Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur angeblichen Abrüstung

Wie er in der ganzen Natur und in deu Herzen der Menschen besteht." Der
Ausspruch Moltkes dünkt uns klarer, aber manchen Leuten ist vielleicht Proudhon
lieber. Die Abrüstung ist ebenfalls ein bloßer Traum, der in einem bureau¬
kratischen Gehirn entstanden ist. Wer will denn durch Verträge und Anord¬
nungen bestimmen, gegen welche Koalition man sich in zehn oder zwanzig
Jahren zu verteidigen haben wird? Wird in zehn Jahren der Dreibund oder
der Zweibund oder die französisch-englische Freundschaft noch, oder vielleicht ein
europäisches Bündnis gegen Deutschland oder gar der Zusammenschluß der
europäischen Festlandmächte bestehn? Wer weiß das? Und solcher Ungewi߬
heit gegenüber soll sich eine Großmacht einer Theorie zuliebe davon abhalten
lassen, sich so stark zu machen, als es ihre Mittel erlauben? Noch dazu Deutsch¬
land, das mitten im Weltteil liegt und in die Lage kommen kann, sich zu Lande
und zu Wasser nach allen Seiten zugleich wehren zu müssen? Sollen wir
uns durch Wahnvorstellungen von allgemeiner Abrüstung und dem goldnen
Zeitalter des ewigen Friedens einlullen lassen zu einer Stunde, in der es alleu
Sehenden klar ist, daß die Mächte, die überhaupt in der Weltpolitik in Frage
kommen, für die nahenden Entscheidungen gerüstet haben in einem Umfange,
den frühere Jahrhunderte gar nicht gekannt haben? Daß Rußland infolge
seiner Niederlage vorläufig gewissermaßen außer Gefecht gesetzt ist, vereinfacht
nicht etwa die Sachlage, sondern verschlimmert sie vielmehr dadurch, daß Eng¬
land freiere Hand bekommen hat.

England und Frankreich sind mit ihren Rüstungen fertig, das heißt, sie
sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, England wegen seines
Werbesystems, Frankreich infolge seiner geringen Volksvermehrung. England
kann zwar für sein schweres Geld noch stärkere und verbesserte Kriegsschiffe
bauen, aber es vermag nicht mehr, sie frisch zu bemannen, und Frankreich könnte
höchstens seine Flotte verstärken, wenn es die vierten Bataillone des Land¬
heeres vollständig wieder abschaffte. Deutschland hat dagegen noch Mann¬
schaften die Hülle und Fülle, mit denen es seine Secstreitkräfte vermehren kann,
soweit es seine Geldmittel erlauben. Daran liegt aber natürlich England und
Frankreich sehr wenig, und man begreift daraus, warum von dort aus auf
einmal Abrüstungsfanfaren ertönen, die ihnen nichts mehr schaden können, aber
Deutschlands Bestrebungen, seinen Welthandel durch eine stärkere Flotte zu
schützen, ins Stocken bringen oder wenigstens in den Augen der urteilslosen
Mehrheit zu verdächtigen vermögen. Die neue liberale Regierung in England,
deren Traditionen ihr das erlauben, hat damit angefangen, und in Frankreich,
wo der ministerielle Teinps zu Aufang die ganz treffende Bemerkung gemacht
hatte, England leiste sich damit nur eine "friedliche Geste" ohne ernstliche Kon¬
sequenzen und ohne Risiko, erkannte man bald den frommen Zweck der neuen
Wendung, lenkte ein, und nun wird von beiden Seiten aus das böse Deutsch-
land hingedeutet, das mit seinen Flottenplänen den Weltfrieden stören wolle.
