen, der Wirrwarr ist aber noch da. Anregungen andrer Art, die unter
Umständen auch den Zweck hätten erfüllen können, ein Gegengewicht gegen das
Zentrum zu schaffen, und die den Zusammenschluß aller liberalen Parteien ins
Auge faßten, sind jedesmal gescheitert, weil jeder der Führer an der Neigung
festhielt, sein Bürgerwehrkorps selbst zu kommandieren. So konnte auch aus
der großen liberalen Armee nichts werden, und die Aussichten aus einen Erfolg
auf diesem Wege sind immer geringer geworden, je mehr die weiter links stehenden
Elemente von der Sozialdemokratie aufgesogen worden sind, ein Schicksal, das
ihnen Bismarck vorausgesagt hatte. Bei beiden Möglichkeiten, dem Einfluß des
Zentrums ein Paroli zu bieten, fällt den Nationalliberalen der hauptsächlichste
Anteil zu, und es ist darum geboten, dieser Partei eine eingehendere Betrachtung
zuzuwenden.

Niemand wird der nationalliberalen Partei absprechen, daß sie in der
Geschichte des jungen Deutschen Reichs eine wichtige Rolle gespielt hat, und
es wird ihr auch kein Vorwurf daraus gemacht werden dürfen, daß sie vielleicht
nicht mehr Führer von der Bedeutung eines Bennigsen und Miquel hat. Sie
teilt darin das Schicksal der übrigen Parteien und des gesamten Reichstags.
Den größern Ereignissen vor vierzig Jahren entsprachen auf allen Seiten her¬
vorragendere Persönlichkeiten. So erscheint es wenigstens dem kritischen Be¬
obachter. Dabei ist es aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich auch in der
Gegenwart, wenn eine plötzliche weltgeschichtliche Entscheidung über Deutschland
hereinbrechen sollte, unter den heute nicht in ihrem vollen Wert erkannten
Politikern die Männer finden werden, die große Aufgaben in großem Sinne
aufzufassen verstehen. Die lange Friedenszeit hat die großen Ideen in den
Hintergrund treten lassen, und das Parteitreiben unsrer Tage ist nicht geeignet,
sie zu wecken. Wir brauchen trotzdem die Hoffnung nicht fahren zu lassen, daß
Deutschland in der Stunde der Not oben wie unten auch die richtigen Leute
an der richtigen Stelle haben wird, man muß nur auf allen Seiten den etwas
dünn gewordnen nationalen Faden eifrig weiterspinnen und ihn nicht in
dem wirren Tagesgewebe verlieren. Im Wandelgänge des stolzen Reichs¬
tagsgebäudes steht ja auch der Spruch geschrieben: Erst das Vaterland, dann


vom bürgerlichen Parteiwesen

Frankreich und Italien übertroffen wird, aber sogar noch über Spanien steht,
das weniger Einwohner hat, als Deutschland Katholiken zählt. Solchen noto¬
rischen Verhältnissen müssen der Kaiser und die Regierung Rechnung tragen.

Trotz dieser Sachlage ist freilich die heutige Stellung des Zentrums, die
es infolge seiner Starke und Geschlossenheit inne hat, kein erfreulicher Zustand
für das Reich, das nicht aus Gedanken entsprossen ist, die in dieser Partei
vorherrschen. Aber die bisher gemachten Versuche, die Stellung des Zentrums
zu brechen, haben nur einmal einen Erfolg gehabt: dem Altreichskanzler gelang
es in der großen nationalen Erregung bei den Septennatswahlen von 1887
durch das Kartell. Die Lehre, die sich daraus ergab, ging bald darauf in dem
dem Kanzlerwechsel folgenden politischen Wirrwarr verloren und ist heute nahezu
vergessen, der Wirrwarr ist aber noch da. Anregungen andrer Art, die unter
Umständen auch den Zweck hätten erfüllen können, ein Gegengewicht gegen das
Zentrum zu schaffen, und die den Zusammenschluß aller liberalen Parteien ins
Auge faßten, sind jedesmal gescheitert, weil jeder der Führer an der Neigung
festhielt, sein Bürgerwehrkorps selbst zu kommandieren. So konnte auch aus
der großen liberalen Armee nichts werden, und die Aussichten aus einen Erfolg
auf diesem Wege sind immer geringer geworden, je mehr die weiter links stehenden
Elemente von der Sozialdemokratie aufgesogen worden sind, ein Schicksal, das
ihnen Bismarck vorausgesagt hatte. Bei beiden Möglichkeiten, dem Einfluß des
Zentrums ein Paroli zu bieten, fällt den Nationalliberalen der hauptsächlichste
Anteil zu, und es ist darum geboten, dieser Partei eine eingehendere Betrachtung
zuzuwenden.

