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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunde und Volksleben

Taumel ergriffen, stürzte sich alles in den großen Strudel. Dabei rissen dann
die oft so zarten Fäden, die sich ans der Vergangenheit herüberspannen, und
das geistige Leben wurde so unversehens in einen ganz neuen Boden verpflanzt,
daß manche erst zur Besinnung kamen, als schon alles geschehen und nichts
mehr zu ändern war. Der Zug in die Stadt und das Heransdrängen der
Stadt auf das Land verschoben das Weltbild, werteten alle Werte um und
zauberten glänzende Bilder vor, nach denen mau begierig griff, aber bald er¬
kannte man, daß es Trugbilder waren. Das Alte war inzwischen aufgegeben,
und man wollte und konnte nicht mehr zu ihm zurückkehren. Zwischen dem
"Heute" und dem "Gestern" klaffte ein tiefer Spalt. Den Sprung herüber
hatte man im Taumel gewagt; zu einem kleinen Schritt zurück konnte man den
Mut nicht finden.

So war die Entwicklung jäh, fast unvermittelt unterbrochen. Fast alle
Fäden waren abgerissen. Das Alte schien veraltet und wertlos; man versuchte
gar nicht erst, wieder an es anzuknüpfen. So, wie es war, paßte es tatsächlich
nicht mehr in die veränderten Verhältnisse. Grund genug, es kurzerhand ganz
aufzugeben und zu versuchen, ein Neues zu schaffen. Und hier ist der Punkt,
wo der Zustand anfängt gefährlich zu werden. Denn die Entwicklung macht
leine Sprünge. Und die völlige Ignorierung der Vergangenheit und alles dessen,
was sie geschaffen und hervorgebracht hat, muß sich bitter rächen. Zunächst
erzeugt sie Unruhe, nervöse Hast; und am Ende alles Suchens sieht man sich
doch wohl gezwungen, zum Alten zurückzukehren. Dann sind aber die Fäden
vielleicht nicht mehr aufzufinden; das Verständnis versagt, der Abstand ist immer
größer geworden, und zu spät erkennt man, daß man etwas bewährtes vorschnell
aufgegeben hat, ehe man gleichwertigen Ersatz geschaffen hatte. Noch ist es zum
Glück nicht ganz so weit, noch lassen sich die abgerissenen Fäden wieder auf¬
nehmen. Dadurch aber wird die Frage: Was ist zu tun? sehr klar und einfach. Es
kann nur eine Antwort darauf geben: den abgerissenen Faden wieder aufnehmen,
an das Vorhcmdne anknüpfen, nicht um es wie ein fertiges Kleid über das
werdende Leben zu werfen, sondern um aus ihm die Formen zu schaffen, die dem
Geiste des Alten entsprechen und doch den neuen Bedürfnissen gerecht werden.

Die Entwicklung läßt sich nicht aufhalten und nicht zurückschrauben. Drängt
man ihr Formen auf, die ihr nicht passen, so zersprengt sie sie. Das einzige,
was man tun kann, ist das, daß man sie in Bahnen leitet, in denen sie gesund
bleibt, daß man ihr Stoff bietet, aus dem sie sich neue Formen schafft. Und
diesen Dienst will die Volkskunde dem Volksleben leisten. Nur so faßt sie das
Übel an der Wurzel. Denn der gefahrdrohende Übelstand besteht darin, daß
unser Volksleben haltlos und führerlos geworden ist. Es ist wie ein Kind,
das sich plötzlich mutterseelenallein im dichten Walde wiederfindet. Wo soll es
sich hinwenden? Seit einem Menschenalter ist die Entwicklung jäh unterbrochen.
Der Umschwung und die Umgestaltung der Lebensbedingungen erfolgten zu
schnell; er benahm den Atem. Heute sehen wir das Ergebnis. Die alten


Volkskunde und Volksleben

Taumel ergriffen, stürzte sich alles in den großen Strudel. Dabei rissen dann
die oft so zarten Fäden, die sich ans der Vergangenheit herüberspannen, und
das geistige Leben wurde so unversehens in einen ganz neuen Boden verpflanzt,
daß manche erst zur Besinnung kamen, als schon alles geschehen und nichts
mehr zu ändern war. Der Zug in die Stadt und das Heransdrängen der
Stadt auf das Land verschoben das Weltbild, werteten alle Werte um und
zauberten glänzende Bilder vor, nach denen mau begierig griff, aber bald er¬
kannte man, daß es Trugbilder waren. Das Alte war inzwischen aufgegeben,
und man wollte und konnte nicht mehr zu ihm zurückkehren. Zwischen dem
„Heute" und dem „Gestern" klaffte ein tiefer Spalt. Den Sprung herüber
hatte man im Taumel gewagt; zu einem kleinen Schritt zurück konnte man den
Mut nicht finden.

