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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebest-itigkeit

der christlichen Liebestätigkeit beeinflußt worden ist. Ich erinnere jetzt nur noch
beispielsweise daran, was für eine Förderung die städtische Armenpflege durch
die Bestrebungen der innern Mission empfangen hat. Das Zusammenwirken
einer warmherzigen, einsichtigen, energischen städtischen Armenverwaltung mit
freien Vereinen und kirchlicher Liebestätigkeit, das den übergroßen und außer¬
ordentlich verwickelten Aufgaben in einer schnell wachsenden Großstadt gegen¬
über nicht ratlos und hilflos ist, sondern den Platz behauptet, wenn auch im
Bewußtsein der großen Schwierigkeit der Sache -- das ist wahrlich etwas
Erreichtes.

Aber ich gehe auf einen fünften, verwandten und nicht minder wichtigen
Punkt über. Erreicht ist, daß in einer Zeit der schwersten Krisen die evan¬
gelische Kirche ihren Platz behauptet hat in unserm Volke, ja daß ihr aus
diesen Krisen eine wesentliche Umgestaltung und Erneuerung zuteil geworden
ist, die uns trotz allem auch in die schweren Aufgaben der Zukunft mit
freudigem Vertrauen sehen läßt. Krisen, sage ich, sinds gewesen. Sie sind
uns vielleicht nicht so stark zum Bewußtsein gekommen, weil sie glücklich ab¬
gelaufen sind. Ist man genesen, so vergißt man leicht, wie krank man war.
Aber war das nicht eine Krise, als man bald nach dem 1. Oktober 1874,
nach der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung, nicht etwa in sozialdemo¬
kratischen, sondern in liberalen Zeitungen jubelte: "Es sei eine Lust zu
leben", nun "außerhalb des Schattens der Kirche leben und sterben" zu
können. Als man in Berlin jubelte: "Hurra, die ersten 10000 Heiden in
Berlin", als noch nicht zwanzig Prozent der Ehen kirchlich getraut wurden,
nicht die Hälfte der Kinder getauft wurden, und als angesichts dieser Tat¬
sachen kirchliche Körperschaften in Berlin, die doch wohl zur Pflege kirchlichen,
christlichen Lebens berufen waren, dem Generalsuperintendenten Bruckner gegen¬
über das Wirken der Stadtmission in der Gemeinde verboten! Ja, damals
handelte es sich um die Existenz der evangelischen Kirche in Berlin in ihrem
bisherigen Bestände. Und in dieser Krisis ist es neben der Lebensnacht des
gepredigten Evangeliums die Tat der Liebe, die innere Mission gewesen, die
heraushalf. Dem Hofprediger Adolf Stöcker, der vorher in Metz die Herberge
zur Heimat und die Diakonissenanstalt ins Leben rief, wars gegeben, Wieherns
Anregungen in Berlin in die Tat umzusetzen, und vergessen wir nicht, daß
aus dieser Liebesarbeit, aus der Berliner Stadtmission zu einem guten Teile
die Anregungen hervorgegangen sind, die in der oben besprochnen sozialen
Gesetzgebung Gestalt gewonnen haben.

In dieser Zeit hat unsre Kirche begonnen, sich aus der Staatskirche, die
sie bis zum 1. Oktober 1874 war, in eine Volkskirche umzuwandeln, die ihren
Rückhalt nicht mehr an polizeilichem Zwang, sondern an der Arbeit seelsorger¬
licher, dienender, helfender Liebe hat.

Es wäre wiederum eine reiche Aufgabe für sich, nachzuweisen, wie sich
der ganze Betrieb des geistlichen Amts, wie sich das Gemeindeleben gänzlich


Christliche Liebest-itigkeit

der christlichen Liebestätigkeit beeinflußt worden ist. Ich erinnere jetzt nur noch
beispielsweise daran, was für eine Förderung die städtische Armenpflege durch
die Bestrebungen der innern Mission empfangen hat. Das Zusammenwirken
einer warmherzigen, einsichtigen, energischen städtischen Armenverwaltung mit
freien Vereinen und kirchlicher Liebestätigkeit, das den übergroßen und außer¬
ordentlich verwickelten Aufgaben in einer schnell wachsenden Großstadt gegen¬
über nicht ratlos und hilflos ist, sondern den Platz behauptet, wenn auch im
Bewußtsein der großen Schwierigkeit der Sache — das ist wahrlich etwas
Erreichtes.