Niemand wird der nationalliberalen Partei absprechen, daß sie in der
Geschichte des jungen Deutschen Reichs eine wichtige Rolle gespielt hat, und
es wird ihr auch kein Vorwurf daraus gemacht werden dürfen, daß sie vielleicht
nicht mehr Führer von der Bedeutung eines Bennigsen und Miquel hat. Sie
teilt darin das Schicksal der übrigen Parteien und des gesamten Reichstags.
Den größern Ereignissen vor vierzig Jahren entsprachen auf allen Seiten her¬
vorragendere Persönlichkeiten. So erscheint es wenigstens dem kritischen Be¬
obachter. Dabei ist es aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich auch in der
Gegenwart, wenn eine plötzliche weltgeschichtliche Entscheidung über Deutschland
hereinbrechen sollte, unter den heute nicht in ihrem vollen Wert erkannten
Politikern die Männer finden werden, die große Aufgaben in großem Sinne
aufzufassen verstehen. Die lange Friedenszeit hat die großen Ideen in den
Hintergrund treten lassen, und das Parteitreiben unsrer Tage ist nicht geeignet,
sie zu wecken. Wir brauchen trotzdem die Hoffnung nicht fahren zu lassen, daß
Deutschland in der Stunde der Not oben wie unten auch die richtigen Leute
an der richtigen Stelle haben wird, man muß nur auf allen Seiten den etwas
dünn gewordnen nationalen Faden eifrig weiterspinnen und ihn nicht in
dem wirren Tagesgewebe verlieren. Im Wandelgänge des stolzen Reichs¬
tagsgebäudes steht ja auch der Spruch geschrieben: Erst das Vaterland, dann


