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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunde und Volksleben

Lebensformen liegen zerbrochen, zersprengt am Boden. Eine nutzlose Mühe
wahrlich, die Scherben zu sammeln und aus ihnen ein brauchbares Gefäß
zusammenkitten zu wollen! Also sie wegkehren und auf den Schutthaufen
werfen? Das wäre das andre Extrem, das ebenso töricht wäre. Sie sind
doch noch zu etwas nütze. Und wenn man sie zusammenfügt und aufbewahrt,
sie geben kein brauchbares Gefäß mehr; aber sie können als Vorbild und
Muster dienen, um ein neues Gefäß zu schaffen, größer und weiter, das nun
den neuen Inhalt zu fassen vermag.

Nur in diesem Sinne wollen die volkskundlichen Bestrebungen verstanden
sein. Sie sammeln sorgfältig und mit liebevollem Bemühen, was sich an Resten
volkstümlichen Lebens zusammentragen läßt. Aber nur, um daraus ein Bild
der Vergangenheit zu entwerfen, um den Geist und die treibenden Kräfte zu
ergründen, die einst diesen wunderbaren Reichtum an Formen und Gestalten
schufen. Diesen Geist des volkstümlichen Wesens zu erfassen, ist allein Zweck
und Ziel. Und nur das verdient den Namen "Volkskunde", was so vom
Äußerlichen zum Innerlichen, von der Form zum Inhalt vorzudringen vermag.
Alle Form ist etwas sekundäres; alle Form ist Produkt der Entwicklung und
vergeht wieder, wenn ihre Zeit vorüber ist. Was aber bleibt, immer lebendig
und schöpferisch kräftig, das ist der Geist, der sich die Formen schuf. Und daß
dieser Geist sich selber treu bleibe, daß er sich nicht verblenden lasse und sich
nicht verirre, daß er die Bahn, aus der er herausgeschleudert wurde, wiederfinde
und nun selbstsicher und selbstbewußt weiter schreite, seiner Vergangenheit treu und
doch aufgeschlossen für das moderne Leben und seine Anforderungen, das will die
Volkskunde erreichen, und das ist auch ein Ziel, das sie erreichen kann.

Aus all der Mannigfaltigkeit und dem bunten Reichtum volksmäßigen
Gestaltens und Schaffens tritt uns als der innerste Kern, wieder erkennbar
trotz tausendfacher Verkleidung, entgegen: charaktervolles Selbstbewußtsein, boden¬
ständige Art, schöpferische Gestaltungskraft, stolzes Unabhängigkeitsgefühl, das
sich für zu schade hält, hinter andern herzulaufen, das wohl auch fremdes Gut
übernimmt, aber nicht ohne ihm den Stempel seines Wesens aufzudrücken und
es sich innerlich anzueignen. Und diese innerste Kraft des Voltstunis ist in
Gefahr, sich selbst zu vergessen. Sie ist von dem vielen Neuen, das auf sie
eindringt, geblendet; sie gibt ihr Eigenstes dahin und nimmt sich Fremdes,
Unverstcmdncs, Unbrauchbares. Sie hängt sich ein Kleid um, bunten Flitter
und Dutzendware und verachtet das selbstgewebte Gewand. Sie läßt sich Formen
aufdrängen, die ihrem innersten Wesen fremd sind, die nicht in ihrem Heimat-
boden gewachsen sind, die überhaupt nicht gewachsen, sondern zusammengeleimt
sind von solchen, die von volkstümlichen Wesen keine Ahnung haben. All diesen
Widersinn nimmt sie ruhig in den Kauf, weil das Unverstandne, Neue sie reizt,
lockt und blendet. Darum schwinden Tracht und Sitte, das Leben wird kahl
und ode. Darum schämt sich der Bauer seiner Mundart und radebrecht ein
unmögliches Hochdeutsch; darum läßt er sich Wohnhäuser und Kirchen bauen,