Aber ich gehe auf einen fünften, verwandten und nicht minder wichtigen
Punkt über. Erreicht ist, daß in einer Zeit der schwersten Krisen die evan¬
gelische Kirche ihren Platz behauptet hat in unserm Volke, ja daß ihr aus
diesen Krisen eine wesentliche Umgestaltung und Erneuerung zuteil geworden
ist, die uns trotz allem auch in die schweren Aufgaben der Zukunft mit
freudigem Vertrauen sehen läßt. Krisen, sage ich, sinds gewesen. Sie sind
uns vielleicht nicht so stark zum Bewußtsein gekommen, weil sie glücklich ab¬
gelaufen sind. Ist man genesen, so vergißt man leicht, wie krank man war.
Aber war das nicht eine Krise, als man bald nach dem 1. Oktober 1874,
nach der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung, nicht etwa in sozialdemo¬
kratischen, sondern in liberalen Zeitungen jubelte: „Es sei eine Lust zu
leben", nun „außerhalb des Schattens der Kirche leben und sterben" zu
können. Als man in Berlin jubelte: „Hurra, die ersten 10000 Heiden in
Berlin", als noch nicht zwanzig Prozent der Ehen kirchlich getraut wurden,
nicht die Hälfte der Kinder getauft wurden, und als angesichts dieser Tat¬
sachen kirchliche Körperschaften in Berlin, die doch wohl zur Pflege kirchlichen,
christlichen Lebens berufen waren, dem Generalsuperintendenten Bruckner gegen¬
über das Wirken der Stadtmission in der Gemeinde verboten! Ja, damals
handelte es sich um die Existenz der evangelischen Kirche in Berlin in ihrem
bisherigen Bestände. Und in dieser Krisis ist es neben der Lebensnacht des
gepredigten Evangeliums die Tat der Liebe, die innere Mission gewesen, die
heraushalf. Dem Hofprediger Adolf Stöcker, der vorher in Metz die Herberge
zur Heimat und die Diakonissenanstalt ins Leben rief, wars gegeben, Wieherns
Anregungen in Berlin in die Tat umzusetzen, und vergessen wir nicht, daß
aus dieser Liebesarbeit, aus der Berliner Stadtmission zu einem guten Teile
die Anregungen hervorgegangen sind, die in der oben besprochnen sozialen
Gesetzgebung Gestalt gewonnen haben.

In dieser Zeit hat unsre Kirche begonnen, sich aus der Staatskirche, die
sie bis zum 1. Oktober 1874 war, in eine Volkskirche umzuwandeln, die ihren
Rückhalt nicht mehr an polizeilichem Zwang, sondern an der Arbeit seelsorger¬
licher, dienender, helfender Liebe hat.

Es wäre wiederum eine reiche Aufgabe für sich, nachzuweisen, wie sich
der ganze Betrieb des geistlichen Amts, wie sich das Gemeindeleben gänzlich


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[0612] Christliche Liebest-itigkeit der christlichen Liebestätigkeit beeinflußt worden ist. Ich erinnere jetzt nur noch beispielsweise daran, was für eine Förderung die städtische Armenpflege durch die Bestrebungen der innern Mission empfangen hat. Das Zusammenwirken einer warmherzigen, einsichtigen, energischen städtischen Armenverwaltung mit freien Vereinen und kirchlicher Liebestätigkeit, das den übergroßen und außer¬ ordentlich verwickelten Aufgaben in einer schnell wachsenden Großstadt gegen¬ über nicht ratlos und hilflos ist, sondern den Platz behauptet, wenn auch im Bewußtsein der großen Schwierigkeit der Sache — das ist wahrlich etwas Erreichtes. Aber ich gehe auf einen fünften, verwandten und nicht minder wichtigen Punkt über. Erreicht ist, daß in einer Zeit der schwersten Krisen die evan¬ gelische Kirche ihren Platz behauptet hat in unserm Volke, ja daß ihr aus diesen Krisen eine wesentliche Umgestaltung und Erneuerung zuteil geworden ist, die uns trotz allem auch in die schweren Aufgaben der Zukunft mit freudigem Vertrauen sehen läßt. Krisen, sage ich, sinds gewesen. Sie sind uns vielleicht nicht so stark zum Bewußtsein gekommen, weil sie glücklich ab¬ gelaufen sind. Ist man genesen, so vergißt man leicht, wie krank man war. Aber war das nicht eine Krise, als man bald nach dem 1. Oktober 1874, nach der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung, nicht etwa in sozialdemo¬ kratischen, sondern in liberalen Zeitungen jubelte: „Es sei eine Lust zu leben", nun „außerhalb des Schattens der Kirche leben und sterben" zu können. Als man in Berlin jubelte: „Hurra, die ersten 10000 Heiden in Berlin", als noch nicht zwanzig Prozent der Ehen kirchlich getraut wurden, nicht die Hälfte der Kinder getauft wurden, und als angesichts dieser Tat¬ sachen kirchliche Körperschaften in Berlin, die doch wohl zur Pflege kirchlichen, christlichen Lebens berufen waren, dem Generalsuperintendenten Bruckner gegen¬ über das Wirken der Stadtmission in der Gemeinde verboten! Ja, damals handelte es sich um die Existenz der evangelischen Kirche in Berlin in ihrem bisherigen Bestände. Und in dieser Krisis ist es neben der Lebensnacht des gepredigten Evangeliums die Tat der Liebe, die innere Mission gewesen, die heraushalf. Dem Hofprediger Adolf Stöcker, der vorher in Metz die Herberge zur Heimat und die Diakonissenanstalt ins Leben rief, wars gegeben, Wieherns Anregungen in Berlin in die Tat umzusetzen, und vergessen wir nicht, daß aus dieser Liebesarbeit, aus der Berliner Stadtmission zu einem guten Teile die Anregungen hervorgegangen sind, die in der oben besprochnen sozialen Gesetzgebung Gestalt gewonnen haben. In dieser Zeit hat unsre Kirche begonnen, sich aus der Staatskirche, die sie bis zum 1. Oktober 1874 war, in eine Volkskirche umzuwandeln, die ihren Rückhalt nicht mehr an polizeilichem Zwang, sondern an der Arbeit seelsorger¬ licher, dienender, helfender Liebe hat. Es wäre wiederum eine reiche Aufgabe für sich, nachzuweisen, wie sich der ganze Betrieb des geistlichen Amts, wie sich das Gemeindeleben gänzlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/612>, abgerufen am 28.12.2024.