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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

Beweis nationaler Eitelkeit gesehen werden, so wird beides verzeihlicher er¬
scheinen, als wenn der Brite mit seinem viel bewunderten RiZnt or vronA --
wz? eomitr^ sogar die schwersten sittlichen Vergehen deckt.

Also die Russen sind Indogermanen und gehören somit dem Kreise der
Völker an, deren Sprachen am höchsten entwickelt und des feinsten Gedanken¬
ausdrucks fähig sind. Ihren besondern Platz aber innerhalb der Familie finden
sie gemeinsam mit allen übrigen Slawen und den eine Art Anhängsel bildenden
Litauern und Letten dicht neben den Deutschen. Freilich wurden sie vor nicht
langer Zeit auch von ihren allernächsten Sippengenossen blindlings abgelehnt.
Ich sehe noch den edeln und hochgebildeten Herrn von Ch .... ki von seinem
Sitze aufspringen, als ich ihn harmlos daran erinnert hatte, daß Polen und
Nüssen, Polnisch und Russisch blutsverwandt seien. Mit wehenden Rockschößen
um den Tisch rasend, stieß er immer wieder den Ruf tiefster Empörung aus:
Verwandt? -- Verwandt!! Auch die von mir hinzugefügte Erklärung beruhigte
ihn nicht; lieber verleugnete er die Elemente der Wissenschaft, als daß er eine
Persönliche Beziehung zu denen anerkannt Hütte, die ihm nichts als die Henker
seines Volkes waren, in einer Zeit zumal, wo die Wunden von 1863 und 1864
noch bluteten. Heute ist das ja nun anders geworden -- ob in Wirklichkeit
oder nur angeblich, dem gemeinsamen Deutschenhaß zuliebe, wird die Zukunft
lehren.

Auf dem Begriffe der nationalen Zusammengehörigkeit und Nachbarschaft
aber beruht nach neuerer Lehre die ganze Sprachgeschichte. Früher galt die
Theorie der Verzweigung, die doch nur ein glänzendes Trugbild hervorrief.
Man nahm an, daß sich nach einer längern Periode gemeinsamen Lebens ein
Teil der ursprünglichen Stammesgenossen unter unbekannten Einwirkungen von
den übrigen trennte und seine eignen Wege ging, besonders auch den der
sprachlichen Fortentwicklung; daß sich ferner derselbe Vorgang innerhalb der
jüngern Gruppe einmal oder mehrmals wiederholte. Das alles, wie sich die
Pflanze in Haupt- und Nebenäste teilt, deren jeder sein eignes Dasein führt,
sprossend, blühend, Früchte tragend, welkend. Aber diese Vorstellung, so be¬
stechend sie war, konnte doch vor dem schärfer prüfenden Blicke nicht bestehn.
Die Schößlinge eines Baumes lösen sich nach dem Naturgesetz von dem Haupt¬
stamm über Nacht und vollständig, wenn sie auch einen Teil ihrer Lebenskraft
noch ferner von ihm oder durch seine Vermittlung empfangen. Konnte sich auch
eine bestimmte Menschengruppe aus einer größern Gemeinschaft lösen, etwa auf
Verabredung, von einem Tage zum andern, nach Teilung des gemeinsamen
Besitzes und mit einem mehr oder weniger höflichen Lebewohl? Etwa wie
Jakob von Laban oder wie Cäsar und Brutus in Schillers Räubern: "Geh
du linkwürts, laß mich rechtwärts gehn"? Und wenn ein vereinzelter Vorgang
solcher Art noch denkbar gewesen wäre, wie hätte er sich innerhalb jeder Volks¬
und Sprachgenossenschaft mehr oder weniger oft erneuern sollen? Nein, nur
langsam, im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht von Jahrtausenden konnten


Grenzboten HI 1906 11
Die Physiognomie der russischen Sprache

Beweis nationaler Eitelkeit gesehen werden, so wird beides verzeihlicher er¬
scheinen, als wenn der Brite mit seinem viel bewunderten RiZnt or vronA —
wz? eomitr^ sogar die schwersten sittlichen Vergehen deckt.

Also die Russen sind Indogermanen und gehören somit dem Kreise der
Völker an, deren Sprachen am höchsten entwickelt und des feinsten Gedanken¬
ausdrucks fähig sind. Ihren besondern Platz aber innerhalb der Familie finden
sie gemeinsam mit allen übrigen Slawen und den eine Art Anhängsel bildenden
Litauern und Letten dicht neben den Deutschen. Freilich wurden sie vor nicht
langer Zeit auch von ihren allernächsten Sippengenossen blindlings abgelehnt.
Ich sehe noch den edeln und hochgebildeten Herrn von Ch .... ki von seinem
Sitze aufspringen, als ich ihn harmlos daran erinnert hatte, daß Polen und
Nüssen, Polnisch und Russisch blutsverwandt seien. Mit wehenden Rockschößen
um den Tisch rasend, stieß er immer wieder den Ruf tiefster Empörung aus:
Verwandt? — Verwandt!! Auch die von mir hinzugefügte Erklärung beruhigte
ihn nicht; lieber verleugnete er die Elemente der Wissenschaft, als daß er eine
Persönliche Beziehung zu denen anerkannt Hütte, die ihm nichts als die Henker
seines Volkes waren, in einer Zeit zumal, wo die Wunden von 1863 und 1864
noch bluteten. Heute ist das ja nun anders geworden — ob in Wirklichkeit
oder nur angeblich, dem gemeinsamen Deutschenhaß zuliebe, wird die Zukunft
lehren.