Volkskunde und Volksleben

Lebensformen liegen zerbrochen, zersprengt am Boden. Eine nutzlose Mühe
wahrlich, die Scherben zu sammeln und aus ihnen ein brauchbares Gefäß
zusammenkitten zu wollen! Also sie wegkehren und auf den Schutthaufen
werfen? Das wäre das andre Extrem, das ebenso töricht wäre. Sie sind
doch noch zu etwas nütze. Und wenn man sie zusammenfügt und aufbewahrt,
sie geben kein brauchbares Gefäß mehr; aber sie können als Vorbild und
Muster dienen, um ein neues Gefäß zu schaffen, größer und weiter, das nun
den neuen Inhalt zu fassen vermag.

Nur in diesem Sinne wollen die volkskundlichen Bestrebungen verstanden
sein. Sie sammeln sorgfältig und mit liebevollem Bemühen, was sich an Resten
volkstümlichen Lebens zusammentragen läßt. Aber nur, um daraus ein Bild
der Vergangenheit zu entwerfen, um den Geist und die treibenden Kräfte zu
ergründen, die einst diesen wunderbaren Reichtum an Formen und Gestalten
schufen. Diesen Geist des volkstümlichen Wesens zu erfassen, ist allein Zweck
und Ziel. Und nur das verdient den Namen „Volkskunde", was so vom
Äußerlichen zum Innerlichen, von der Form zum Inhalt vorzudringen vermag.
Alle Form ist etwas sekundäres; alle Form ist Produkt der Entwicklung und
vergeht wieder, wenn ihre Zeit vorüber ist. Was aber bleibt, immer lebendig
und schöpferisch kräftig, das ist der Geist, der sich die Formen schuf. Und daß
dieser Geist sich selber treu bleibe, daß er sich nicht verblenden lasse und sich
nicht verirre, daß er die Bahn, aus der er herausgeschleudert wurde, wiederfinde
und nun selbstsicher und selbstbewußt weiter schreite, seiner Vergangenheit treu und
doch aufgeschlossen für das moderne Leben und seine Anforderungen, das will die
Volkskunde erreichen, und das ist auch ein Ziel, das sie erreichen kann.

Aus all der Mannigfaltigkeit und dem bunten Reichtum volksmäßigen
Gestaltens und Schaffens tritt uns als der innerste Kern, wieder erkennbar
trotz tausendfacher Verkleidung, entgegen: charaktervolles Selbstbewußtsein, boden¬
ständige Art, schöpferische Gestaltungskraft, stolzes Unabhängigkeitsgefühl, das
sich für zu schade hält, hinter andern herzulaufen, das wohl auch fremdes Gut
übernimmt, aber nicht ohne ihm den Stempel seines Wesens aufzudrücken und
es sich innerlich anzueignen. Und diese innerste Kraft des Voltstunis ist in
Gefahr, sich selbst zu vergessen. Sie ist von dem vielen Neuen, das auf sie
eindringt, geblendet; sie gibt ihr Eigenstes dahin und nimmt sich Fremdes,
Unverstcmdncs, Unbrauchbares. Sie hängt sich ein Kleid um, bunten Flitter
und Dutzendware und verachtet das selbstgewebte Gewand. Sie läßt sich Formen
aufdrängen, die ihrem innersten Wesen fremd sind, die nicht in ihrem Heimat-
boden gewachsen sind, die überhaupt nicht gewachsen, sondern zusammengeleimt
sind von solchen, die von volkstümlichen Wesen keine Ahnung haben. All diesen
Widersinn nimmt sie ruhig in den Kauf, weil das Unverstandne, Neue sie reizt,
lockt und blendet. Darum schwinden Tracht und Sitte, das Leben wird kahl
und ode. Darum schämt sich der Bauer seiner Mundart und radebrecht ein
unmögliches Hochdeutsch; darum läßt er sich Wohnhäuser und Kirchen bauen,


