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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Sie Physiognomie der russischen Sprache

interessant aber ist die Entstehung und die Bedeutung des Wortes bükva,
der Buchstabe. LuK -- die Buche stammt freilich vom lateinischen lÄ^us, ist
also gemein-indogermanischen Ursprungs. Aber nur slawisch und Deutsch haben
von dieser Wurzel eine besondre Bildung desselben kulturgeschichtlichen Sinnes
abgeleitet. Wenn also die germanischen Priester mit Runenzeichen versehene
"Stäbchen" aus Buchenholz am Boden verstreuten und ihrer Lage geheimnis¬
volle Deutung gaben, so ist auch ohne historischen Nachweis anzunehmen, daß
der gleiche religiöse Brauch bei ihren östlichen Nachbarn herrschte. Zu ähnlichem
Schlüsse führt die Vergleichung der beiden Wörter xolk und "Volk". Obwohl
M. Heyne die Ableitung des deutschen Ausdrucks für unsicher erklärt, wird
dieser doch sonst mit lat. volA'us, griech. ö^os zusammengestellt und somit als
gemein indogermanisch anerkannt. Aber nur im slawischen und im Deutschen
Hat er zugleich einen militärischen Charakter angenommen, den das Russische
ausschließlich festhält. ?o1Je bedeutet nur Heer oder Regiment, während das ger¬
manische tulle die auf Waffenmacht begründete staatliche Gemeinschaft bezeichnet,
die der Römer als vivitg." von xoxulns und volAus scharf unterscheidet. Zu¬
weilen tritt die Übereinstimmung der Lautgebilde deutlicher in dem als "Kirchen¬
slawisch" (giÄVou ä'^ßliss) bekannten Altbulgarischen hervor, das noch heute
in allen für den Gottesdienst bestimmten Büchern angewandt wird. So heißt
im eigentlichen Russischen der Hirsch alsnj, in den Übersetzungen der Heiligen
Schrift dagegen (Msuj, entspricht also genau unserm "Elen". Daneben bildet
wohl auch der bloße Begriff ohne ländliche Übereinstimmung einmal die Brücke.
Rot war die Farbe Donars, des germanischen Wetter- und Segensgottes, rot
die Farbe seines Bartes und unter Menschen die des hochzeitlichen Festgewandes,
woraus sich naturgemäß die Vorstellung der heiligen, der schönen Farbe ent¬
wickelte. Im Russischen aber bedeutet "rot" (Kr-ihn/) geradezu "schön", und
xrsKrHsn^ n.08 heißt nicht bloß eine "sehr rote", sondern zugleich eine "sehr
schöne" Nase.

Natürlich stehn die übrigen slawischen Idiome, also außer dem Polnischen
auch Ruthenisch (Kleinrussisch), Tschechisch, Serbisch, Bulgarisch und Slowenisch
-- um nur die Hauptraum zu nennen -- dem Russischen noch näher als das
Deutsche, wenn auch die Ähnlichkeit mehr bei der herkömmlichen Niederschrift
der einzelnen Sprachen als in der Bildung der Wörter hervortritt, da die fort¬
schreitende Zerdehnung immer zahlreichere Änderungen der Form und des Klanges
bewirkt hat. So begegnet schon der mündliche Verkehr zwischen Groß- und Klein¬
russen, obwohl diese zum größten Teil innerhalb des Zarenreiches und in steter
Berührung mit dem verwandten Hauptvolke leben, außerordentlichen Schwierig¬
keiten, und als vor mehreren Jahren auf Veranlassung und unter Vorsitz eines
als eingefleischter Deutschenhasser bekannten Moskaner Generals in Prag ein
allgemeiner Slawenkongreß mit ausgesprochen antigermanischer Tendenz zu¬
sammentrat, sahen sich die Teilnehmer bei der Unmöglichkeit direkter Verstän¬
digung genötigt, zu dem Auskunftsmittel des -- Deutschen zu greifen. Natürlich


