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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

sich diese Trennungen vollzieh". Die nicht minder zwingenden Gesetze aber,
die zu ihnen führten, hießen Raumbedürfnis und Hunger. Sie bewirkten die
"Zerdehnung" eines Volkes, das allmähliche Einströmen seines Überschusses
in unbesiedelte oder auch in besiedelte Gebiete, deren ursprüngliche Bewohner
verdrängt wurden. Und je weiter sich diese Abwanderung erstreckte, um so
größer wurde das Stammes- und Sprachgebiet, um so weiter rückten die an der
Peripherie ansässigen Teile auch geistig von dem Kern und noch mehr von den an
der entgegengesetzten Seite Siedelnden ab. Die natürliche Folge der gesamten
Vorgänge aber war, daß zwar jede Gruppe einen wesentlichen Teil des gemein¬
samen Sprachguts bewahrte, einen andern dagegen aufgab oder doch Wurzeln
und Endungen unter den mancherlei oft völlig verschiednen Einwirkungen geo¬
graphischer Verhältnisse, innerer Lebenserfahrungen, fremdsprachiger Nachbar¬
schaft verwandelte, abschliff, weiterbildete, ihren Besitz zugleich durch anders¬
artige, neu an sie herantretende Elemente vermehrend. Je näher dabei die
Bestandteile der ursprünglichen Volksgemeinschaft, die nun selbst zu Stämmen
und Völkern aufwuchsen, einander blieben, um so größer blieb schließlich auch
ihre Übereinstimmung in der Sprache.

Dieser merkwürdige und doch so natürliche Prozeß aber vollzog sich auch
am Russischen. Es genügt hier die jüngern Bildungen des Indogermanischen,
also neben den deutschen und den slawischen Mundarten die Sprachen der
Griechen und der Römer sowie die von dieser abgeleiteten romanischen in Betracht
zu ziehen. Daß wir mit russ. t^, lat., nat., franz. tu, got. tun, engl. trou, neu-
hochd. du, ebenso mit tri, griech. r^elf, got. tlirsis, engl. rnrss, übt. drei auf
demselben, nur staffelförmig aufsteigenden Boden stehn, leuchtet ohne weiteres
ein. Aber auch wenn der Grieche ol^os (früher voiuvs), der Lateiner viuuiu,
der Deutsche Wein, der Russe vino sagt, so bewegen sich alle vier innerhalb
der Grenzen ältester Gemeinschaft. Ebenso mit ^L^> es inswin, Med und niM^);
nox, franz. nuit, nat. notes, engl.niM, Nacht, russ. notsolrj; mit /r/i."^, llusrs,
fließen (engl. to üog-t), russ. xt^ej, xtav?g.ej; "iis, lat. o?i8, deutsch nur mundartlich
vorhanden, russ. Ä^g, (geschrieben vo?a); "^s> sal, ssl, sg,1t, Salz, russ. sol --
einem Worte, das übrigens anch als uralte Entlehnung eines indogermanischen



Es sei gleich hier bemerkt, daß die genaue Wiedergabe der russischen Sprachgebilde
mit den uns vertrauten Zeichen schon deshalb eine Unmöglichkeit ist, weil immer wieder Halb¬
uno Zwischenlande eingeschoben werden, die oft nur dem geübtesten Ohr verständlich sind. Die
Umschrift in lateinischen oder deutschen Buchstaben zeigt das Urbild meist nur in groben Zügen.
Um einige uns ganz fremde Klänge wenigstens anzudeuten, sollen gleichwohl in den nachfolgenden
Beispielen das harte l nach polnischer und keltischer Weise durch t, das Jen) (ein dumpfer
J-Laut) durch wiedergegeben werden, obwohl die Aussprache des russischen Buchstabens weder
mit dem französischen i giso, noch mit dem englischen moi, noch auch mit dem griechisch-deutschen
^pÄIon das geringste zu tun hat. Ferner sollen und ?K die sanften Zischlaute bezeichnen,
Is und jii gs) das breite russische s (Jätj), das durch beide Doppelzeichen freilich nur sehr un¬
vollkommen wiedergegeben wird. Dem scharfen ", auch nach dem kurzen Vokal, entspricht das
einfache Zeichen.
Die Physiognomie der russischen Sprache