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[0683] Volkskunde und Volksleben Lebensformen liegen zerbrochen, zersprengt am Boden. Eine nutzlose Mühe wahrlich, die Scherben zu sammeln und aus ihnen ein brauchbares Gefäß zusammenkitten zu wollen! Also sie wegkehren und auf den Schutthaufen werfen? Das wäre das andre Extrem, das ebenso töricht wäre. Sie sind doch noch zu etwas nütze. Und wenn man sie zusammenfügt und aufbewahrt, sie geben kein brauchbares Gefäß mehr; aber sie können als Vorbild und Muster dienen, um ein neues Gefäß zu schaffen, größer und weiter, das nun den neuen Inhalt zu fassen vermag. Nur in diesem Sinne wollen die volkskundlichen Bestrebungen verstanden sein. Sie sammeln sorgfältig und mit liebevollem Bemühen, was sich an Resten volkstümlichen Lebens zusammentragen läßt. Aber nur, um daraus ein Bild der Vergangenheit zu entwerfen, um den Geist und die treibenden Kräfte zu ergründen, die einst diesen wunderbaren Reichtum an Formen und Gestalten schufen. Diesen Geist des volkstümlichen Wesens zu erfassen, ist allein Zweck und Ziel. Und nur das verdient den Namen „Volkskunde", was so vom Äußerlichen zum Innerlichen, von der Form zum Inhalt vorzudringen vermag. Alle Form ist etwas sekundäres; alle Form ist Produkt der Entwicklung und vergeht wieder, wenn ihre Zeit vorüber ist. Was aber bleibt, immer lebendig und schöpferisch kräftig, das ist der Geist, der sich die Formen schuf. Und daß dieser Geist sich selber treu bleibe, daß er sich nicht verblenden lasse und sich nicht verirre, daß er die Bahn, aus der er herausgeschleudert wurde, wiederfinde und nun selbstsicher und selbstbewußt weiter schreite, seiner Vergangenheit treu und doch aufgeschlossen für das moderne Leben und seine Anforderungen, das will die Volkskunde erreichen, und das ist auch ein Ziel, das sie erreichen kann. Aus all der Mannigfaltigkeit und dem bunten Reichtum volksmäßigen Gestaltens und Schaffens tritt uns als der innerste Kern, wieder erkennbar trotz tausendfacher Verkleidung, entgegen: charaktervolles Selbstbewußtsein, boden¬ ständige Art, schöpferische Gestaltungskraft, stolzes Unabhängigkeitsgefühl, das sich für zu schade hält, hinter andern herzulaufen, das wohl auch fremdes Gut übernimmt, aber nicht ohne ihm den Stempel seines Wesens aufzudrücken und es sich innerlich anzueignen. Und diese innerste Kraft des Voltstunis ist in Gefahr, sich selbst zu vergessen. Sie ist von dem vielen Neuen, das auf sie eindringt, geblendet; sie gibt ihr Eigenstes dahin und nimmt sich Fremdes, Unverstcmdncs, Unbrauchbares. Sie hängt sich ein Kleid um, bunten Flitter und Dutzendware und verachtet das selbstgewebte Gewand. Sie läßt sich Formen aufdrängen, die ihrem innersten Wesen fremd sind, die nicht in ihrem Heimat- boden gewachsen sind, die überhaupt nicht gewachsen, sondern zusammengeleimt sind von solchen, die von volkstümlichen Wesen keine Ahnung haben. All diesen Widersinn nimmt sie ruhig in den Kauf, weil das Unverstandne, Neue sie reizt, lockt und blendet. Darum schwinden Tracht und Sitte, das Leben wird kahl und ode. Darum schämt sich der Bauer seiner Mundart und radebrecht ein unmögliches Hochdeutsch; darum läßt er sich Wohnhäuser und Kirchen bauen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/683>, abgerufen am 23.07.2024.