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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

freie Großrußland zu überschwemmen. Auch wenn die Alliance Israelite Hunderte
von Millionen aufbringen würde -- wie befürchtet wird --, um die Juden des
Ansiedlungsrayons zu mobilisieren, würde sich die Übersiedlung erst im Laufe
vieler Jahrzehnte vollziehen können. Das Volk ist so beispiellos arm, daß der
Wert des Besitztums einer Familie in den meisten Fällen kaum zehn Rubel
erreicht! In ein Nichts aber müßte er zerfließen, sollte der Versuch gemacht
werden, diesen Wert für größere Teile der Bevölkerung zu realisieren. Die ganze
Existenz der Juden beruht auf ihren Beziehungen an dem Ort, wo sie seit Jahr¬
hunderten angesessen sind, und wo sie einander in wirtschaftlicher und sozialer
Beziehung helfen können. Herausgerissen aus diesen Verhältnissen ist das Gros
von ihnen ohne bedeutende, lange Zeit hindurch gewährte materielle und
moralische Unterstützungen unfähig, eine selbständige Existenz zu führen. Der
beste Beweis für die Nichtigkeit dieser Behauptung wird von den Juden selbst
erbracht. Überall, wo sie hinkommen, klebe" sie sofort zusammen und trachten
danach, fast genau unter den gleichen Verhältnissen weiter zu leben, aus denen
sie der Auswanderungsagent oder die jüdische Kolonialgesellschaft herausgeholt
hat. Es sei nur an Whitechavel in London erinnert. Das Stadtviertel ist eine
getreue Kopie des Judeuviertels zu Warschau, und man wird unmöglich be¬
haupten können, daß die Schuld dafür die englische Negierung träfe. Denn irgend¬
ein Zwang wie in Rußland wird gegen die Juden in England nicht angewandt.
Ähnliche Vorgänge werden in Palästina und in Argentinien beobachtet. Dort
angesiedelte Kolonisten vermögen sich infolge ihres geistigen Tiefstandes nicht
einzeln zu erhalten. Solcher und ähnlicher Argumente scheint sich die russische
Negierung bewußt zu sein. Ihre Vertreter verschanzen sich auch heute uoch hinter
der Notwendigkeit, die Juden vor dem russischen Antisemitismus "schützen" zu
müssen, das aber sei einzig durch Isolierung möglich. Hier liegt unbedingt ein
Fehlschluß vor. Bisher hat sich die Regierung nicht befähigt erwiesen, die
Juden durch die sie absondernden Gesetze zu schützen, hat sogar bedeutend zur
Demoralisation der die Gesetze ausübenden Beamten beigetragen, indem sie die
Bestechung großzog und die Kräfte der Staatsgewalt somit zwecklos vergeudete.
Wenn sie also fortgesetzt auf ihre vermeintliche Aufgabe den Juden gegenüber
hinweist, erschwert sie sich diese unnütz, vergrößert sich selbst die Verantwort¬
lichkeit und macht ihre Lage vor der Welt noch schwieriger, als sie schon ist.
Sie sollte nur deu Mut haben und die Juden dem Schutze der Gesellschaft über¬
lassen. Dann würden auch die vorkommenden Metzeleien nicht ihr zur Last
gelegt werden können, sondern dem russischen Volk. Nach einer Judenemanzipation
werden aber zweifellos Judenhetzen in größerm Umfange hervorbrechen. Der
russische Kaufmann und Beamte ist Antisemit, während der Bauer fremdeu-
feindlich und somit ebenfalls ohne weiteres Antisemit ist. Möge doch die russische
Regierung gerade die einmal dem russischen Volkswillen überlassen, die davon
als Oswoboshdjence und Sozialdemokraten fortgesetzt als von etwas "Erhabnen"
faseln; ich glaube, sie würden auf ewig geheilt sein von ihrer Verehrung für