Sie Physiognomie der russischen Sprache

interessant aber ist die Entstehung und die Bedeutung des Wortes bükva,
der Buchstabe. LuK — die Buche stammt freilich vom lateinischen lÄ^us, ist
also gemein-indogermanischen Ursprungs. Aber nur slawisch und Deutsch haben
von dieser Wurzel eine besondre Bildung desselben kulturgeschichtlichen Sinnes
abgeleitet. Wenn also die germanischen Priester mit Runenzeichen versehene
„Stäbchen" aus Buchenholz am Boden verstreuten und ihrer Lage geheimnis¬
volle Deutung gaben, so ist auch ohne historischen Nachweis anzunehmen, daß
der gleiche religiöse Brauch bei ihren östlichen Nachbarn herrschte. Zu ähnlichem
Schlüsse führt die Vergleichung der beiden Wörter xolk und „Volk". Obwohl
M. Heyne die Ableitung des deutschen Ausdrucks für unsicher erklärt, wird
dieser doch sonst mit lat. volA'us, griech. ö^os zusammengestellt und somit als
gemein indogermanisch anerkannt. Aber nur im slawischen und im Deutschen
Hat er zugleich einen militärischen Charakter angenommen, den das Russische
ausschließlich festhält. ?o1Je bedeutet nur Heer oder Regiment, während das ger¬
manische tulle die auf Waffenmacht begründete staatliche Gemeinschaft bezeichnet,
die der Römer als vivitg.« von xoxulns und volAus scharf unterscheidet. Zu¬
weilen tritt die Übereinstimmung der Lautgebilde deutlicher in dem als „Kirchen¬
slawisch" (giÄVou ä'^ßliss) bekannten Altbulgarischen hervor, das noch heute
in allen für den Gottesdienst bestimmten Büchern angewandt wird. So heißt
im eigentlichen Russischen der Hirsch alsnj, in den Übersetzungen der Heiligen
Schrift dagegen (Msuj, entspricht also genau unserm „Elen". Daneben bildet
wohl auch der bloße Begriff ohne ländliche Übereinstimmung einmal die Brücke.
Rot war die Farbe Donars, des germanischen Wetter- und Segensgottes, rot
die Farbe seines Bartes und unter Menschen die des hochzeitlichen Festgewandes,
woraus sich naturgemäß die Vorstellung der heiligen, der schönen Farbe ent¬
wickelte. Im Russischen aber bedeutet „rot" (Kr-ihn/) geradezu „schön", und
xrsKrHsn^ n.08 heißt nicht bloß eine „sehr rote", sondern zugleich eine „sehr
schöne" Nase.

Natürlich stehn die übrigen slawischen Idiome, also außer dem Polnischen
auch Ruthenisch (Kleinrussisch), Tschechisch, Serbisch, Bulgarisch und Slowenisch
— um nur die Hauptraum zu nennen — dem Russischen noch näher als das
Deutsche, wenn auch die Ähnlichkeit mehr bei der herkömmlichen Niederschrift
der einzelnen Sprachen als in der Bildung der Wörter hervortritt, da die fort¬
schreitende Zerdehnung immer zahlreichere Änderungen der Form und des Klanges
bewirkt hat. So begegnet schon der mündliche Verkehr zwischen Groß- und Klein¬
russen, obwohl diese zum größten Teil innerhalb des Zarenreiches und in steter
Berührung mit dem verwandten Hauptvolke leben, außerordentlichen Schwierig¬
keiten, und als vor mehreren Jahren auf Veranlassung und unter Vorsitz eines
als eingefleischter Deutschenhasser bekannten Moskaner Generals in Prag ein
allgemeiner Slawenkongreß mit ausgesprochen antigermanischer Tendenz zu¬
sammentrat, sahen sich die Teilnehmer bei der Unmöglichkeit direkter Verstän¬
digung genötigt, zu dem Auskunftsmittel des — Deutschen zu greifen. Natürlich