Auf dem Begriffe der nationalen Zusammengehörigkeit und Nachbarschaft
aber beruht nach neuerer Lehre die ganze Sprachgeschichte. Früher galt die
Theorie der Verzweigung, die doch nur ein glänzendes Trugbild hervorrief.
Man nahm an, daß sich nach einer längern Periode gemeinsamen Lebens ein
Teil der ursprünglichen Stammesgenossen unter unbekannten Einwirkungen von
den übrigen trennte und seine eignen Wege ging, besonders auch den der
sprachlichen Fortentwicklung; daß sich ferner derselbe Vorgang innerhalb der
jüngern Gruppe einmal oder mehrmals wiederholte. Das alles, wie sich die
Pflanze in Haupt- und Nebenäste teilt, deren jeder sein eignes Dasein führt,
sprossend, blühend, Früchte tragend, welkend. Aber diese Vorstellung, so be¬
stechend sie war, konnte doch vor dem schärfer prüfenden Blicke nicht bestehn.
Die Schößlinge eines Baumes lösen sich nach dem Naturgesetz von dem Haupt¬
stamm über Nacht und vollständig, wenn sie auch einen Teil ihrer Lebenskraft
noch ferner von ihm oder durch seine Vermittlung empfangen. Konnte sich auch
eine bestimmte Menschengruppe aus einer größern Gemeinschaft lösen, etwa auf
Verabredung, von einem Tage zum andern, nach Teilung des gemeinsamen
Besitzes und mit einem mehr oder weniger höflichen Lebewohl? Etwa wie
Jakob von Laban oder wie Cäsar und Brutus in Schillers Räubern: „Geh
du linkwürts, laß mich rechtwärts gehn"? Und wenn ein vereinzelter Vorgang
solcher Art noch denkbar gewesen wäre, wie hätte er sich innerhalb jeder Volks¬
und Sprachgenossenschaft mehr oder weniger oft erneuern sollen? Nein, nur
langsam, im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht von Jahrtausenden konnten


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[0089] Die Physiognomie der russischen Sprache Beweis nationaler Eitelkeit gesehen werden, so wird beides verzeihlicher er¬ scheinen, als wenn der Brite mit seinem viel bewunderten RiZnt or vronA — wz? eomitr^ sogar die schwersten sittlichen Vergehen deckt. Also die Russen sind Indogermanen und gehören somit dem Kreise der Völker an, deren Sprachen am höchsten entwickelt und des feinsten Gedanken¬ ausdrucks fähig sind. Ihren besondern Platz aber innerhalb der Familie finden sie gemeinsam mit allen übrigen Slawen und den eine Art Anhängsel bildenden Litauern und Letten dicht neben den Deutschen. Freilich wurden sie vor nicht langer Zeit auch von ihren allernächsten Sippengenossen blindlings abgelehnt. Ich sehe noch den edeln und hochgebildeten Herrn von Ch .... ki von seinem Sitze aufspringen, als ich ihn harmlos daran erinnert hatte, daß Polen und Nüssen, Polnisch und Russisch blutsverwandt seien. Mit wehenden Rockschößen um den Tisch rasend, stieß er immer wieder den Ruf tiefster Empörung aus: Verwandt? — Verwandt!! Auch die von mir hinzugefügte Erklärung beruhigte ihn nicht; lieber verleugnete er die Elemente der Wissenschaft, als daß er eine Persönliche Beziehung zu denen anerkannt Hütte, die ihm nichts als die Henker seines Volkes waren, in einer Zeit zumal, wo die Wunden von 1863 und 1864 noch bluteten. Heute ist das ja nun anders geworden — ob in Wirklichkeit oder nur angeblich, dem gemeinsamen Deutschenhaß zuliebe, wird die Zukunft lehren. Auf dem Begriffe der nationalen Zusammengehörigkeit und Nachbarschaft aber beruht nach neuerer Lehre die ganze Sprachgeschichte. Früher galt die Theorie der Verzweigung, die doch nur ein glänzendes Trugbild hervorrief. Man nahm an, daß sich nach einer längern Periode gemeinsamen Lebens ein Teil der ursprünglichen Stammesgenossen unter unbekannten Einwirkungen von den übrigen trennte und seine eignen Wege ging, besonders auch den der sprachlichen Fortentwicklung; daß sich ferner derselbe Vorgang innerhalb der jüngern Gruppe einmal oder mehrmals wiederholte. Das alles, wie sich die Pflanze in Haupt- und Nebenäste teilt, deren jeder sein eignes Dasein führt, sprossend, blühend, Früchte tragend, welkend. Aber diese Vorstellung, so be¬ stechend sie war, konnte doch vor dem schärfer prüfenden Blicke nicht bestehn. Die Schößlinge eines Baumes lösen sich nach dem Naturgesetz von dem Haupt¬ stamm über Nacht und vollständig, wenn sie auch einen Teil ihrer Lebenskraft noch ferner von ihm oder durch seine Vermittlung empfangen. Konnte sich auch eine bestimmte Menschengruppe aus einer größern Gemeinschaft lösen, etwa auf Verabredung, von einem Tage zum andern, nach Teilung des gemeinsamen Besitzes und mit einem mehr oder weniger höflichen Lebewohl? Etwa wie Jakob von Laban oder wie Cäsar und Brutus in Schillers Räubern: „Geh du linkwürts, laß mich rechtwärts gehn"? Und wenn ein vereinzelter Vorgang solcher Art noch denkbar gewesen wäre, wie hätte er sich innerhalb jeder Volks¬ und Sprachgenossenschaft mehr oder weniger oft erneuern sollen? Nein, nur langsam, im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht von Jahrtausenden konnten Grenzboten HI 1906 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/89>, abgerufen am 23.07.2024.