Um die zweifelsüchtige Welt jedoch von dem "Ernst" der friedlichen Absichten


Zur angeblichen Abrüstung

Wie er in der ganzen Natur und in deu Herzen der Menschen besteht." Der
Ausspruch Moltkes dünkt uns klarer, aber manchen Leuten ist vielleicht Proudhon
lieber. Die Abrüstung ist ebenfalls ein bloßer Traum, der in einem bureau¬
kratischen Gehirn entstanden ist. Wer will denn durch Verträge und Anord¬
nungen bestimmen, gegen welche Koalition man sich in zehn oder zwanzig
Jahren zu verteidigen haben wird? Wird in zehn Jahren der Dreibund oder
der Zweibund oder die französisch-englische Freundschaft noch, oder vielleicht ein
europäisches Bündnis gegen Deutschland oder gar der Zusammenschluß der
europäischen Festlandmächte bestehn? Wer weiß das? Und solcher Ungewi߬
heit gegenüber soll sich eine Großmacht einer Theorie zuliebe davon abhalten
lassen, sich so stark zu machen, als es ihre Mittel erlauben? Noch dazu Deutsch¬
land, das mitten im Weltteil liegt und in die Lage kommen kann, sich zu Lande
und zu Wasser nach allen Seiten zugleich wehren zu müssen? Sollen wir
uns durch Wahnvorstellungen von allgemeiner Abrüstung und dem goldnen
Zeitalter des ewigen Friedens einlullen lassen zu einer Stunde, in der es alleu
Sehenden klar ist, daß die Mächte, die überhaupt in der Weltpolitik in Frage
kommen, für die nahenden Entscheidungen gerüstet haben in einem Umfange,
den frühere Jahrhunderte gar nicht gekannt haben? Daß Rußland infolge
seiner Niederlage vorläufig gewissermaßen außer Gefecht gesetzt ist, vereinfacht
nicht etwa die Sachlage, sondern verschlimmert sie vielmehr dadurch, daß Eng¬
land freiere Hand bekommen hat.

England und Frankreich sind mit ihren Rüstungen fertig, das heißt, sie
sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, England wegen seines
Werbesystems, Frankreich infolge seiner geringen Volksvermehrung. England
kann zwar für sein schweres Geld noch stärkere und verbesserte Kriegsschiffe
bauen, aber es vermag nicht mehr, sie frisch zu bemannen, und Frankreich könnte
höchstens seine Flotte verstärken, wenn es die vierten Bataillone des Land¬
heeres vollständig wieder abschaffte. Deutschland hat dagegen noch Mann¬
schaften die Hülle und Fülle, mit denen es seine Secstreitkräfte vermehren kann,
soweit es seine Geldmittel erlauben. Daran liegt aber natürlich England und
Frankreich sehr wenig, und man begreift daraus, warum von dort aus auf
einmal Abrüstungsfanfaren ertönen, die ihnen nichts mehr schaden können, aber
Deutschlands Bestrebungen, seinen Welthandel durch eine stärkere Flotte zu
schützen, ins Stocken bringen oder wenigstens in den Augen der urteilslosen
Mehrheit zu verdächtigen vermögen. Die neue liberale Regierung in England,
deren Traditionen ihr das erlauben, hat damit angefangen, und in Frankreich,
wo der ministerielle Teinps zu Aufang die ganz treffende Bemerkung gemacht
hatte, England leiste sich damit nur eine „friedliche Geste" ohne ernstliche Kon¬
sequenzen und ohne Risiko, erkannte man bald den frommen Zweck der neuen
Wendung, lenkte ein, und nun wird von beiden Seiten aus das böse Deutsch-
land hingedeutet, das mit seinen Flottenplänen den Weltfrieden stören wolle.
