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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Gegenüber den Forderungen der Sjemstwovereiuigung hat der Zar somit
mehr gegeben durch die Verheißung des allgemeinen Wahlrechts; die Alt¬
gläubigen, die Sektierer und die Juden hat er nicht voll befriedigt. Aber er
gab der Gesellschaft durch den Punkt 3 auch das Werkzeug in die Hand, mit
dessen Hilfe jede einigermaßen gebildete Gesellschaft die in Punkt 1 und 2 fest¬
gestellten Prinzipien in die Praxis übertragen und leicht erweitern konnte.
Somit mußten sich alle ehrlichen Elemente einstweilen zufrieden geben und ihre
gesamte Arbeitskraft der Verwirklichung der gewährten Freiheiten widmen. Graf
Heyden, D. N. Schipow und M. A Stachowitsch taten es auch durch ihre
öffentliche Absage an die revolutionären Oswoboshdjence und durch gleichzeitige
Gründung des "Verbandes vom 17. Oktober".

Wie kam es nun, daß trotz des weiten Entgegenkommens des Zaren
und trotz der Zufriedenstellung gerade der besten Männer des Landes die
Revolution nicht nur nicht aufhörte, sondern in noch viel grausamerer Weise
fortgesetzt wurde als vorher? Die Schuld hieran liegt an drei Stellen.

Vor allen Dingen hatte die Regierung den Fehler begangen, schrittweise
nachzugeben und mit der Herausgabe der Magna Charta -- diesem Minimum,
das ein Volk an politischen Freiheiten beanspruchen muß -- zu lange, fast ein
Jahr gezögert. Im März 1905 hätte ein solches Gesetz wahrscheinlich allgemein
befriedigt, vielleicht schon allein aus dem einen Umstände, daß die Sozialisten
noch nicht so gut auf die offne Revolution vorbereitet waren wie im Oktober.
Durch ihre Unentschlossenheit hat die Negierung somit den revolutionären
Organisationen Zeit gegeben, sich endgiltig zu konstituieren. Dann aber hat sie
auch zwei wichtige Erscheinungen der damaligen Situation außer acht gelassen:
die Stellung der Gesellschaft gegenüber den Juden sowie den Sozialisten aller
drei Schattierungen überhaupt und -- die Eitelkeit der russischen Intelligenz.

Der Heilige spröd hatte sich nach russischen Begriffen durch den Erlaß
vom 17. (30.) April zu so außerordentlich großen Konzessionen an die nicht
orthodoxen Glaubensbekenntnisse entschlossen, daß es keinen politischen Wert mehr
für ihn hatte, vor einer Emanzipation der Juden Halt zu machen. Das Prinzip
der Alleinberechtigung der orthodoxen Kirche im russischen Staatswesen war
aufgehoben worden. Infolgedessen mußte die Beibehaltung von Ausnahmen
gegenüber einem einzigen Volksstamm wie eine Kriegserklärung wirken und die
Autorität des Staates bei diesem Volksstamm entwürdigen. Die Regierung
bewies nur, was ihr vorher schon vorgeworfen worden war, daß sie und der
Zar antisemitisch gesinnt seien, während sie sich vorher an ein -- wenn auch
unvernünftiges -- Prinzip klammern konnte. So erwies sich denn das Gesetz als
eine halbe und darum gefährliche Maßregel. Praktisch, d. h. hier in wirtschaft¬
licher und sozialer Beziehung, konnte die Aufhebung der Judengesetze dem Staate
keinerlei bedeutende Nachteile, sondern nur Vorteil bringen. Denn es erscheint
volkswirtschaftlich ausgeschlossen, daß sich sofort im Anschluß an die Bekannt¬
gabe eines Emanzipationsgesetzes die 6^ Millionen Juden aus den Städten
Polens, Litauens und Kleinrußlands aufmachen würden, um das von Juden


Russische Briefe

Gegenüber den Forderungen der Sjemstwovereiuigung hat der Zar somit
mehr gegeben durch die Verheißung des allgemeinen Wahlrechts; die Alt¬
gläubigen, die Sektierer und die Juden hat er nicht voll befriedigt. Aber er
gab der Gesellschaft durch den Punkt 3 auch das Werkzeug in die Hand, mit
dessen Hilfe jede einigermaßen gebildete Gesellschaft die in Punkt 1 und 2 fest¬
gestellten Prinzipien in die Praxis übertragen und leicht erweitern konnte.
Somit mußten sich alle ehrlichen Elemente einstweilen zufrieden geben und ihre
gesamte Arbeitskraft der Verwirklichung der gewährten Freiheiten widmen. Graf
Heyden, D. N. Schipow und M. A Stachowitsch taten es auch durch ihre
öffentliche Absage an die revolutionären Oswoboshdjence und durch gleichzeitige
Gründung des „Verbandes vom 17. Oktober".

Wie kam es nun, daß trotz des weiten Entgegenkommens des Zaren
und trotz der Zufriedenstellung gerade der besten Männer des Landes die
Revolution nicht nur nicht aufhörte, sondern in noch viel grausamerer Weise
fortgesetzt wurde als vorher? Die Schuld hieran liegt an drei Stellen.

Vor allen Dingen hatte die Regierung den Fehler begangen, schrittweise
nachzugeben und mit der Herausgabe der Magna Charta — diesem Minimum,
das ein Volk an politischen Freiheiten beanspruchen muß — zu lange, fast ein
Jahr gezögert. Im März 1905 hätte ein solches Gesetz wahrscheinlich allgemein
befriedigt, vielleicht schon allein aus dem einen Umstände, daß die Sozialisten
noch nicht so gut auf die offne Revolution vorbereitet waren wie im Oktober.
Durch ihre Unentschlossenheit hat die Negierung somit den revolutionären
Organisationen Zeit gegeben, sich endgiltig zu konstituieren. Dann aber hat sie
auch zwei wichtige Erscheinungen der damaligen Situation außer acht gelassen:
die Stellung der Gesellschaft gegenüber den Juden sowie den Sozialisten aller
drei Schattierungen überhaupt und — die Eitelkeit der russischen Intelligenz.

