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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Tiebestätigkeit

umgestaltet hat, umgestaltet, indem Pfarramt und Gemeinde längst in weitesten
Maße die Arbeit der innern Mission in Kindergottesdiensten, Jünglings- und
Jnngfrauenvereinen, Blättern und Besuchsvereinen in sich aufgenommen haben.
Und ich meine, das dürfen wir sagen: jwenn je durch irgendwelche Kata¬
strophen unsre Landeskirche in ihrer äußern Organisation zerstört werden
sollte, hilflos stünde jetzt die Kirche nicht mehr da; sie hat in den Arbeitern
und Arbeiterinnen der innern Mission, in den Mitarbeitenden in den Gemeinden
einen geübten Unteroffizier- und Offizierstand, der unter der Wucht der Not
mit Gottes Hilfe wohl fähig sein würde, eine im Volk wurzelnde Kirche ohne
Anlehnung an staatliche Stützen zu behaupten.

Sechstens ist durch die Liebesarbeit eins erreicht, was auf keinem andern
Wege erreicht werden kann: die Konföderation der verschiednen evangelischen
Bekenntnisse. Die staatlich eingeführte Union in Preußen hatte den alten
unheilvollen Zwist zwischen lutherisch und reformiert wieder heraufbeschworen
und statt der Einigung eine dritte Partei, die von den beiden andern am
meisten gehaßte "Union" geschaffen. Der Liebesarbeit ists gelungen, die
Konföderation, das gemeinsame Wirken und damit das gegenseitige Sichver-
stehn ins Werk zu setzen. So schroff ablehnend sich der streng-lutherische
Löhe in Neuendettelsau stellen mochte, längst wirken im Kaiserswerther Ver¬
bände -- nur als ein Beispiel sei das genannt -- streng lutherische Häuser
wie Dresden, Hannover zusammen mit reformierten und unierten. Längst ist
auf dem ganzen Gebiet der Heidenmission die praktische Konföderation und
die brüderliche Unterstützung aller evangelischen Missionen untereinander (mit
alleiniger Ausnahme der romanisierenden Ausbreituugsgesellschaft) eine Tat¬
sache geworden. Und hören wir nicht in unsern Tagen von einem Zusammen¬
schluß aller deutsch-evangelischen Landeskirchen? Und ihr erstes ganz kleines
gemeinsames Wirkungsgebiet, was ists? Eine Liebesarbeit: die Unterstützung
der schwachen deutsch-evangelischen Gemeinden im Auslande.

Und nun zum letzten und wichtigsten Punkt: Was ist erreicht mit der
christlichen Liebesarbeit? Das ist erreicht, daß in unsrer realistischen Zeit, die an
keine Wunder glauben mag, die nur will gelten lassen, was sie mit Augen sehen
und mit Händen greifen kann, daß in dieser realistischen Zeit die reale Macht
des Christentums vor den Augen des modernen Menschen erwiesen ist. Ein
Grundgesetz des modernen Denkens ist das Kausalitätsgesetz: keine Wirkung
kann da sein, wenn nicht eine Ursache dagewesen ist. Die Wirkungen sind
da, so sehr man sie anfänglich bezweifelte und verspottete: die Diakonissen¬
häuser mit ihren Schwesternscharen und die das ganze Volksleben durch¬
ziehende vielgestaltete Tat der innern Mission und dazu die Scharen der be¬
kehrten Heiden, die aus den höchststehenden Kulturvölkern, wie der Be¬
gründer der christlichen Hochschule in Japan Joseph Nisima und ihr jetziger
Direktor, der zugleich der Präsident des japanischen Reichstags ist, und ebenso
die Bekehrten aus den am tiefsten stehenden Völkern, denen eine vorschnelle


Christliche Tiebestätigkeit

umgestaltet hat, umgestaltet, indem Pfarramt und Gemeinde längst in weitesten
Maße die Arbeit der innern Mission in Kindergottesdiensten, Jünglings- und
Jnngfrauenvereinen, Blättern und Besuchsvereinen in sich aufgenommen haben.
Und ich meine, das dürfen wir sagen: jwenn je durch irgendwelche Kata¬
strophen unsre Landeskirche in ihrer äußern Organisation zerstört werden
sollte, hilflos stünde jetzt die Kirche nicht mehr da; sie hat in den Arbeitern
und Arbeiterinnen der innern Mission, in den Mitarbeitenden in den Gemeinden
einen geübten Unteroffizier- und Offizierstand, der unter der Wucht der Not
mit Gottes Hilfe wohl fähig sein würde, eine im Volk wurzelnde Kirche ohne
Anlehnung an staatliche Stützen zu behaupten.

Sechstens ist durch die Liebesarbeit eins erreicht, was auf keinem andern
Wege erreicht werden kann: die Konföderation der verschiednen evangelischen
Bekenntnisse. Die staatlich eingeführte Union in Preußen hatte den alten
unheilvollen Zwist zwischen lutherisch und reformiert wieder heraufbeschworen
und statt der Einigung eine dritte Partei, die von den beiden andern am
meisten gehaßte „Union" geschaffen. Der Liebesarbeit ists gelungen, die
Konföderation, das gemeinsame Wirken und damit das gegenseitige Sichver-
stehn ins Werk zu setzen. So schroff ablehnend sich der streng-lutherische
Löhe in Neuendettelsau stellen mochte, längst wirken im Kaiserswerther Ver¬
bände — nur als ein Beispiel sei das genannt — streng lutherische Häuser
wie Dresden, Hannover zusammen mit reformierten und unierten. Längst ist
auf dem ganzen Gebiet der Heidenmission die praktische Konföderation und
die brüderliche Unterstützung aller evangelischen Missionen untereinander (mit
alleiniger Ausnahme der romanisierenden Ausbreituugsgesellschaft) eine Tat¬
sache geworden. Und hören wir nicht in unsern Tagen von einem Zusammen¬
schluß aller deutsch-evangelischen Landeskirchen? Und ihr erstes ganz kleines
gemeinsames Wirkungsgebiet, was ists? Eine Liebesarbeit: die Unterstützung
der schwachen deutsch-evangelischen Gemeinden im Auslande.