Russische Briefe

freie Großrußland zu überschwemmen. Auch wenn die Alliance Israelite Hunderte
von Millionen aufbringen würde — wie befürchtet wird —, um die Juden des
Ansiedlungsrayons zu mobilisieren, würde sich die Übersiedlung erst im Laufe
vieler Jahrzehnte vollziehen können. Das Volk ist so beispiellos arm, daß der
Wert des Besitztums einer Familie in den meisten Fällen kaum zehn Rubel
erreicht! In ein Nichts aber müßte er zerfließen, sollte der Versuch gemacht
werden, diesen Wert für größere Teile der Bevölkerung zu realisieren. Die ganze
Existenz der Juden beruht auf ihren Beziehungen an dem Ort, wo sie seit Jahr¬
hunderten angesessen sind, und wo sie einander in wirtschaftlicher und sozialer
Beziehung helfen können. Herausgerissen aus diesen Verhältnissen ist das Gros
von ihnen ohne bedeutende, lange Zeit hindurch gewährte materielle und
moralische Unterstützungen unfähig, eine selbständige Existenz zu führen. Der
beste Beweis für die Nichtigkeit dieser Behauptung wird von den Juden selbst
erbracht. Überall, wo sie hinkommen, klebe» sie sofort zusammen und trachten
danach, fast genau unter den gleichen Verhältnissen weiter zu leben, aus denen
sie der Auswanderungsagent oder die jüdische Kolonialgesellschaft herausgeholt
hat. Es sei nur an Whitechavel in London erinnert. Das Stadtviertel ist eine
getreue Kopie des Judeuviertels zu Warschau, und man wird unmöglich be¬
haupten können, daß die Schuld dafür die englische Negierung träfe. Denn irgend¬
ein Zwang wie in Rußland wird gegen die Juden in England nicht angewandt.
Ähnliche Vorgänge werden in Palästina und in Argentinien beobachtet. Dort
angesiedelte Kolonisten vermögen sich infolge ihres geistigen Tiefstandes nicht
einzeln zu erhalten. Solcher und ähnlicher Argumente scheint sich die russische
Negierung bewußt zu sein. Ihre Vertreter verschanzen sich auch heute uoch hinter
der Notwendigkeit, die Juden vor dem russischen Antisemitismus „schützen" zu
müssen, das aber sei einzig durch Isolierung möglich. Hier liegt unbedingt ein
Fehlschluß vor. Bisher hat sich die Regierung nicht befähigt erwiesen, die
Juden durch die sie absondernden Gesetze zu schützen, hat sogar bedeutend zur
Demoralisation der die Gesetze ausübenden Beamten beigetragen, indem sie die
Bestechung großzog und die Kräfte der Staatsgewalt somit zwecklos vergeudete.
Wenn sie also fortgesetzt auf ihre vermeintliche Aufgabe den Juden gegenüber
hinweist, erschwert sie sich diese unnütz, vergrößert sich selbst die Verantwort¬
lichkeit und macht ihre Lage vor der Welt noch schwieriger, als sie schon ist.
Sie sollte nur deu Mut haben und die Juden dem Schutze der Gesellschaft über¬
lassen. Dann würden auch die vorkommenden Metzeleien nicht ihr zur Last
gelegt werden können, sondern dem russischen Volk. Nach einer Judenemanzipation
werden aber zweifellos Judenhetzen in größerm Umfange hervorbrechen. Der
russische Kaufmann und Beamte ist Antisemit, während der Bauer fremdeu-
feindlich und somit ebenfalls ohne weiteres Antisemit ist. Möge doch die russische
Regierung gerade die einmal dem russischen Volkswillen überlassen, die davon
als Oswoboshdjence und Sozialdemokraten fortgesetzt als von etwas „Erhabnen"
faseln; ich glaube, sie würden auf ewig geheilt sein von ihrer Verehrung für


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[0132] Russische Briefe freie Großrußland zu überschwemmen. Auch wenn die Alliance Israelite Hunderte von Millionen aufbringen würde — wie befürchtet wird —, um die Juden des Ansiedlungsrayons zu mobilisieren, würde sich die Übersiedlung erst im Laufe vieler Jahrzehnte vollziehen können. Das Volk ist so beispiellos arm, daß der Wert des Besitztums einer Familie in den meisten Fällen kaum zehn Rubel erreicht! In ein Nichts aber müßte er zerfließen, sollte der Versuch gemacht werden, diesen Wert für größere Teile der Bevölkerung zu realisieren. Die ganze Existenz der Juden beruht auf ihren Beziehungen an dem Ort, wo sie seit Jahr¬ hunderten angesessen sind, und wo sie einander in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung helfen können. Herausgerissen aus diesen Verhältnissen ist das Gros von ihnen ohne bedeutende, lange Zeit hindurch gewährte materielle und moralische Unterstützungen unfähig, eine selbständige Existenz zu führen. Der beste Beweis für die Nichtigkeit dieser Behauptung wird von den Juden selbst erbracht. Überall, wo sie hinkommen, klebe» sie sofort zusammen und trachten danach, fast genau unter den gleichen Verhältnissen weiter zu leben, aus denen sie der Auswanderungsagent oder die jüdische Kolonialgesellschaft herausgeholt hat. Es sei nur an Whitechavel in London erinnert. Das Stadtviertel ist eine getreue Kopie des Judeuviertels zu Warschau, und man wird unmöglich be¬ haupten können, daß die Schuld dafür die englische Negierung träfe. Denn irgend¬ ein Zwang wie in Rußland wird gegen die Juden in England nicht angewandt. Ähnliche Vorgänge werden in Palästina und in Argentinien beobachtet. Dort angesiedelte Kolonisten vermögen sich infolge ihres geistigen Tiefstandes nicht einzeln zu erhalten. Solcher und ähnlicher Argumente scheint sich die russische Negierung bewußt zu sein. Ihre Vertreter verschanzen sich auch heute uoch hinter der Notwendigkeit, die Juden vor dem russischen Antisemitismus „schützen" zu müssen, das aber sei einzig durch Isolierung möglich. Hier liegt unbedingt ein Fehlschluß vor. Bisher hat sich die Regierung nicht befähigt erwiesen, die Juden durch die sie absondernden Gesetze zu schützen, hat sogar bedeutend zur Demoralisation der die Gesetze ausübenden Beamten beigetragen, indem sie die Bestechung großzog und die Kräfte der Staatsgewalt somit zwecklos vergeudete. Wenn sie also fortgesetzt auf ihre vermeintliche Aufgabe den Juden gegenüber hinweist, erschwert sie sich diese unnütz, vergrößert sich selbst die Verantwort¬ lichkeit und macht ihre Lage vor der Welt noch schwieriger, als sie schon ist. Sie sollte nur deu Mut haben und die Juden dem Schutze der Gesellschaft über¬ lassen. Dann würden auch die vorkommenden Metzeleien nicht ihr zur Last gelegt werden können, sondern dem russischen Volk. Nach einer Judenemanzipation werden aber zweifellos Judenhetzen in größerm Umfange hervorbrechen. Der russische Kaufmann und Beamte ist Antisemit, während der Bauer fremdeu- feindlich und somit ebenfalls ohne weiteres Antisemit ist. Möge doch die russische Regierung gerade die einmal dem russischen Volkswillen überlassen, die davon als Oswoboshdjence und Sozialdemokraten fortgesetzt als von etwas „Erhabnen" faseln; ich glaube, sie würden auf ewig geheilt sein von ihrer Verehrung für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/132>, abgerufen am 23.07.2024.