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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Aulturbilder aus den Balkanstaaten

Die Vorliebe für die Bezeichnung "Boulevard", die auch in Sofia üblich
ist und auch in Athen üblich war, sich aber hier nicht gehalten hat, verrät
den herrschenden französischen Einfluß, der in den Balkanstädten von jeher
sehr groß war. In Athen erinnern noch daran die Namen der beiden Haupt-
vlätze, des Verfassungsplatzes und des Eintrachtsplatzes (nach den Pariser
Place de la Constitution und de la Concorde), ferner Namen von Straßen wie
Victor-Hugostraße, Chateaubriand-, Bemngerstraße.

In seltsamem Kontrast hierzu steht die auf den rumänischen und besonders
auf den griechischen Ahnenstolz zurückzuführende Benennung von Straßen nach
antiken "Vorfahren". In Bukarest ist das noch zu ertragen; hier hat man
sich wenigstens auf die um das alte Dakien verdienten römischen Kaiser be¬
schränkt, wie Trajan, Vespasian und andre. In Athen aber wird dieses
Kokettieren mit dem Altertum lächerlich, und der praktische Zweck illusorisch:
denn nicht nur, daß die erbärmlichsten Gassen oft die hochtrabendsten Namen
tragen, wie Miltiades-, Praxiteles-, Agesilaos-, Periklesstraße, sondern der
einfache Mann kann sich diese Namen gar nicht merken, sodaß man oft ver¬
gebens nach einer Straße fragt, die ganz in der Nähe ist; oft nimmt das
Volk selbst eine Korrektur vor: so wird zum Beispiel die Lykabettosstraße, in
der die Post liegt, fast allgemein Poststraße genannt, weil es natürlich wichtiger
ist, zu wissen, daß sie zur Post, als daß sie zum Lykabettos führt, dessen
antiken Namen übrigens nur der Gebildete kennt.

Derselbe Klassizismus herrscht auch in dem Charakter der öffentlichen
Bauten. Vergleicht man zum Beispiel die öffentlichen Gebäude von Athen
einerseits und Bukarest, Sofia und Belgrad andrerseits, so findet man in
allen Städten das Bestreben nach äußerer Prachtentfaltung, die Freude an
monumentalen Formen; es fallen aber dem vergleichenden Beobachter sofort
zwei wesentliche Unterschiede auf: während zunächst die Städte des nördlichen
Balkans (Bukarest, Belgrad, Sofia) ihre offiziellen Gebäude mit Vorliebe in
den Stil der italienischen oder der französischen Renaissance oder der "Moderne"
kleiden, sucht Athen seine klassischen Traditionen durch die Anwendung eines
möglichst reinen, freilich mehr dem alexandrinischen Klassizismus als der
perikleischen Klassik gleichenden Stil in seiner Architektur zu wahren. Inter¬
essanter ist es zu fragen, auf welche Art von öffentlichen Gebäuden sich das
Monumentale zum Beispiel in Bukarest erstreckt, und auf welche in Athen.
In Bukarest sind die schönsten Bauten: der neue Justizpalast, die neue Haupt¬
post, die Depositen- und Versicherungskasse (vielleicht das schönste moderne
Gebäude), die Nationalbank, das Domünenministerium, das Athenäum (Aus¬
stellungsgebäude). In Athen sind es folgende: die Universität, die Akademie
der Wissenschaften, die neue Nationalbibliothek, das Nationalmuseum, das
Polytechnikum und das Parlament. Das heißt also: die bedeutendsten Bauten
von Bukarest -- und dasselbe gilt von Sofia und Belgrad -- dienen prak¬
tisch-sozialen, die von Athen wissenschaftlichen und repräsentativen Zwecken.

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Aulturbilder aus den Balkanstaaten

Die Vorliebe für die Bezeichnung „Boulevard", die auch in Sofia üblich
ist und auch in Athen üblich war, sich aber hier nicht gehalten hat, verrät
den herrschenden französischen Einfluß, der in den Balkanstädten von jeher
sehr groß war. In Athen erinnern noch daran die Namen der beiden Haupt-
vlätze, des Verfassungsplatzes und des Eintrachtsplatzes (nach den Pariser
Place de la Constitution und de la Concorde), ferner Namen von Straßen wie
Victor-Hugostraße, Chateaubriand-, Bemngerstraße.

In seltsamem Kontrast hierzu steht die auf den rumänischen und besonders
auf den griechischen Ahnenstolz zurückzuführende Benennung von Straßen nach
antiken „Vorfahren". In Bukarest ist das noch zu ertragen; hier hat man
sich wenigstens auf die um das alte Dakien verdienten römischen Kaiser be¬
schränkt, wie Trajan, Vespasian und andre. In Athen aber wird dieses
Kokettieren mit dem Altertum lächerlich, und der praktische Zweck illusorisch:
denn nicht nur, daß die erbärmlichsten Gassen oft die hochtrabendsten Namen
tragen, wie Miltiades-, Praxiteles-, Agesilaos-, Periklesstraße, sondern der
einfache Mann kann sich diese Namen gar nicht merken, sodaß man oft ver¬
gebens nach einer Straße fragt, die ganz in der Nähe ist; oft nimmt das
Volk selbst eine Korrektur vor: so wird zum Beispiel die Lykabettosstraße, in
der die Post liegt, fast allgemein Poststraße genannt, weil es natürlich wichtiger
ist, zu wissen, daß sie zur Post, als daß sie zum Lykabettos führt, dessen
antiken Namen übrigens nur der Gebildete kennt.

