Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.vom bürgerlichen j?arteiwesen schlaggebend im Reichstage geworden und stellt seinen Präsidenten. Das ist eine Man gebe nur der Regierung Gelegenheit, sich einmal auf eine andre Partei¬ vom bürgerlichen j?arteiwesen schlaggebend im Reichstage geworden und stellt seinen Präsidenten. Das ist eine Man gebe nur der Regierung Gelegenheit, sich einmal auf eine andre Partei¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300842"/> <fw type="header" place="top"> vom bürgerlichen j?arteiwesen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1436" prev="#ID_1435"> schlaggebend im Reichstage geworden und stellt seinen Präsidenten. Das ist eine<lb/> unerfreuliche Erscheinung, aber durch Kritisieren, Nörgeln und Anklagen gegen<lb/> die gegenwärtige Reichsregierung wird diese Anomalie nicht aus der Welt ge¬<lb/> schafft. Das Zentrum ist eben heute noch eine Macht, und es ist der Reichs¬<lb/> regierung gar kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie damit rechnet und<lb/> rechnen muß, um so mehr, da die Parteien, wenn es ihnen in den Kram paßt,<lb/> die Macht des Zentrums, in der Regel zu Oppositionszwecken, sehr wohl zu<lb/> benutzen verstehn. Begegnete das Zentrum wirklich so allgemeiner Abneigung,<lb/> wie gewisse Blätter versichern, so würde es freilich der Regierung sehr leicht<lb/> fallen, sich auf die Geschlossenheit der übrigen Parteien zu stützen und „gegen<lb/> das Zentrum zu regieren". Daß die Parteien in ihrer Zerfahrenheit eine solche<lb/> Politik unmöglich machen, braucht kaum noch ausgesprochen zu werden, man<lb/> bringt sie ja nicht einmal immer gegen die Sozialdemokratie zusammen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1437" next="#ID_1438"> Man gebe nur der Regierung Gelegenheit, sich einmal auf eine andre Partei¬<lb/> zusammensetzung zu stützen als auf die heute allein mögliche, und wird dann<lb/> auch zu andern Ergebnissen und zu einer stetigem Politik gelangen. Der in<lb/> der Gegenwart unstreitig verschobne Schwerpunkt im Reichstag kann nur dann<lb/> wieder an die richtige Stelle gerückt werden, wenn entweder das Zentrum zer¬<lb/> trümmert oder ein Gegengewicht im Reichstag selbst hergestellt wird. Außer<lb/> den nun einmal im Reichstag seit Jahren bestehenden Parteiverhältnissen läßt<lb/> man bei den gewohnheitsmäßigen Vorwürfen gegen die Regierung, sie komme<lb/> dem Zentrum zu weit entgegen, auch noch andre tatsächlich bestehende und gar<lb/> nicht vom Willen des Kaisers oder seines Reichskanzlers abhängige Zustände<lb/> im Reiche außer acht. Deutschland ist seit der Reformation in zwei konfessionelle<lb/> Lager geschieden, zwischen denen selten der Kampf geruht hat, da er auf beiden<lb/> Seiten von aufgeregten Heißspornen immer wieder aufgenommen und außer¬<lb/> dem in der Gegenwart von allen kirchenfeindlichen Elementen eifrig geschürt wird.<lb/> Die Bedenklichkeit der Kampfgenossen dieser letzten Art wird dabei gerade von<lb/> den konfessionellen Streitern, denen es ernst um ihre Sache ist, nur zu leicht<lb/> übersehen. Der Unsegen des konfessionellen Haders und die Nachteile für das<lb/> Reich werden zwar auf vielen Seiten erkannt und beklagt, aber es wird doch<lb/> nicht anders. Am meisten freuen sich die Sozialdemokraten darüber, denn sie<lb/> haben den Vorteil davon, wenn sich das Bürgertum konfessioneller Streitig¬<lb/> keiten wegen in den Haaren liegt und hergebrachtermaßen bei dieser Gelegenheit<lb/> auch die Negierung anklagt, indem von der einen Seite behauptet wird, sie<lb/> beuge sich vor dem katholischen Zentrum, und von der andern, sie verletze die<lb/> Parität. Dabei wird öfter die Behauptung ausgesprochen, daß eigentlich<lb/> Preußen, und auch Deutschland, ein protestantisches Land sei, was doch für<lb/> Preußen seit 1815 sicher nicht mehr richtig ist und für das Reich nie gegolten<lb/> hat. Während Preußen zum dritten Teil katholisch ist, hat das Deutsche Reich<lb/> zu zwei Fünfteln katholische Einwohner und ist überhaupt die viertgrößte<lb/> katholische Macht, indem es in der Zahl der Katholiken nur von Österreich,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0343]