Der Heilige spröd hatte sich nach russischen Begriffen durch den Erlaß
vom 17. (30.) April zu so außerordentlich großen Konzessionen an die nicht
orthodoxen Glaubensbekenntnisse entschlossen, daß es keinen politischen Wert mehr
für ihn hatte, vor einer Emanzipation der Juden Halt zu machen. Das Prinzip
der Alleinberechtigung der orthodoxen Kirche im russischen Staatswesen war
aufgehoben worden. Infolgedessen mußte die Beibehaltung von Ausnahmen
gegenüber einem einzigen Volksstamm wie eine Kriegserklärung wirken und die
Autorität des Staates bei diesem Volksstamm entwürdigen. Die Regierung
bewies nur, was ihr vorher schon vorgeworfen worden war, daß sie und der
Zar antisemitisch gesinnt seien, während sie sich vorher an ein — wenn auch
unvernünftiges — Prinzip klammern konnte. So erwies sich denn das Gesetz als
eine halbe und darum gefährliche Maßregel. Praktisch, d. h. hier in wirtschaft¬
licher und sozialer Beziehung, konnte die Aufhebung der Judengesetze dem Staate
keinerlei bedeutende Nachteile, sondern nur Vorteil bringen. Denn es erscheint
volkswirtschaftlich ausgeschlossen, daß sich sofort im Anschluß an die Bekannt¬
gabe eines Emanzipationsgesetzes die 6^ Millionen Juden aus den Städten
Polens, Litauens und Kleinrußlands aufmachen würden, um das von Juden


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[0131] Russische Briefe Gegenüber den Forderungen der Sjemstwovereiuigung hat der Zar somit mehr gegeben durch die Verheißung des allgemeinen Wahlrechts; die Alt¬ gläubigen, die Sektierer und die Juden hat er nicht voll befriedigt. Aber er gab der Gesellschaft durch den Punkt 3 auch das Werkzeug in die Hand, mit dessen Hilfe jede einigermaßen gebildete Gesellschaft die in Punkt 1 und 2 fest¬ gestellten Prinzipien in die Praxis übertragen und leicht erweitern konnte. Somit mußten sich alle ehrlichen Elemente einstweilen zufrieden geben und ihre gesamte Arbeitskraft der Verwirklichung der gewährten Freiheiten widmen. Graf Heyden, D. N. Schipow und M. A Stachowitsch taten es auch durch ihre öffentliche Absage an die revolutionären Oswoboshdjence und durch gleichzeitige Gründung des „Verbandes vom 17. Oktober". Wie kam es nun, daß trotz des weiten Entgegenkommens des Zaren und trotz der Zufriedenstellung gerade der besten Männer des Landes die Revolution nicht nur nicht aufhörte, sondern in noch viel grausamerer Weise fortgesetzt wurde als vorher? Die Schuld hieran liegt an drei Stellen. Vor allen Dingen hatte die Regierung den Fehler begangen, schrittweise nachzugeben und mit der Herausgabe der Magna Charta — diesem Minimum, das ein Volk an politischen Freiheiten beanspruchen muß — zu lange, fast ein Jahr gezögert. Im März 1905 hätte ein solches Gesetz wahrscheinlich allgemein befriedigt, vielleicht schon allein aus dem einen Umstände, daß die Sozialisten noch nicht so gut auf die offne Revolution vorbereitet waren wie im Oktober. Durch ihre Unentschlossenheit hat die Negierung somit den revolutionären Organisationen Zeit gegeben, sich endgiltig zu konstituieren. Dann aber hat sie auch zwei wichtige Erscheinungen der damaligen Situation außer acht gelassen: die Stellung der Gesellschaft gegenüber den Juden sowie den Sozialisten aller drei Schattierungen überhaupt und — die Eitelkeit der russischen Intelligenz. Der Heilige spröd hatte sich nach russischen Begriffen durch den Erlaß vom 17. (30.) April zu so außerordentlich großen Konzessionen an die nicht orthodoxen Glaubensbekenntnisse entschlossen, daß es keinen politischen Wert mehr für ihn hatte, vor einer Emanzipation der Juden Halt zu machen. Das Prinzip der Alleinberechtigung der orthodoxen Kirche im russischen Staatswesen war aufgehoben worden. Infolgedessen mußte die Beibehaltung von Ausnahmen gegenüber einem einzigen Volksstamm wie eine Kriegserklärung wirken und die Autorität des Staates bei diesem Volksstamm entwürdigen. Die Regierung bewies nur, was ihr vorher schon vorgeworfen worden war, daß sie und der Zar antisemitisch gesinnt seien, während sie sich vorher an ein — wenn auch unvernünftiges — Prinzip klammern konnte. So erwies sich denn das Gesetz als eine halbe und darum gefährliche Maßregel. Praktisch, d. h. hier in wirtschaft¬ licher und sozialer Beziehung, konnte die Aufhebung der Judengesetze dem Staate keinerlei bedeutende Nachteile, sondern nur Vorteil bringen. Denn es erscheint volkswirtschaftlich ausgeschlossen, daß sich sofort im Anschluß an die Bekannt¬ gabe eines Emanzipationsgesetzes die 6^ Millionen Juden aus den Städten Polens, Litauens und Kleinrußlands aufmachen würden, um das von Juden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/131>, abgerufen am 23.07.2024.