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0344" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300843"/>
          <fw type="header" place="top"> vom bürgerlichen Parteiwesen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1438" prev="#ID_1437"> Frankreich und Italien übertroffen wird, aber sogar noch über Spanien steht,<lb/>
das weniger Einwohner hat, als Deutschland Katholiken zählt. Solchen noto¬<lb/>
rischen Verhältnissen müssen der Kaiser und die Regierung Rechnung tragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1439"> Trotz dieser Sachlage ist freilich die heutige Stellung des Zentrums, die<lb/>
es infolge seiner Starke und Geschlossenheit inne hat, kein erfreulicher Zustand<lb/>
für das Reich, das nicht aus Gedanken entsprossen ist, die in dieser Partei<lb/>
vorherrschen. Aber die bisher gemachten Versuche, die Stellung des Zentrums<lb/>
zu brechen, haben nur einmal einen Erfolg gehabt: dem Altreichskanzler gelang<lb/>
es in der großen nationalen Erregung bei den Septennatswahlen von 1887<lb/>
durch das Kartell. Die Lehre, die sich daraus ergab, ging bald darauf in dem<lb/>
dem Kanzlerwechsel folgenden politischen Wirrwarr verloren und ist heute nahezu<lb/>
vergessen, der Wirrwarr ist aber noch da. Anregungen andrer Art, die unter<lb/>
Umständen auch den Zweck hätten erfüllen können, ein Gegengewicht gegen das<lb/>
Zentrum zu schaffen, und die den Zusammenschluß aller liberalen Parteien ins<lb/>
Auge faßten, sind jedesmal gescheitert, weil jeder der Führer an der Neigung<lb/>
festhielt, sein Bürgerwehrkorps selbst zu kommandieren. So konnte auch aus<lb/>
der großen liberalen Armee nichts werden, und die Aussichten aus einen Erfolg<lb/>
auf diesem Wege sind immer geringer geworden, je mehr die weiter links stehenden<lb/>
Elemente von der Sozialdemokratie aufgesogen worden sind, ein Schicksal, das<lb/>
ihnen Bismarck vorausgesagt hatte. Bei beiden Möglichkeiten, dem Einfluß des<lb/>
Zentrums ein Paroli zu bieten, fällt den Nationalliberalen der hauptsächlichste<lb/>
Anteil zu, und es ist darum geboten, dieser Partei eine eingehendere Betrachtung<lb/>
zuzuwenden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1440" next="#ID_1441"> Niemand wird der nationalliberalen Partei absprechen, daß sie in der<lb/>
Geschichte des jungen Deutschen Reichs eine wichtige Rolle gespielt hat, und<lb/>
es wird ihr auch kein Vorwurf daraus gemacht werden dürfen, daß sie vielleicht<lb/>
nicht mehr Führer von der Bedeutung eines Bennigsen und Miquel hat. Sie<lb/>
teilt darin das Schicksal der übrigen Parteien und des gesamten Reichstags.<lb/>
Den größern Ereignissen vor vierzig Jahren entsprachen auf allen Seiten her¬<lb/>
vorragendere Persönlichkeiten. So erscheint es wenigstens dem kritischen Be¬<lb/>
obachter. Dabei ist es aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich auch in der<lb/>
Gegenwart, wenn eine plötzliche weltgeschichtliche Entscheidung über Deutschland<lb/>
hereinbrechen sollte, unter den heute nicht in ihrem vollen Wert erkannten<lb/>
Politikern die Männer finden werden, die große Aufgaben in großem Sinne<lb/>
aufzufassen verstehen. Die lange Friedenszeit hat die großen Ideen in den<lb/>
Hintergrund treten lassen, und das Parteitreiben unsrer Tage ist nicht geeignet,<lb/>
sie zu wecken. Wir brauchen trotzdem die Hoffnung nicht fahren zu lassen, daß<lb/>
Deutschland in der Stunde der Not oben wie unten auch die richtigen Leute<lb/>
an der richtigen Stelle haben wird, man muß nur auf allen Seiten den etwas<lb/>
dünn gewordnen nationalen Faden eifrig weiterspinnen und ihn nicht in<lb/>
dem wirren Tagesgewebe verlieren. Im Wandelgänge des stolzen Reichs¬<lb/>
tagsgebäudes steht ja auch der Spruch geschrieben: Erst das Vaterland, dann</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0344] vom bürgerlichen Parteiwesen Frankreich und Italien übertroffen wird, aber sogar noch über Spanien steht, das weniger Einwohner hat, als Deutschland Katholiken zählt. Solchen noto¬ rischen Verhältnissen müssen der Kaiser und die Regierung Rechnung tragen. Trotz dieser Sachlage ist freilich die heutige Stellung des Zentrums, die es infolge seiner Starke und Geschlossenheit inne hat, kein erfreulicher Zustand für das Reich, das nicht aus Gedanken entsprossen ist, die in dieser Partei vorherrschen. Aber die bisher gemachten Versuche, die Stellung des Zentrums zu brechen, haben nur einmal einen Erfolg gehabt: dem Altreichskanzler gelang es in der großen nationalen Erregung bei den Septennatswahlen von 1887 durch das Kartell. Die Lehre, die sich daraus ergab, ging bald darauf in dem dem Kanzlerwechsel folgenden politischen Wirrwarr verloren und ist heute nahezu vergessen, der Wirrwarr ist aber noch da. Anregungen andrer Art, die unter Umständen auch den Zweck hätten erfüllen können, ein Gegengewicht gegen das Zentrum zu schaffen, und die den Zusammenschluß aller liberalen Parteien ins Auge faßten, sind jedesmal gescheitert, weil jeder der Führer an der Neigung festhielt, sein Bürgerwehrkorps selbst zu kommandieren. So konnte auch aus der großen liberalen Armee nichts werden, und die Aussichten aus einen Erfolg auf diesem Wege sind immer geringer geworden, je mehr die weiter links stehenden Elemente von der Sozialdemokratie aufgesogen worden sind, ein Schicksal, das ihnen Bismarck vorausgesagt hatte. Bei beiden Möglichkeiten, dem Einfluß des Zentrums ein Paroli zu bieten, fällt den Nationalliberalen der hauptsächlichste Anteil zu, und es ist darum geboten, dieser Partei eine eingehendere Betrachtung zuzuwenden. Niemand wird der nationalliberalen Partei absprechen, daß sie in der Geschichte des jungen Deutschen Reichs eine wichtige Rolle gespielt hat, und es wird ihr auch kein Vorwurf daraus gemacht werden dürfen, daß sie vielleicht nicht mehr Führer von der Bedeutung eines Bennigsen und Miquel hat. Sie teilt darin das Schicksal der übrigen Parteien und des gesamten Reichstags. Den größern Ereignissen vor vierzig Jahren entsprachen auf allen Seiten her¬ vorragendere Persönlichkeiten. So erscheint es wenigstens dem kritischen Be¬ obachter. Dabei ist es aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich auch in der Gegenwart, wenn eine plötzliche weltgeschichtliche Entscheidung über Deutschland hereinbrechen sollte, unter den heute nicht in ihrem vollen Wert erkannten Politikern die Männer finden werden, die große Aufgaben in großem Sinne aufzufassen verstehen. Die lange Friedenszeit hat die großen Ideen in den Hintergrund treten lassen, und das Parteitreiben unsrer Tage ist nicht geeignet, sie zu wecken. Wir brauchen trotzdem die Hoffnung nicht fahren zu lassen, daß Deutschland in der Stunde der Not oben wie unten auch die richtigen Leute an der richtigen Stelle haben wird, man muß nur auf allen Seiten den etwas dünn gewordnen nationalen Faden eifrig weiterspinnen und ihn nicht in dem wirren Tagesgewebe verlieren. Im Wandelgänge des stolzen Reichs¬ tagsgebäudes steht ja auch der Spruch geschrieben: Erst das Vaterland, dann

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/344
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/344>, abgerufen am 23.07.2024.