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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunde und Volksleben

und verschwendet kostbare Zeit und wertvolle Arbeitskraft um nutzlose Versuche.
Wohlgemeinter, aber schlecht berntner Eifer kann viel Unheil anrichten, weil er
die Verhältnisse verschiebt, sich an ganz unwesentlichen Stellen vergeblich müht
und darüber die Arbeiten an Punkten ruhn laßt, die wirklich gefährdet sind.
Welches siud nun solche Punkte? Warum ist überhaupt heute Gefahr vor¬
handen, wenn sich doch nur wiederholt, was schou hundertmal in der Entwick¬
lung volksmäßigcr Formen dagewesen ist?

Warum heute Gefahr vorhanden ist, wenn nicht die Auflösung volkstüm¬
licher Formen an sich die Gefahr bedeutet? Weil diese Auflösung heute unter
ganz andern Bedingungen vor sich geht als früher. Was wir auf dem Gebiete
des Volkstums beobachten, ist nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten geistigen
und wirtschaftlichen Lebens. Dort wiederholt sich genau dasselbe, was wir hier
vor sich gehn sehen. Das Charakteristische dieser Vorgänge ist dies: ein Ab¬
brechen der Tradition, ein Zerreißen der Faden, die Vergangenheit und Gegen¬
wart miteinander verknüpfen. Man sucht ein Neues, aber dieses Neue soll etwas
völlig Neues sein, wie es noch nie dagewesen ist. Es soll sich nicht in orga¬
nischer Entwicklung aus der Vergangenheit und dem, was sie schuf, heraus¬
bilden! es soll fertig dem schöpferischen Geiste entquellen, wie Minerva dem
Haupte des Zeus entsprang. Unmittelbar, ohne Vorstufen, ohne Vorbereitung,
ohne zeitliche Zusammenhange, ohne zeitliche Abhängigkeit soll es eines Tags
da sein, ein herrliches göttliches Wunder und in seiner Unabhängigkeit von
allen äußern und innern Vorbedingungen und allen kausalen Voraussetzungen
zugleich selbst ein Beweis seines höhern, übernatürlichen, göttlichen Ursprungs.
Daher dieses Suchen und Tasten, diese Nervosität und Unruhe auf allen Ge¬
bieten des geistigen Lebens, des künstlerischen zumal. Das ist nicht der sichere
Schritt der Entwicklung, die, sich an Vorhcmdnes anlehnend und vom Ge¬
wonnenen geleitet, nun eine Strecke weiter vordrängt, sondern das ist zumeist
ein gequältes Hinaufschrauben, eine rcklamesüchtige und sensationsbegierige
Neuerungssucht, ein schwächliches, in sich uneiniges und ungewisses Vorantappen
wie der Gang eines Blinden, der sich mit suchenden Händen und ängstlichem
Gesicht seinen Weg herausfühlen muß; und wenn es hoch kommt, ist es ein
kühner, gewagter Sprung ins Unbekannte, ein verwegner Vorstoß, der alle
Brücken hinter sich abbricht.

Das Volksleben zeigt dieselbe geistige Signatur. Auch hier eine Unruhe,
eine Hast, eine Überstürzung, mit der man ein altes Haus abbricht, ehe das
neue fertig ist, sodaß man obdachlos umherirrt. Die Gründe zu untersuchen,
würde hier zu weit abführen. Nur kurz sei angedeutet, daß der ungeheure
Umschwung und Aufschwung des Wirtschaftslebens, das Aufkommen neuer Wirt¬
schaftsbetriebe, das Anwachse" der Städte, das ja wieder nur eine Folge der
Ausbreitung des Verkehrswesens war, einen so ganz andern Boden schufen und
die geistige Atmosphäre so völlig veränderten, daß die Entwicklung über viele
Köpfe hinwcgraste und eines die Widerstrebenden mit sich riß. Wie von einem


Volkskunde und Volksleben

und verschwendet kostbare Zeit und wertvolle Arbeitskraft um nutzlose Versuche.
Wohlgemeinter, aber schlecht berntner Eifer kann viel Unheil anrichten, weil er
die Verhältnisse verschiebt, sich an ganz unwesentlichen Stellen vergeblich müht
und darüber die Arbeiten an Punkten ruhn laßt, die wirklich gefährdet sind.
Welches siud nun solche Punkte? Warum ist überhaupt heute Gefahr vor¬
handen, wenn sich doch nur wiederholt, was schou hundertmal in der Entwick¬
lung volksmäßigcr Formen dagewesen ist?

Warum heute Gefahr vorhanden ist, wenn nicht die Auflösung volkstüm¬
licher Formen an sich die Gefahr bedeutet? Weil diese Auflösung heute unter
ganz andern Bedingungen vor sich geht als früher. Was wir auf dem Gebiete
des Volkstums beobachten, ist nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten geistigen
und wirtschaftlichen Lebens. Dort wiederholt sich genau dasselbe, was wir hier
vor sich gehn sehen. Das Charakteristische dieser Vorgänge ist dies: ein Ab¬
brechen der Tradition, ein Zerreißen der Faden, die Vergangenheit und Gegen¬
wart miteinander verknüpfen. Man sucht ein Neues, aber dieses Neue soll etwas
völlig Neues sein, wie es noch nie dagewesen ist. Es soll sich nicht in orga¬
nischer Entwicklung aus der Vergangenheit und dem, was sie schuf, heraus¬
bilden! es soll fertig dem schöpferischen Geiste entquellen, wie Minerva dem
Haupte des Zeus entsprang. Unmittelbar, ohne Vorstufen, ohne Vorbereitung,
ohne zeitliche Zusammenhange, ohne zeitliche Abhängigkeit soll es eines Tags
da sein, ein herrliches göttliches Wunder und in seiner Unabhängigkeit von
allen äußern und innern Vorbedingungen und allen kausalen Voraussetzungen
zugleich selbst ein Beweis seines höhern, übernatürlichen, göttlichen Ursprungs.
Daher dieses Suchen und Tasten, diese Nervosität und Unruhe auf allen Ge¬
bieten des geistigen Lebens, des künstlerischen zumal. Das ist nicht der sichere
Schritt der Entwicklung, die, sich an Vorhcmdnes anlehnend und vom Ge¬
wonnenen geleitet, nun eine Strecke weiter vordrängt, sondern das ist zumeist
ein gequältes Hinaufschrauben, eine rcklamesüchtige und sensationsbegierige
Neuerungssucht, ein schwächliches, in sich uneiniges und ungewisses Vorantappen
wie der Gang eines Blinden, der sich mit suchenden Händen und ängstlichem
Gesicht seinen Weg herausfühlen muß; und wenn es hoch kommt, ist es ein
kühner, gewagter Sprung ins Unbekannte, ein verwegner Vorstoß, der alle
Brücken hinter sich abbricht.