vom bürgerlichen j?arteiwesen
schlaggebend im Reichstage geworden und stellt seinen Präsidenten. Das ist eine
unerfreuliche Erscheinung, aber durch Kritisieren, Nörgeln und Anklagen gegen
die gegenwärtige Reichsregierung wird diese Anomalie nicht aus der Welt ge¬
schafft. Das Zentrum ist eben heute noch eine Macht, und es ist der Reichs¬
regierung gar kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie damit rechnet und
rechnen muß, um so mehr, da die Parteien, wenn es ihnen in den Kram paßt,
die Macht des Zentrums, in der Regel zu Oppositionszwecken, sehr wohl zu
benutzen verstehn. Begegnete das Zentrum wirklich so allgemeiner Abneigung,
wie gewisse Blätter versichern, so würde es freilich der Regierung sehr leicht
fallen, sich auf die Geschlossenheit der übrigen Parteien zu stützen und „gegen
das Zentrum zu regieren". Daß die Parteien in ihrer Zerfahrenheit eine solche
Politik unmöglich machen, braucht kaum noch ausgesprochen zu werden, man
bringt sie ja nicht einmal immer gegen die Sozialdemokratie zusammen.
Man gebe nur der Regierung Gelegenheit, sich einmal auf eine andre Partei¬
zusammensetzung zu stützen als auf die heute allein mögliche, und wird dann
auch zu andern Ergebnissen und zu einer stetigem Politik gelangen. Der in
der Gegenwart unstreitig verschobne Schwerpunkt im Reichstag kann nur dann
wieder an die richtige Stelle gerückt werden, wenn entweder das Zentrum zer¬
trümmert oder ein Gegengewicht im Reichstag selbst hergestellt wird. Außer
den nun einmal im Reichstag seit Jahren bestehenden Parteiverhältnissen läßt
man bei den gewohnheitsmäßigen Vorwürfen gegen die Regierung, sie komme
dem Zentrum zu weit entgegen, auch noch andre tatsächlich bestehende und gar
nicht vom Willen des Kaisers oder seines Reichskanzlers abhängige Zustände
im Reiche außer acht. Deutschland ist seit der Reformation in zwei konfessionelle
Lager geschieden, zwischen denen selten der Kampf geruht hat, da er auf beiden
Seiten von aufgeregten Heißspornen immer wieder aufgenommen und außer¬
dem in der Gegenwart von allen kirchenfeindlichen Elementen eifrig geschürt wird.
Die Bedenklichkeit der Kampfgenossen dieser letzten Art wird dabei gerade von
den konfessionellen Streitern, denen es ernst um ihre Sache ist, nur zu leicht
übersehen. Der Unsegen des konfessionellen Haders und die Nachteile für das
Reich werden zwar auf vielen Seiten erkannt und beklagt, aber es wird doch
nicht anders. Am meisten freuen sich die Sozialdemokraten darüber, denn sie
haben den Vorteil davon, wenn sich das Bürgertum konfessioneller Streitig¬
keiten wegen in den Haaren liegt und hergebrachtermaßen bei dieser Gelegenheit
auch die Negierung anklagt, indem von der einen Seite behauptet wird, sie
beuge sich vor dem katholischen Zentrum, und von der andern, sie verletze die
Parität. Dabei wird öfter die Behauptung ausgesprochen, daß eigentlich
Preußen, und auch Deutschland, ein protestantisches Land sei, was doch für
Preußen seit 1815 sicher nicht mehr richtig ist und für das Reich nie gegolten
hat. Während Preußen zum dritten Teil katholisch ist, hat das Deutsche Reich
zu zwei Fünfteln katholische Einwohner und ist überhaupt die viertgrößte
katholische Macht, indem es in der Zahl der Katholiken nur von Österreich,
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