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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briese

den "heiligen Willen" eines so ungebildeten Volkes. Einzig in den gebildeten
Klassen bei der Intelligenz finden wir im Zusammenhang mit ihrer Sympathie
für Westeuropa überhaupt Philosemiten. Diese Philosemiten sind es, deren
Eitelkeit durch die Nichtaufhebnng der Judengesetze getroffen wurde. Die russische
Regierung übersah, daß die russische Intelligenz und die Juden eine verbündete
Macht waren, und daß im Russen eine angeborne Dankbarkeit schlummert, die
gerade in den gebildeten Kreisen einen bewunderungswürdigen Edelsinn erzeugt.
Wohl war die Mehrzahl der russischen Intelligenz durch die Akte vom 17.(30.) Ok¬
tober zufriedengestellt, aber ihre jüdischen Waffengefährten mochten sie doch
nicht im Stich lassen. Hieraus wird man verstehn können, warum sogar gemäßigte
Elemente, die noch in der Nacht vom 17. zum 18. Frendenorgien feierten -- ich
habe ihnen persönlich beigewohnt --, schon am nächsten Tage an der Herab¬
setzung derselben Akte halfen. Dieser Vorgang wurde von den Sozialisten mit
den im "Bund" organisierten Juden an der Spitze sehr geschickt ausgenutzt. Als
Parole wurde ausgegeben: die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts mit
gleicher, direkter und geheimer Stimmabgabe. "Denn, argumentierten sie, nur
eine auf dieser Grundlage gewählte Volksvertretung gibt euch die Garantie für
die Erfüllung eurer Wünsche."

Die Sozialisten hatten, wie gezeigt werden soll, ein gewisses crworlmes
Recht, so aufzutreten. Das Verhalten der bürgerlichen Demokraten -- in-
sonderheit die Taktik der Oswvboshdjence -- während des vergangnen Re¬
volutionsjahres hatte ihre Position in der Politik treibenden Gesellschaft so
gestärkt, daß sie glaubten, alles fordern zu dürfen. Die Oswoboshdjence hatte
nämlich, um sich einen größern Rückhalt auch in den breitern Schichten der
halbgebildeter Intelligenz zu schaffen, die Organisation von Berufsverbänden
zuwege gebracht. Anfänglich hatte man sich begnügt, Hoch- und Mittelschul¬
lehrer-, Ärzte-, Advokaten- und Jngenieurverbäude zu begründen. Im April
dehnte die Oswoboshdjence ihre organisatorische Tätigkeit auch auf Volksschnl-
leyrer, Apotheker- und Nechtsanwaltsgehilfen sowie Dorfschreiber, Feldschere,
niedere Angestellte der Sjemstwo- und Stadtverwaltungen ans. Damit aber
kamen sie den Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären ins Gehege. Die
zuletzt genannten Gruppen der Gesellschaft waren ja schon seit Jahrzehnten
die Pflanzstätte der russischen Nihilisten, Narodniki, Sozialisten und Anarchisten!
Entsprechend dem Beschluß des Parteitags der russischen Sozialdemokratie
nahmen die Gerufncn die Aufforderung der Oswoboshdjence gern an und
strömten in die Versammlungen der bürgerlichen Demokraten. Im Sojns
Sojüsow, der eine Art Zentrale für sämtliche Berufsverbäude war, wurden alle
demokratischen Beschlüsse vom sozialistischen Geist durchtränkt, und besonnene
Vertreter des Bürgertums, wie Professor Miljukow, unterlagen Heißspornen
wie dem Rechtsanwalt Ssokolow. Dieses Überwiegen der Sozialisten machte
sich auch in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober a. Se. in der denkwürdigen
Sitzung in den Räumen der Freien ökonomischen Gesellschaft bemerkbar. Die


Russische Briese

den „heiligen Willen" eines so ungebildeten Volkes. Einzig in den gebildeten
Klassen bei der Intelligenz finden wir im Zusammenhang mit ihrer Sympathie
für Westeuropa überhaupt Philosemiten. Diese Philosemiten sind es, deren
Eitelkeit durch die Nichtaufhebnng der Judengesetze getroffen wurde. Die russische
Regierung übersah, daß die russische Intelligenz und die Juden eine verbündete
Macht waren, und daß im Russen eine angeborne Dankbarkeit schlummert, die
gerade in den gebildeten Kreisen einen bewunderungswürdigen Edelsinn erzeugt.
Wohl war die Mehrzahl der russischen Intelligenz durch die Akte vom 17.(30.) Ok¬
tober zufriedengestellt, aber ihre jüdischen Waffengefährten mochten sie doch
nicht im Stich lassen. Hieraus wird man verstehn können, warum sogar gemäßigte
Elemente, die noch in der Nacht vom 17. zum 18. Frendenorgien feierten — ich
habe ihnen persönlich beigewohnt —, schon am nächsten Tage an der Herab¬
setzung derselben Akte halfen. Dieser Vorgang wurde von den Sozialisten mit
den im „Bund" organisierten Juden an der Spitze sehr geschickt ausgenutzt. Als
Parole wurde ausgegeben: die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts mit
gleicher, direkter und geheimer Stimmabgabe. „Denn, argumentierten sie, nur
eine auf dieser Grundlage gewählte Volksvertretung gibt euch die Garantie für
die Erfüllung eurer Wünsche."