So war die Entwicklung jäh, fast unvermittelt unterbrochen. Fast alle
Fäden waren abgerissen. Das Alte schien veraltet und wertlos; man versuchte
gar nicht erst, wieder an es anzuknüpfen. So, wie es war, paßte es tatsächlich
nicht mehr in die veränderten Verhältnisse. Grund genug, es kurzerhand ganz
aufzugeben und zu versuchen, ein Neues zu schaffen. Und hier ist der Punkt,
wo der Zustand anfängt gefährlich zu werden. Denn die Entwicklung macht
leine Sprünge. Und die völlige Ignorierung der Vergangenheit und alles dessen,
was sie geschaffen und hervorgebracht hat, muß sich bitter rächen. Zunächst
erzeugt sie Unruhe, nervöse Hast; und am Ende alles Suchens sieht man sich
doch wohl gezwungen, zum Alten zurückzukehren. Dann sind aber die Fäden
vielleicht nicht mehr aufzufinden; das Verständnis versagt, der Abstand ist immer
größer geworden, und zu spät erkennt man, daß man etwas bewährtes vorschnell
aufgegeben hat, ehe man gleichwertigen Ersatz geschaffen hatte. Noch ist es zum
Glück nicht ganz so weit, noch lassen sich die abgerissenen Fäden wieder auf¬
nehmen. Dadurch aber wird die Frage: Was ist zu tun? sehr klar und einfach. Es
kann nur eine Antwort darauf geben: den abgerissenen Faden wieder aufnehmen,
an das Vorhcmdne anknüpfen, nicht um es wie ein fertiges Kleid über das
werdende Leben zu werfen, sondern um aus ihm die Formen zu schaffen, die dem
Geiste des Alten entsprechen und doch den neuen Bedürfnissen gerecht werden.

Die Entwicklung läßt sich nicht aufhalten und nicht zurückschrauben. Drängt
man ihr Formen auf, die ihr nicht passen, so zersprengt sie sie. Das einzige,
was man tun kann, ist das, daß man sie in Bahnen leitet, in denen sie gesund
bleibt, daß man ihr Stoff bietet, aus dem sie sich neue Formen schafft. Und
diesen Dienst will die Volkskunde dem Volksleben leisten. Nur so faßt sie das
Übel an der Wurzel. Denn der gefahrdrohende Übelstand besteht darin, daß
unser Volksleben haltlos und führerlos geworden ist. Es ist wie ein Kind,
das sich plötzlich mutterseelenallein im dichten Walde wiederfindet. Wo soll es
sich hinwenden? Seit einem Menschenalter ist die Entwicklung jäh unterbrochen.
Der Umschwung und die Umgestaltung der Lebensbedingungen erfolgten zu
schnell; er benahm den Atem. Heute sehen wir das Ergebnis. Die alten


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[0682] Volkskunde und Volksleben Taumel ergriffen, stürzte sich alles in den großen Strudel. Dabei rissen dann die oft so zarten Fäden, die sich ans der Vergangenheit herüberspannen, und das geistige Leben wurde so unversehens in einen ganz neuen Boden verpflanzt, daß manche erst zur Besinnung kamen, als schon alles geschehen und nichts mehr zu ändern war. Der Zug in die Stadt und das Heransdrängen der Stadt auf das Land verschoben das Weltbild, werteten alle Werte um und zauberten glänzende Bilder vor, nach denen mau begierig griff, aber bald er¬ kannte man, daß es Trugbilder waren. Das Alte war inzwischen aufgegeben, und man wollte und konnte nicht mehr zu ihm zurückkehren. Zwischen dem „Heute" und dem „Gestern" klaffte ein tiefer Spalt. Den Sprung herüber hatte man im Taumel gewagt; zu einem kleinen Schritt zurück konnte man den Mut nicht finden. So war die Entwicklung jäh, fast unvermittelt unterbrochen. Fast alle Fäden waren abgerissen. Das Alte schien veraltet und wertlos; man versuchte gar nicht erst, wieder an es anzuknüpfen. So, wie es war, paßte es tatsächlich nicht mehr in die veränderten Verhältnisse. Grund genug, es kurzerhand ganz aufzugeben und zu versuchen, ein Neues zu schaffen. Und hier ist der Punkt, wo der Zustand anfängt gefährlich zu werden. Denn die Entwicklung macht leine Sprünge. Und die völlige Ignorierung der Vergangenheit und alles dessen, was sie geschaffen und hervorgebracht hat, muß sich bitter rächen. Zunächst erzeugt sie Unruhe, nervöse Hast; und am Ende alles Suchens sieht man sich doch wohl gezwungen, zum Alten zurückzukehren. Dann sind aber die Fäden vielleicht nicht mehr aufzufinden; das Verständnis versagt, der Abstand ist immer größer geworden, und zu spät erkennt man, daß man etwas bewährtes vorschnell aufgegeben hat, ehe man gleichwertigen Ersatz geschaffen hatte. Noch ist es zum Glück nicht ganz so weit, noch lassen sich die abgerissenen Fäden wieder auf¬ nehmen. Dadurch aber wird die Frage: Was ist zu tun? sehr klar und einfach. Es kann nur eine Antwort darauf geben: den abgerissenen Faden wieder aufnehmen, an das Vorhcmdne anknüpfen, nicht um es wie ein fertiges Kleid über das werdende Leben zu werfen, sondern um aus ihm die Formen zu schaffen, die dem Geiste des Alten entsprechen und doch den neuen Bedürfnissen gerecht werden. Die Entwicklung läßt sich nicht aufhalten und nicht zurückschrauben. Drängt man ihr Formen auf, die ihr nicht passen, so zersprengt sie sie. Das einzige, was man tun kann, ist das, daß man sie in Bahnen leitet, in denen sie gesund bleibt, daß man ihr Stoff bietet, aus dem sie sich neue Formen schafft. Und diesen Dienst will die Volkskunde dem Volksleben leisten. Nur so faßt sie das Übel an der Wurzel. Denn der gefahrdrohende Übelstand besteht darin, daß unser Volksleben haltlos und führerlos geworden ist. Es ist wie ein Kind, das sich plötzlich mutterseelenallein im dichten Walde wiederfindet. Wo soll es sich hinwenden? Seit einem Menschenalter ist die Entwicklung jäh unterbrochen. Der Umschwung und die Umgestaltung der Lebensbedingungen erfolgten zu schnell; er benahm den Atem. Heute sehen wir das Ergebnis. Die alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/682>, abgerufen am 23.07.2024.