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[0092] Sie Physiognomie der russischen Sprache interessant aber ist die Entstehung und die Bedeutung des Wortes bükva, der Buchstabe. LuK — die Buche stammt freilich vom lateinischen lÄ^us, ist also gemein-indogermanischen Ursprungs. Aber nur slawisch und Deutsch haben von dieser Wurzel eine besondre Bildung desselben kulturgeschichtlichen Sinnes abgeleitet. Wenn also die germanischen Priester mit Runenzeichen versehene „Stäbchen" aus Buchenholz am Boden verstreuten und ihrer Lage geheimnis¬ volle Deutung gaben, so ist auch ohne historischen Nachweis anzunehmen, daß der gleiche religiöse Brauch bei ihren östlichen Nachbarn herrschte. Zu ähnlichem Schlüsse führt die Vergleichung der beiden Wörter xolk und „Volk". Obwohl M. Heyne die Ableitung des deutschen Ausdrucks für unsicher erklärt, wird dieser doch sonst mit lat. volA'us, griech. ö^os zusammengestellt und somit als gemein indogermanisch anerkannt. Aber nur im slawischen und im Deutschen Hat er zugleich einen militärischen Charakter angenommen, den das Russische ausschließlich festhält. ?o1Je bedeutet nur Heer oder Regiment, während das ger¬ manische tulle die auf Waffenmacht begründete staatliche Gemeinschaft bezeichnet, die der Römer als vivitg.« von xoxulns und volAus scharf unterscheidet. Zu¬ weilen tritt die Übereinstimmung der Lautgebilde deutlicher in dem als „Kirchen¬ slawisch" (giÄVou ä'^ßliss) bekannten Altbulgarischen hervor, das noch heute in allen für den Gottesdienst bestimmten Büchern angewandt wird. So heißt im eigentlichen Russischen der Hirsch alsnj, in den Übersetzungen der Heiligen Schrift dagegen (Msuj, entspricht also genau unserm „Elen". Daneben bildet wohl auch der bloße Begriff ohne ländliche Übereinstimmung einmal die Brücke. Rot war die Farbe Donars, des germanischen Wetter- und Segensgottes, rot die Farbe seines Bartes und unter Menschen die des hochzeitlichen Festgewandes, woraus sich naturgemäß die Vorstellung der heiligen, der schönen Farbe ent¬ wickelte. Im Russischen aber bedeutet „rot" (Kr-ihn/) geradezu „schön", und xrsKrHsn^ n.08 heißt nicht bloß eine „sehr rote", sondern zugleich eine „sehr schöne" Nase. Natürlich stehn die übrigen slawischen Idiome, also außer dem Polnischen auch Ruthenisch (Kleinrussisch), Tschechisch, Serbisch, Bulgarisch und Slowenisch — um nur die Hauptraum zu nennen — dem Russischen noch näher als das Deutsche, wenn auch die Ähnlichkeit mehr bei der herkömmlichen Niederschrift der einzelnen Sprachen als in der Bildung der Wörter hervortritt, da die fort¬ schreitende Zerdehnung immer zahlreichere Änderungen der Form und des Klanges bewirkt hat. So begegnet schon der mündliche Verkehr zwischen Groß- und Klein¬ russen, obwohl diese zum größten Teil innerhalb des Zarenreiches und in steter Berührung mit dem verwandten Hauptvolke leben, außerordentlichen Schwierig¬ keiten, und als vor mehreren Jahren auf Veranlassung und unter Vorsitz eines als eingefleischter Deutschenhasser bekannten Moskaner Generals in Prag ein allgemeiner Slawenkongreß mit ausgesprochen antigermanischer Tendenz zu¬ sammentrat, sahen sich die Teilnehmer bei der Unmöglichkeit direkter Verstän¬ digung genötigt, zu dem Auskunftsmittel des — Deutschen zu greifen. Natürlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/92>, abgerufen am 23.07.2024.