Die Sozialisten hatten, wie gezeigt werden soll, ein gewisses crworlmes
Recht, so aufzutreten. Das Verhalten der bürgerlichen Demokraten — in-
sonderheit die Taktik der Oswvboshdjence — während des vergangnen Re¬
volutionsjahres hatte ihre Position in der Politik treibenden Gesellschaft so
gestärkt, daß sie glaubten, alles fordern zu dürfen. Die Oswoboshdjence hatte
nämlich, um sich einen größern Rückhalt auch in den breitern Schichten der
halbgebildeter Intelligenz zu schaffen, die Organisation von Berufsverbänden
zuwege gebracht. Anfänglich hatte man sich begnügt, Hoch- und Mittelschul¬
lehrer-, Ärzte-, Advokaten- und Jngenieurverbäude zu begründen. Im April
dehnte die Oswoboshdjence ihre organisatorische Tätigkeit auch auf Volksschnl-
leyrer, Apotheker- und Nechtsanwaltsgehilfen sowie Dorfschreiber, Feldschere,
niedere Angestellte der Sjemstwo- und Stadtverwaltungen ans. Damit aber
kamen sie den Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären ins Gehege. Die
zuletzt genannten Gruppen der Gesellschaft waren ja schon seit Jahrzehnten
die Pflanzstätte der russischen Nihilisten, Narodniki, Sozialisten und Anarchisten!
Entsprechend dem Beschluß des Parteitags der russischen Sozialdemokratie
nahmen die Gerufncn die Aufforderung der Oswoboshdjence gern an und
strömten in die Versammlungen der bürgerlichen Demokraten. Im Sojns
Sojüsow, der eine Art Zentrale für sämtliche Berufsverbäude war, wurden alle
demokratischen Beschlüsse vom sozialistischen Geist durchtränkt, und besonnene
Vertreter des Bürgertums, wie Professor Miljukow, unterlagen Heißspornen
wie dem Rechtsanwalt Ssokolow. Dieses Überwiegen der Sozialisten machte
sich auch in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober a. Se. in der denkwürdigen
Sitzung in den Räumen der Freien ökonomischen Gesellschaft bemerkbar. Die


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[0133] Russische Briese den „heiligen Willen" eines so ungebildeten Volkes. Einzig in den gebildeten Klassen bei der Intelligenz finden wir im Zusammenhang mit ihrer Sympathie für Westeuropa überhaupt Philosemiten. Diese Philosemiten sind es, deren Eitelkeit durch die Nichtaufhebnng der Judengesetze getroffen wurde. Die russische Regierung übersah, daß die russische Intelligenz und die Juden eine verbündete Macht waren, und daß im Russen eine angeborne Dankbarkeit schlummert, die gerade in den gebildeten Kreisen einen bewunderungswürdigen Edelsinn erzeugt. Wohl war die Mehrzahl der russischen Intelligenz durch die Akte vom 17.(30.) Ok¬ tober zufriedengestellt, aber ihre jüdischen Waffengefährten mochten sie doch nicht im Stich lassen. Hieraus wird man verstehn können, warum sogar gemäßigte Elemente, die noch in der Nacht vom 17. zum 18. Frendenorgien feierten — ich habe ihnen persönlich beigewohnt —, schon am nächsten Tage an der Herab¬ setzung derselben Akte halfen. Dieser Vorgang wurde von den Sozialisten mit den im „Bund" organisierten Juden an der Spitze sehr geschickt ausgenutzt. Als Parole wurde ausgegeben: die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts mit gleicher, direkter und geheimer Stimmabgabe. „Denn, argumentierten sie, nur eine auf dieser Grundlage gewählte Volksvertretung gibt euch die Garantie für die Erfüllung eurer Wünsche." Die Sozialisten hatten, wie gezeigt werden soll, ein gewisses crworlmes Recht, so aufzutreten. Das Verhalten der bürgerlichen Demokraten — in- sonderheit die Taktik der Oswvboshdjence — während des vergangnen Re¬ volutionsjahres hatte ihre Position in der Politik treibenden Gesellschaft so gestärkt, daß sie glaubten, alles fordern zu dürfen. Die Oswoboshdjence hatte nämlich, um sich einen größern Rückhalt auch in den breitern Schichten der halbgebildeter Intelligenz zu schaffen, die Organisation von Berufsverbänden zuwege gebracht. Anfänglich hatte man sich begnügt, Hoch- und Mittelschul¬ lehrer-, Ärzte-, Advokaten- und Jngenieurverbäude zu begründen. Im April dehnte die Oswoboshdjence ihre organisatorische Tätigkeit auch auf Volksschnl- leyrer, Apotheker- und Nechtsanwaltsgehilfen sowie Dorfschreiber, Feldschere, niedere Angestellte der Sjemstwo- und Stadtverwaltungen ans. Damit aber kamen sie den Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären ins Gehege. Die zuletzt genannten Gruppen der Gesellschaft waren ja schon seit Jahrzehnten die Pflanzstätte der russischen Nihilisten, Narodniki, Sozialisten und Anarchisten! Entsprechend dem Beschluß des Parteitags der russischen Sozialdemokratie nahmen die Gerufncn die Aufforderung der Oswoboshdjence gern an und strömten in die Versammlungen der bürgerlichen Demokraten. Im Sojns Sojüsow, der eine Art Zentrale für sämtliche Berufsverbäude war, wurden alle demokratischen Beschlüsse vom sozialistischen Geist durchtränkt, und besonnene Vertreter des Bürgertums, wie Professor Miljukow, unterlagen Heißspornen wie dem Rechtsanwalt Ssokolow. Dieses Überwiegen der Sozialisten machte sich auch in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober a. Se. in der denkwürdigen Sitzung in den Räumen der Freien ökonomischen Gesellschaft bemerkbar. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/133>, abgerufen am 23.07.2024.