Das Volksleben zeigt dieselbe geistige Signatur. Auch hier eine Unruhe,
eine Hast, eine Überstürzung, mit der man ein altes Haus abbricht, ehe das
neue fertig ist, sodaß man obdachlos umherirrt. Die Gründe zu untersuchen,
würde hier zu weit abführen. Nur kurz sei angedeutet, daß der ungeheure
Umschwung und Aufschwung des Wirtschaftslebens, das Aufkommen neuer Wirt¬
schaftsbetriebe, das Anwachse» der Städte, das ja wieder nur eine Folge der
Ausbreitung des Verkehrswesens war, einen so ganz andern Boden schufen und
die geistige Atmosphäre so völlig veränderten, daß die Entwicklung über viele
Köpfe hinwcgraste und eines die Widerstrebenden mit sich riß. Wie von einem


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[0681] Volkskunde und Volksleben und verschwendet kostbare Zeit und wertvolle Arbeitskraft um nutzlose Versuche. Wohlgemeinter, aber schlecht berntner Eifer kann viel Unheil anrichten, weil er die Verhältnisse verschiebt, sich an ganz unwesentlichen Stellen vergeblich müht und darüber die Arbeiten an Punkten ruhn laßt, die wirklich gefährdet sind. Welches siud nun solche Punkte? Warum ist überhaupt heute Gefahr vor¬ handen, wenn sich doch nur wiederholt, was schou hundertmal in der Entwick¬ lung volksmäßigcr Formen dagewesen ist? Warum heute Gefahr vorhanden ist, wenn nicht die Auflösung volkstüm¬ licher Formen an sich die Gefahr bedeutet? Weil diese Auflösung heute unter ganz andern Bedingungen vor sich geht als früher. Was wir auf dem Gebiete des Volkstums beobachten, ist nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten geistigen und wirtschaftlichen Lebens. Dort wiederholt sich genau dasselbe, was wir hier vor sich gehn sehen. Das Charakteristische dieser Vorgänge ist dies: ein Ab¬ brechen der Tradition, ein Zerreißen der Faden, die Vergangenheit und Gegen¬ wart miteinander verknüpfen. Man sucht ein Neues, aber dieses Neue soll etwas völlig Neues sein, wie es noch nie dagewesen ist. Es soll sich nicht in orga¬ nischer Entwicklung aus der Vergangenheit und dem, was sie schuf, heraus¬ bilden! es soll fertig dem schöpferischen Geiste entquellen, wie Minerva dem Haupte des Zeus entsprang. Unmittelbar, ohne Vorstufen, ohne Vorbereitung, ohne zeitliche Zusammenhange, ohne zeitliche Abhängigkeit soll es eines Tags da sein, ein herrliches göttliches Wunder und in seiner Unabhängigkeit von allen äußern und innern Vorbedingungen und allen kausalen Voraussetzungen zugleich selbst ein Beweis seines höhern, übernatürlichen, göttlichen Ursprungs. Daher dieses Suchen und Tasten, diese Nervosität und Unruhe auf allen Ge¬ bieten des geistigen Lebens, des künstlerischen zumal. Das ist nicht der sichere Schritt der Entwicklung, die, sich an Vorhcmdnes anlehnend und vom Ge¬ wonnenen geleitet, nun eine Strecke weiter vordrängt, sondern das ist zumeist ein gequältes Hinaufschrauben, eine rcklamesüchtige und sensationsbegierige Neuerungssucht, ein schwächliches, in sich uneiniges und ungewisses Vorantappen wie der Gang eines Blinden, der sich mit suchenden Händen und ängstlichem Gesicht seinen Weg herausfühlen muß; und wenn es hoch kommt, ist es ein kühner, gewagter Sprung ins Unbekannte, ein verwegner Vorstoß, der alle Brücken hinter sich abbricht. Das Volksleben zeigt dieselbe geistige Signatur. Auch hier eine Unruhe, eine Hast, eine Überstürzung, mit der man ein altes Haus abbricht, ehe das neue fertig ist, sodaß man obdachlos umherirrt. Die Gründe zu untersuchen, würde hier zu weit abführen. Nur kurz sei angedeutet, daß der ungeheure Umschwung und Aufschwung des Wirtschaftslebens, das Aufkommen neuer Wirt¬ schaftsbetriebe, das Anwachse» der Städte, das ja wieder nur eine Folge der Ausbreitung des Verkehrswesens war, einen so ganz andern Boden schufen und die geistige Atmosphäre so völlig veränderten, daß die Entwicklung über viele Köpfe hinwcgraste und eines die Widerstrebenden mit sich riß. Wie von einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/681>, abgerufen am 23.07.2024.