sich diese Trennungen vollzieh». Die nicht minder zwingenden Gesetze aber,
die zu ihnen führten, hießen Raumbedürfnis und Hunger. Sie bewirkten die
„Zerdehnung" eines Volkes, das allmähliche Einströmen seines Überschusses
in unbesiedelte oder auch in besiedelte Gebiete, deren ursprüngliche Bewohner
verdrängt wurden. Und je weiter sich diese Abwanderung erstreckte, um so
größer wurde das Stammes- und Sprachgebiet, um so weiter rückten die an der
Peripherie ansässigen Teile auch geistig von dem Kern und noch mehr von den an
der entgegengesetzten Seite Siedelnden ab. Die natürliche Folge der gesamten
Vorgänge aber war, daß zwar jede Gruppe einen wesentlichen Teil des gemein¬
samen Sprachguts bewahrte, einen andern dagegen aufgab oder doch Wurzeln
und Endungen unter den mancherlei oft völlig verschiednen Einwirkungen geo¬
graphischer Verhältnisse, innerer Lebenserfahrungen, fremdsprachiger Nachbar¬
schaft verwandelte, abschliff, weiterbildete, ihren Besitz zugleich durch anders¬
artige, neu an sie herantretende Elemente vermehrend. Je näher dabei die
Bestandteile der ursprünglichen Volksgemeinschaft, die nun selbst zu Stämmen
und Völkern aufwuchsen, einander blieben, um so größer blieb schließlich auch
ihre Übereinstimmung in der Sprache.

Dieser merkwürdige und doch so natürliche Prozeß aber vollzog sich auch
am Russischen. Es genügt hier die jüngern Bildungen des Indogermanischen,
also neben den deutschen und den slawischen Mundarten die Sprachen der
Griechen und der Römer sowie die von dieser abgeleiteten romanischen in Betracht
zu ziehen. Daß wir mit russ. t^, lat., nat., franz. tu, got. tun, engl. trou, neu-
hochd. du, ebenso mit tri, griech. r^elf, got. tlirsis, engl. rnrss, übt. drei auf
demselben, nur staffelförmig aufsteigenden Boden stehn, leuchtet ohne weiteres
ein. Aber auch wenn der Grieche ol^os (früher voiuvs), der Lateiner viuuiu,
der Deutsche Wein, der Russe vino sagt, so bewegen sich alle vier innerhalb
der Grenzen ältester Gemeinschaft. Ebenso mit ^L^> es inswin, Med und niM^);
nox, franz. nuit, nat. notes, engl.niM, Nacht, russ. notsolrj; mit /r/i.«^, llusrs,
fließen (engl. to üog-t), russ. xt^ej, xtav?g.ej; «iis, lat. o?i8, deutsch nur mundartlich
vorhanden, russ. Ä^g, (geschrieben vo?a); «^s> sal, ssl, sg,1t, Salz, russ. sol —
einem Worte, das übrigens anch als uralte Entlehnung eines indogermanischen