Derselbe Klassizismus herrscht auch in dem Charakter der öffentlichen
Bauten. Vergleicht man zum Beispiel die öffentlichen Gebäude von Athen
einerseits und Bukarest, Sofia und Belgrad andrerseits, so findet man in
allen Städten das Bestreben nach äußerer Prachtentfaltung, die Freude an
monumentalen Formen; es fallen aber dem vergleichenden Beobachter sofort
zwei wesentliche Unterschiede auf: während zunächst die Städte des nördlichen
Balkans (Bukarest, Belgrad, Sofia) ihre offiziellen Gebäude mit Vorliebe in
den Stil der italienischen oder der französischen Renaissance oder der „Moderne"
kleiden, sucht Athen seine klassischen Traditionen durch die Anwendung eines
möglichst reinen, freilich mehr dem alexandrinischen Klassizismus als der
perikleischen Klassik gleichenden Stil in seiner Architektur zu wahren. Inter¬
essanter ist es zu fragen, auf welche Art von öffentlichen Gebäuden sich das
Monumentale zum Beispiel in Bukarest erstreckt, und auf welche in Athen.
In Bukarest sind die schönsten Bauten: der neue Justizpalast, die neue Haupt¬
post, die Depositen- und Versicherungskasse (vielleicht das schönste moderne
Gebäude), die Nationalbank, das Domünenministerium, das Athenäum (Aus¬
stellungsgebäude). In Athen sind es folgende: die Universität, die Akademie
der Wissenschaften, die neue Nationalbibliothek, das Nationalmuseum, das
Polytechnikum und das Parlament. Das heißt also: die bedeutendsten Bauten
von Bukarest — und dasselbe gilt von Sofia und Belgrad — dienen prak¬
tisch-sozialen, die von Athen wissenschaftlichen und repräsentativen Zwecken.

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[0264] Aulturbilder aus den Balkanstaaten Die Vorliebe für die Bezeichnung „Boulevard", die auch in Sofia üblich ist und auch in Athen üblich war, sich aber hier nicht gehalten hat, verrät den herrschenden französischen Einfluß, der in den Balkanstädten von jeher sehr groß war. In Athen erinnern noch daran die Namen der beiden Haupt- vlätze, des Verfassungsplatzes und des Eintrachtsplatzes (nach den Pariser Place de la Constitution und de la Concorde), ferner Namen von Straßen wie Victor-Hugostraße, Chateaubriand-, Bemngerstraße. In seltsamem Kontrast hierzu steht die auf den rumänischen und besonders auf den griechischen Ahnenstolz zurückzuführende Benennung von Straßen nach antiken „Vorfahren". In Bukarest ist das noch zu ertragen; hier hat man sich wenigstens auf die um das alte Dakien verdienten römischen Kaiser be¬ schränkt, wie Trajan, Vespasian und andre. In Athen aber wird dieses Kokettieren mit dem Altertum lächerlich, und der praktische Zweck illusorisch: denn nicht nur, daß die erbärmlichsten Gassen oft die hochtrabendsten Namen tragen, wie Miltiades-, Praxiteles-, Agesilaos-, Periklesstraße, sondern der einfache Mann kann sich diese Namen gar nicht merken, sodaß man oft ver¬ gebens nach einer Straße fragt, die ganz in der Nähe ist; oft nimmt das Volk selbst eine Korrektur vor: so wird zum Beispiel die Lykabettosstraße, in der die Post liegt, fast allgemein Poststraße genannt, weil es natürlich wichtiger ist, zu wissen, daß sie zur Post, als daß sie zum Lykabettos führt, dessen antiken Namen übrigens nur der Gebildete kennt. Derselbe Klassizismus herrscht auch in dem Charakter der öffentlichen Bauten. Vergleicht man zum Beispiel die öffentlichen Gebäude von Athen einerseits und Bukarest, Sofia und Belgrad andrerseits, so findet man in allen Städten das Bestreben nach äußerer Prachtentfaltung, die Freude an monumentalen Formen; es fallen aber dem vergleichenden Beobachter sofort zwei wesentliche Unterschiede auf: während zunächst die Städte des nördlichen Balkans (Bukarest, Belgrad, Sofia) ihre offiziellen Gebäude mit Vorliebe in den Stil der italienischen oder der französischen Renaissance oder der „Moderne" kleiden, sucht Athen seine klassischen Traditionen durch die Anwendung eines möglichst reinen, freilich mehr dem alexandrinischen Klassizismus als der perikleischen Klassik gleichenden Stil in seiner Architektur zu wahren. Inter¬ essanter ist es zu fragen, auf welche Art von öffentlichen Gebäuden sich das Monumentale zum Beispiel in Bukarest erstreckt, und auf welche in Athen. In Bukarest sind die schönsten Bauten: der neue Justizpalast, die neue Haupt¬ post, die Depositen- und Versicherungskasse (vielleicht das schönste moderne Gebäude), die Nationalbank, das Domünenministerium, das Athenäum (Aus¬ stellungsgebäude). In Athen sind es folgende: die Universität, die Akademie der Wissenschaften, die neue Nationalbibliothek, das Nationalmuseum, das Polytechnikum und das Parlament. Das heißt also: die bedeutendsten Bauten von Bukarest — und dasselbe gilt von Sofia und Belgrad — dienen prak¬ tisch-sozialen, die von Athen wissenschaftlichen und repräsentativen Zwecken. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/264>, abgerufen am 01.07.2024.