Um die zweifelsüchtige Welt jedoch von dem „Ernst" der friedlichen Absichten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0296" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300795"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur angeblichen Abrüstung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1236" prev="#ID_1235"> Wie er in der ganzen Natur und in deu Herzen der Menschen besteht." Der<lb/>
Ausspruch Moltkes dünkt uns klarer, aber manchen Leuten ist vielleicht Proudhon<lb/>
lieber. Die Abrüstung ist ebenfalls ein bloßer Traum, der in einem bureau¬<lb/>
kratischen Gehirn entstanden ist. Wer will denn durch Verträge und Anord¬<lb/>
nungen bestimmen, gegen welche Koalition man sich in zehn oder zwanzig<lb/>
Jahren zu verteidigen haben wird? Wird in zehn Jahren der Dreibund oder<lb/>
der Zweibund oder die französisch-englische Freundschaft noch, oder vielleicht ein<lb/>
europäisches Bündnis gegen Deutschland oder gar der Zusammenschluß der<lb/>
europäischen Festlandmächte bestehn? Wer weiß das? Und solcher Ungewi߬<lb/>
heit gegenüber soll sich eine Großmacht einer Theorie zuliebe davon abhalten<lb/>
lassen, sich so stark zu machen, als es ihre Mittel erlauben? Noch dazu Deutsch¬<lb/>
land, das mitten im Weltteil liegt und in die Lage kommen kann, sich zu Lande<lb/>
und zu Wasser nach allen Seiten zugleich wehren zu müssen? Sollen wir<lb/>
uns durch Wahnvorstellungen von allgemeiner Abrüstung und dem goldnen<lb/>
Zeitalter des ewigen Friedens einlullen lassen zu einer Stunde, in der es alleu<lb/>
Sehenden klar ist, daß die Mächte, die überhaupt in der Weltpolitik in Frage<lb/>
kommen, für die nahenden Entscheidungen gerüstet haben in einem Umfange,<lb/>
den frühere Jahrhunderte gar nicht gekannt haben? Daß Rußland infolge<lb/>
seiner Niederlage vorläufig gewissermaßen außer Gefecht gesetzt ist, vereinfacht<lb/>
nicht etwa die Sachlage, sondern verschlimmert sie vielmehr dadurch, daß Eng¬<lb/>
land freiere Hand bekommen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1237" next="#ID_1238"> England und Frankreich sind mit ihren Rüstungen fertig, das heißt, sie<lb/>
sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, England wegen seines<lb/>
Werbesystems, Frankreich infolge seiner geringen Volksvermehrung. England<lb/>
kann zwar für sein schweres Geld noch stärkere und verbesserte Kriegsschiffe<lb/>
bauen, aber es vermag nicht mehr, sie frisch zu bemannen, und Frankreich könnte<lb/>
höchstens seine Flotte verstärken, wenn es die vierten Bataillone des Land¬<lb/>
heeres vollständig wieder abschaffte. Deutschland hat dagegen noch Mann¬<lb/>
schaften die Hülle und Fülle, mit denen es seine Secstreitkräfte vermehren kann,<lb/>
soweit es seine Geldmittel erlauben. Daran liegt aber natürlich England und<lb/>
Frankreich sehr wenig, und man begreift daraus, warum von dort aus auf<lb/>
einmal Abrüstungsfanfaren ertönen, die ihnen nichts mehr schaden können, aber<lb/>
Deutschlands Bestrebungen, seinen Welthandel durch eine stärkere Flotte zu<lb/>
schützen, ins Stocken bringen oder wenigstens in den Augen der urteilslosen<lb/>
Mehrheit zu verdächtigen vermögen. Die neue liberale Regierung in England,<lb/>
deren Traditionen ihr das erlauben, hat damit angefangen, und in Frankreich,<lb/>
wo der ministerielle Teinps zu Aufang die ganz treffende Bemerkung gemacht<lb/>
hatte, England leiste sich damit nur eine &#x201E;friedliche Geste" ohne ernstliche Kon¬<lb/>
sequenzen und ohne Risiko, erkannte man bald den frommen Zweck der neuen<lb/>
Wendung, lenkte ein, und nun wird von beiden Seiten aus das böse Deutsch-<lb/>