Es sei gleich hier bemerkt, daß die genaue Wiedergabe der russischen Sprachgebilde
mit den uns vertrauten Zeichen schon deshalb eine Unmöglichkeit ist, weil immer wieder Halb¬
uno Zwischenlande eingeschoben werden, die oft nur dem geübtesten Ohr verständlich sind. Die
Umschrift in lateinischen oder deutschen Buchstaben zeigt das Urbild meist nur in groben Zügen.
Um einige uns ganz fremde Klänge wenigstens anzudeuten, sollen gleichwohl in den nachfolgenden
Beispielen das harte l nach polnischer und keltischer Weise durch t, das Jen) (ein dumpfer
J-Laut) durch wiedergegeben werden, obwohl die Aussprache des russischen Buchstabens weder
mit dem französischen i giso, noch mit dem englischen moi, noch auch mit dem griechisch-deutschen
^pÄIon das geringste zu tun hat. Ferner sollen und ?K die sanften Zischlaute bezeichnen,
Is und jii gs) das breite russische s (Jätj), das durch beide Doppelzeichen freilich nur sehr un¬
vollkommen wiedergegeben wird. Dem scharfen », auch nach dem kurzen Vokal, entspricht das
einfache Zeichen.
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[0090] Die Physiognomie der russischen Sprache sich diese Trennungen vollzieh». Die nicht minder zwingenden Gesetze aber, die zu ihnen führten, hießen Raumbedürfnis und Hunger. Sie bewirkten die „Zerdehnung" eines Volkes, das allmähliche Einströmen seines Überschusses in unbesiedelte oder auch in besiedelte Gebiete, deren ursprüngliche Bewohner verdrängt wurden. Und je weiter sich diese Abwanderung erstreckte, um so größer wurde das Stammes- und Sprachgebiet, um so weiter rückten die an der Peripherie ansässigen Teile auch geistig von dem Kern und noch mehr von den an der entgegengesetzten Seite Siedelnden ab. Die natürliche Folge der gesamten Vorgänge aber war, daß zwar jede Gruppe einen wesentlichen Teil des gemein¬ samen Sprachguts bewahrte, einen andern dagegen aufgab oder doch Wurzeln und Endungen unter den mancherlei oft völlig verschiednen Einwirkungen geo¬ graphischer Verhältnisse, innerer Lebenserfahrungen, fremdsprachiger Nachbar¬ schaft verwandelte, abschliff, weiterbildete, ihren Besitz zugleich durch anders¬ artige, neu an sie herantretende Elemente vermehrend. Je näher dabei die Bestandteile der ursprünglichen Volksgemeinschaft, die nun selbst zu Stämmen und Völkern aufwuchsen, einander blieben, um so größer blieb schließlich auch ihre Übereinstimmung in der Sprache. Dieser merkwürdige und doch so natürliche Prozeß aber vollzog sich auch am Russischen. Es genügt hier die jüngern Bildungen des Indogermanischen, also neben den deutschen und den slawischen Mundarten die Sprachen der Griechen und der Römer sowie die von dieser abgeleiteten romanischen in Betracht zu ziehen. Daß wir mit russ. t^, lat., nat., franz. tu, got. tun, engl. trou, neu- hochd. du, ebenso mit tri, griech. r^elf, got. tlirsis, engl. rnrss, übt. drei auf demselben, nur staffelförmig aufsteigenden Boden stehn, leuchtet ohne weiteres ein. Aber auch wenn der Grieche ol^os (früher voiuvs), der Lateiner viuuiu, der Deutsche Wein, der Russe vino sagt, so bewegen sich alle vier innerhalb der Grenzen ältester Gemeinschaft. Ebenso mit ^L^> es inswin, Med und niM^); nox, franz. nuit, nat. notes, engl.niM, Nacht, russ. notsolrj; mit /r/i.«^, llusrs, fließen (engl. to üog-t), russ. xt^ej, xtav?g.ej; «iis, lat. o?i8, deutsch nur mundartlich vorhanden, russ. Ä^g, (geschrieben vo?a); «^s> sal, ssl, sg,1t, Salz, russ. sol — einem Worte, das übrigens anch als uralte Entlehnung eines indogermanischen Es sei gleich hier bemerkt, daß die genaue Wiedergabe der russischen Sprachgebilde mit den uns vertrauten Zeichen schon deshalb eine Unmöglichkeit ist, weil immer wieder Halb¬ uno Zwischenlande eingeschoben werden, die oft nur dem geübtesten Ohr verständlich sind. Die Umschrift in lateinischen oder deutschen Buchstaben zeigt das Urbild meist nur in groben Zügen. Um einige uns ganz fremde Klänge wenigstens anzudeuten, sollen gleichwohl in den nachfolgenden Beispielen das harte l nach polnischer und keltischer Weise durch t, das Jen) (ein dumpfer J-Laut) durch wiedergegeben werden, obwohl die Aussprache des russischen Buchstabens weder mit dem französischen i giso, noch mit dem englischen moi, noch auch mit dem griechisch-deutschen ^pÄIon das geringste zu tun hat. Ferner sollen und ?K die sanften Zischlaute bezeichnen, Is und jii gs) das breite russische s (Jätj), das durch beide Doppelzeichen freilich nur sehr un¬ vollkommen wiedergegeben wird. Dem scharfen », auch nach dem kurzen Vokal, entspricht das einfache Zeichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/90>, abgerufen am 27.12.2024.