Und nun zum letzten und wichtigsten Punkt: Was ist erreicht mit der
christlichen Liebesarbeit? Das ist erreicht, daß in unsrer realistischen Zeit, die an
keine Wunder glauben mag, die nur will gelten lassen, was sie mit Augen sehen
und mit Händen greifen kann, daß in dieser realistischen Zeit die reale Macht
des Christentums vor den Augen des modernen Menschen erwiesen ist. Ein
Grundgesetz des modernen Denkens ist das Kausalitätsgesetz: keine Wirkung
kann da sein, wenn nicht eine Ursache dagewesen ist. Die Wirkungen sind
da, so sehr man sie anfänglich bezweifelte und verspottete: die Diakonissen¬
häuser mit ihren Schwesternscharen und die das ganze Volksleben durch¬
ziehende vielgestaltete Tat der innern Mission und dazu die Scharen der be¬
kehrten Heiden, die aus den höchststehenden Kulturvölkern, wie der Be¬
gründer der christlichen Hochschule in Japan Joseph Nisima und ihr jetziger
Direktor, der zugleich der Präsident des japanischen Reichstags ist, und ebenso
die Bekehrten aus den am tiefsten stehenden Völkern, denen eine vorschnelle


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[0613] Christliche Tiebestätigkeit umgestaltet hat, umgestaltet, indem Pfarramt und Gemeinde längst in weitesten Maße die Arbeit der innern Mission in Kindergottesdiensten, Jünglings- und Jnngfrauenvereinen, Blättern und Besuchsvereinen in sich aufgenommen haben. Und ich meine, das dürfen wir sagen: jwenn je durch irgendwelche Kata¬ strophen unsre Landeskirche in ihrer äußern Organisation zerstört werden sollte, hilflos stünde jetzt die Kirche nicht mehr da; sie hat in den Arbeitern und Arbeiterinnen der innern Mission, in den Mitarbeitenden in den Gemeinden einen geübten Unteroffizier- und Offizierstand, der unter der Wucht der Not mit Gottes Hilfe wohl fähig sein würde, eine im Volk wurzelnde Kirche ohne Anlehnung an staatliche Stützen zu behaupten. Sechstens ist durch die Liebesarbeit eins erreicht, was auf keinem andern Wege erreicht werden kann: die Konföderation der verschiednen evangelischen Bekenntnisse. Die staatlich eingeführte Union in Preußen hatte den alten unheilvollen Zwist zwischen lutherisch und reformiert wieder heraufbeschworen und statt der Einigung eine dritte Partei, die von den beiden andern am meisten gehaßte „Union" geschaffen. Der Liebesarbeit ists gelungen, die Konföderation, das gemeinsame Wirken und damit das gegenseitige Sichver- stehn ins Werk zu setzen. So schroff ablehnend sich der streng-lutherische Löhe in Neuendettelsau stellen mochte, längst wirken im Kaiserswerther Ver¬ bände — nur als ein Beispiel sei das genannt — streng lutherische Häuser wie Dresden, Hannover zusammen mit reformierten und unierten. Längst ist auf dem ganzen Gebiet der Heidenmission die praktische Konföderation und die brüderliche Unterstützung aller evangelischen Missionen untereinander (mit alleiniger Ausnahme der romanisierenden Ausbreituugsgesellschaft) eine Tat¬ sache geworden. Und hören wir nicht in unsern Tagen von einem Zusammen¬ schluß aller deutsch-evangelischen Landeskirchen? Und ihr erstes ganz kleines gemeinsames Wirkungsgebiet, was ists? Eine Liebesarbeit: die Unterstützung der schwachen deutsch-evangelischen Gemeinden im Auslande. Und nun zum letzten und wichtigsten Punkt: Was ist erreicht mit der christlichen Liebesarbeit? Das ist erreicht, daß in unsrer realistischen Zeit, die an keine Wunder glauben mag, die nur will gelten lassen, was sie mit Augen sehen und mit Händen greifen kann, daß in dieser realistischen Zeit die reale Macht des Christentums vor den Augen des modernen Menschen erwiesen ist. Ein Grundgesetz des modernen Denkens ist das Kausalitätsgesetz: keine Wirkung kann da sein, wenn nicht eine Ursache dagewesen ist. Die Wirkungen sind da, so sehr man sie anfänglich bezweifelte und verspottete: die Diakonissen¬ häuser mit ihren Schwesternscharen und die das ganze Volksleben durch¬ ziehende vielgestaltete Tat der innern Mission und dazu die Scharen der be¬ kehrten Heiden, die aus den höchststehenden Kulturvölkern, wie der Be¬ gründer der christlichen Hochschule in Japan Joseph Nisima und ihr jetziger Direktor, der zugleich der Präsident des japanischen Reichstags ist, und ebenso die Bekehrten aus den am tiefsten stehenden Völkern, denen eine vorschnelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/613>, abgerufen am 27.12.2024.