land hingedeutet, das mit seinen Flottenplänen den Weltfrieden stören wolle.<lb/>
Um die zweifelsüchtige Welt jedoch von dem &#x201E;Ernst" der friedlichen Absichten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0296] Zur angeblichen Abrüstung Wie er in der ganzen Natur und in deu Herzen der Menschen besteht." Der Ausspruch Moltkes dünkt uns klarer, aber manchen Leuten ist vielleicht Proudhon lieber. Die Abrüstung ist ebenfalls ein bloßer Traum, der in einem bureau¬ kratischen Gehirn entstanden ist. Wer will denn durch Verträge und Anord¬ nungen bestimmen, gegen welche Koalition man sich in zehn oder zwanzig Jahren zu verteidigen haben wird? Wird in zehn Jahren der Dreibund oder der Zweibund oder die französisch-englische Freundschaft noch, oder vielleicht ein europäisches Bündnis gegen Deutschland oder gar der Zusammenschluß der europäischen Festlandmächte bestehn? Wer weiß das? Und solcher Ungewi߬ heit gegenüber soll sich eine Großmacht einer Theorie zuliebe davon abhalten lassen, sich so stark zu machen, als es ihre Mittel erlauben? Noch dazu Deutsch¬ land, das mitten im Weltteil liegt und in die Lage kommen kann, sich zu Lande und zu Wasser nach allen Seiten zugleich wehren zu müssen? Sollen wir uns durch Wahnvorstellungen von allgemeiner Abrüstung und dem goldnen Zeitalter des ewigen Friedens einlullen lassen zu einer Stunde, in der es alleu Sehenden klar ist, daß die Mächte, die überhaupt in der Weltpolitik in Frage kommen, für die nahenden Entscheidungen gerüstet haben in einem Umfange, den frühere Jahrhunderte gar nicht gekannt haben? Daß Rußland infolge seiner Niederlage vorläufig gewissermaßen außer Gefecht gesetzt ist, vereinfacht nicht etwa die Sachlage, sondern verschlimmert sie vielmehr dadurch, daß Eng¬ land freiere Hand bekommen hat. England und Frankreich sind mit ihren Rüstungen fertig, das heißt, sie sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, England wegen seines Werbesystems, Frankreich infolge seiner geringen Volksvermehrung. England kann zwar für sein schweres Geld noch stärkere und verbesserte Kriegsschiffe bauen, aber es vermag nicht mehr, sie frisch zu bemannen, und Frankreich könnte höchstens seine Flotte verstärken, wenn es die vierten Bataillone des Land¬ heeres vollständig wieder abschaffte. Deutschland hat dagegen noch Mann¬ schaften die Hülle und Fülle, mit denen es seine Secstreitkräfte vermehren kann, soweit es seine Geldmittel erlauben. Daran liegt aber natürlich England und Frankreich sehr wenig, und man begreift daraus, warum von dort aus auf einmal Abrüstungsfanfaren ertönen, die ihnen nichts mehr schaden können, aber Deutschlands Bestrebungen, seinen Welthandel durch eine stärkere Flotte zu schützen, ins Stocken bringen oder wenigstens in den Augen der urteilslosen Mehrheit zu verdächtigen vermögen. Die neue liberale Regierung in England, deren Traditionen ihr das erlauben, hat damit angefangen, und in Frankreich, wo der ministerielle Teinps zu Aufang die ganz treffende Bemerkung gemacht hatte, England leiste sich damit nur eine „friedliche Geste" ohne ernstliche Kon¬ sequenzen und ohne Risiko, erkannte man bald den frommen Zweck der neuen Wendung, lenkte ein, und nun wird von beiden Seiten aus das böse Deutsch- land hingedeutet, das mit seinen Flottenplänen den Weltfrieden stören wolle. Um die zweifelsüchtige Welt jedoch von dem „Ernst" der friedlichen Absichten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/296
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/296>, abgerufen am 23.07.2024.