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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Russische Bauernhochzeit

weg, so fängt die Braut an, "mit der Stimme zu weinen". Vom Tage des Hände-
schlagens an dauert das eine bis zwei Wochen bis zur Hochzeit. Die Braut singt
in weinerlichen Ton Morgens und Abends und improvisiert dabei oft den Text.
Die Melodie ist sehr eintönig. Wenn die Braut zum erstenmal anfängt "zu weinen",
sagt sie z. B. folgendes:

Ach mein Ernährer, gutes Väterchen,
Stell nicht hin die eichenen Tische,
Deck nicht aus die schönen Tischdecken,
Stell nicht hin die feinen Speisen
Und die süßen Weine.
Denn das sind nicht unsre Freunde, unsre Feinde sind es,
Und gekommen sind diese Zerstörer,
Mich von dir zu scheiden, gutes Väterchen,
Und von dir, geliebtes Mütterchen,
Und von meiner Mädchenlieblichkeit
Und von meinem freien Freiheitchen,
Von den Schwestern, den geliebten,
Von den Brüderchen, den guten,
Und den lieben Nachbarinnen.

Dabei "weint" sie unaufhörlich. Nach einiger Zeit tritt die älteste Freundin
auf sie zu und flicht ihr das Haar auf, während die Braut singt:

Ach du meine liebe Freundin,
Heb nicht auf die Hand, die rechte,
Auf mein junges Köpfchen,
Flieht nicht auf den Zopf, den blonden,
Bind nicht aus das Band, das blaue,
Und laßt mich bewundern meine Mädchenschönheit,
Lasset mir mein freies Freihoitchen.

Das alles geschieht spät Abends, bis tief in die Nacht, hinein. Während die
Braut weint und singt, muß sie das Gesicht vollständig mit einem Tuch bedecken.
Den Tag über näht sie mit an der Aussteuer.

Am Tage vor der Hochzeit ist großes Reinemachen. Die Braut wird von
den Freundinnen in die Badestube geführt. Auf dem Wege dahin spricht sie, wenn
sie Waise ist:

In der Badestube angelangt wird sie von ihren Freundinnen gründlich ge¬
scheuert, worauf sie zu ihnen sagt:


Russische Bauernhochzeit

weg, so fängt die Braut an, „mit der Stimme zu weinen". Vom Tage des Hände-
schlagens an dauert das eine bis zwei Wochen bis zur Hochzeit. Die Braut singt
in weinerlichen Ton Morgens und Abends und improvisiert dabei oft den Text.
Die Melodie ist sehr eintönig. Wenn die Braut zum erstenmal anfängt „zu weinen",
sagt sie z. B. folgendes:

Ach mein Ernährer, gutes Väterchen,
Stell nicht hin die eichenen Tische,
Deck nicht aus die schönen Tischdecken,
Stell nicht hin die feinen Speisen
Und die süßen Weine.
Denn das sind nicht unsre Freunde, unsre Feinde sind es,
Und gekommen sind diese Zerstörer,
Mich von dir zu scheiden, gutes Väterchen,
Und von dir, geliebtes Mütterchen,
Und von meiner Mädchenlieblichkeit
Und von meinem freien Freiheitchen,
Von den Schwestern, den geliebten,
Von den Brüderchen, den guten,
Und den lieben Nachbarinnen.

Dabei „weint" sie unaufhörlich. Nach einiger Zeit tritt die älteste Freundin
auf sie zu und flicht ihr das Haar auf, während die Braut singt:

Ach du meine liebe Freundin,
Heb nicht auf die Hand, die rechte,
Auf mein junges Köpfchen,
Flieht nicht auf den Zopf, den blonden,
Bind nicht aus das Band, das blaue,
Und laßt mich bewundern meine Mädchenschönheit,
Lasset mir mein freies Freihoitchen.

Das alles geschieht spät Abends, bis tief in die Nacht, hinein. Während die
Braut weint und singt, muß sie das Gesicht vollständig mit einem Tuch bedecken.
Den Tag über näht sie mit an der Aussteuer.

Am Tage vor der Hochzeit ist großes Reinemachen. Die Braut wird von
den Freundinnen in die Badestube geführt. Auf dem Wege dahin spricht sie, wenn
sie Waise ist:

In der Badestube angelangt wird sie von ihren Freundinnen gründlich ge¬
scheuert, worauf sie zu ihnen sagt:


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[0688] Russische Bauernhochzeit weg, so fängt die Braut an, „mit der Stimme zu weinen". Vom Tage des Hände- schlagens an dauert das eine bis zwei Wochen bis zur Hochzeit. Die Braut singt in weinerlichen Ton Morgens und Abends und improvisiert dabei oft den Text. Die Melodie ist sehr eintönig. Wenn die Braut zum erstenmal anfängt „zu weinen", sagt sie z. B. folgendes: Ach mein Ernährer, gutes Väterchen, Stell nicht hin die eichenen Tische, Deck nicht aus die schönen Tischdecken, Stell nicht hin die feinen Speisen Und die süßen Weine. Denn das sind nicht unsre Freunde, unsre Feinde sind es, Und gekommen sind diese Zerstörer, Mich von dir zu scheiden, gutes Väterchen, Und von dir, geliebtes Mütterchen, Und von meiner Mädchenlieblichkeit Und von meinem freien Freiheitchen, Von den Schwestern, den geliebten, Von den Brüderchen, den guten, Und den lieben Nachbarinnen. Dabei „weint" sie unaufhörlich. Nach einiger Zeit tritt die älteste Freundin auf sie zu und flicht ihr das Haar auf, während die Braut singt: Ach du meine liebe Freundin, Heb nicht auf die Hand, die rechte, Auf mein junges Köpfchen, Flieht nicht auf den Zopf, den blonden, Bind nicht aus das Band, das blaue, Und laßt mich bewundern meine Mädchenschönheit, Lasset mir mein freies Freihoitchen. Das alles geschieht spät Abends, bis tief in die Nacht, hinein. Während die Braut weint und singt, muß sie das Gesicht vollständig mit einem Tuch bedecken. Den Tag über näht sie mit an der Aussteuer. Am Tage vor der Hochzeit ist großes Reinemachen. Die Braut wird von den Freundinnen in die Badestube geführt. Auf dem Wege dahin spricht sie, wenn sie Waise ist: In der Badestube angelangt wird sie von ihren Freundinnen gründlich ge¬ scheuert, worauf sie zu ihnen sagt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/688>, abgerufen am 23.07.2024.