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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Wille des Hauses ist der Wille des Volkes. Die Minderheit klagt nicht über
Vergewaltigung, denn die Meinungsnnterschiede reichen, mit Guizot zu sprechen,
nicht bis ins Herz der Staatsverfassung oder des Volkslebens, und die Minder¬
heit braucht sich nur in Mehrheit zu verwandeln, so kann sie das Gesetz, das
ihr nicht gefällt, wieder abschaffen oder ändern. Überdies ist für tair xlg.^
gesorgt. Die Leader beider Parteien verständigen sich über das bei der Ver¬
handlung einzuschlagende Verfahren, und Zufälle bei der Abstimmung sind
beinahe ausgeschlossen. Die Verhandlungen sind zwar immer schlecht besucht,
aber vor Abstimmungen wird durch kairinZ (Abpaarung) dafür gesorgt, daß
die Parteien im richtigen Verhältnis zu ihrer Stärke vertreten sind; für jedes
Mitglied der einen Seite, das in der entscheidenden Sitzung zu fehlen gedenkt,
muß sich ein Mitglied der Gegenseite zum Ausbleiben verpflichten. Auf
diese Weise wird der Zweck, in der fortlaufenden Gesetzgebung dem mit den
Bedürfnissen wechselnden Volkswilleu Ausdruck zu verleihen, so vollkommen
erreicht, als es auf dieser unvollkommnen Erde möglich ist. Voraussetzung
ist dabei, daß es einen solchen Volkswillen gibt. Und das ist in England
der Fall, bei der Masse wenigstens irnxlioite, d. h. die Masse würde jedem
einzelnen Akt zustimmen, wenn sie seinen Sinn verstünde; denn sie hat das
Vertrauen zu den leitenden Gesellschaftsschichten, daß diese des Landes Geschäfte
im ganzen vernünftig und gut erledigen, was alles in den kontinentalen Staaten
nicht der Fall ist, wo die Beschlüsse einer der Minderheit, die noch dazu eine
Zufallsminderheit sein kann, in Todfeindschaft gegenüberstehenden Mehrheit
unerträgliche Tyrannei für die Minderheit der Kammer und vielleicht für die
Mehrheit des Volkes bedeuten, und wo von einem Volkswillen (ausgenommen
etwa bei einem feindlichen Angriff von außen) keine Rede sein kann, weil
das Volk in Parteien zerfüllt, von denen jede etwas andres will. Hier ist
eine über den Parteien stehende starke Regierung nötig, die dafür sorgt, daß
nicht ein Teil des Volkes durch den andern vergewaltigt wird. Das englische
Unterhaus hat nun ebenfalls ein Element in sich, das in die mehrfach be¬
schriebe Parteiorganisation nicht eingegliedert ist, das beiden Parteien, ja
dem ganzen englischen Parlament und Volk in Todfeindschaft gegenübersteht.
Wir haben hier nicht zu untersuchen, wie weit die Engländer diese Feindschaft
verdient haben, und ob sie noch sittlich berechtigt, ob ihre Kundgebung noch
politisch klug war, als das englische Parlament schon begonnen hatte, früher
begangnes Unrecht durch Reformen in Irland nach Möglichkeit zu sühnen.
Hier haben wir uns nur klar zu machen, daß es die größte politische Torheit
gewesen sein würde, wenn sich das englische Unterhaus in seiner Tätigkeit
durch die Vertreter eines dem Staate zwar angegliederten, aber volksfremden
Teiles der Staatsangehörigen hätte lahm legen lassen, wenn sich der Wille
'des herrschenden Volkes dem des beherrschten gebeugt hätte. Nachdem schon
1833 O'Connell obstruiert hatte, versuchte es Ende der siebziger und Anfang
der achtziger Jahre die Home-Rule-Partei unter Parnells Führung. Montag


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Wille des Hauses ist der Wille des Volkes. Die Minderheit klagt nicht über
Vergewaltigung, denn die Meinungsnnterschiede reichen, mit Guizot zu sprechen,
nicht bis ins Herz der Staatsverfassung oder des Volkslebens, und die Minder¬
heit braucht sich nur in Mehrheit zu verwandeln, so kann sie das Gesetz, das
ihr nicht gefällt, wieder abschaffen oder ändern. Überdies ist für tair xlg.^
gesorgt. Die Leader beider Parteien verständigen sich über das bei der Ver¬
handlung einzuschlagende Verfahren, und Zufälle bei der Abstimmung sind
beinahe ausgeschlossen. Die Verhandlungen sind zwar immer schlecht besucht,
aber vor Abstimmungen wird durch kairinZ (Abpaarung) dafür gesorgt, daß
die Parteien im richtigen Verhältnis zu ihrer Stärke vertreten sind; für jedes
Mitglied der einen Seite, das in der entscheidenden Sitzung zu fehlen gedenkt,
muß sich ein Mitglied der Gegenseite zum Ausbleiben verpflichten. Auf
diese Weise wird der Zweck, in der fortlaufenden Gesetzgebung dem mit den
Bedürfnissen wechselnden Volkswilleu Ausdruck zu verleihen, so vollkommen
erreicht, als es auf dieser unvollkommnen Erde möglich ist. Voraussetzung
ist dabei, daß es einen solchen Volkswillen gibt. Und das ist in England
der Fall, bei der Masse wenigstens irnxlioite, d. h. die Masse würde jedem
einzelnen Akt zustimmen, wenn sie seinen Sinn verstünde; denn sie hat das
Vertrauen zu den leitenden Gesellschaftsschichten, daß diese des Landes Geschäfte
im ganzen vernünftig und gut erledigen, was alles in den kontinentalen Staaten
nicht der Fall ist, wo die Beschlüsse einer der Minderheit, die noch dazu eine
Zufallsminderheit sein kann, in Todfeindschaft gegenüberstehenden Mehrheit
unerträgliche Tyrannei für die Minderheit der Kammer und vielleicht für die
Mehrheit des Volkes bedeuten, und wo von einem Volkswillen (ausgenommen
etwa bei einem feindlichen Angriff von außen) keine Rede sein kann, weil
das Volk in Parteien zerfüllt, von denen jede etwas andres will. Hier ist
eine über den Parteien stehende starke Regierung nötig, die dafür sorgt, daß
nicht ein Teil des Volkes durch den andern vergewaltigt wird. Das englische
Unterhaus hat nun ebenfalls ein Element in sich, das in die mehrfach be¬
schriebe Parteiorganisation nicht eingegliedert ist, das beiden Parteien, ja
dem ganzen englischen Parlament und Volk in Todfeindschaft gegenübersteht.
Wir haben hier nicht zu untersuchen, wie weit die Engländer diese Feindschaft
verdient haben, und ob sie noch sittlich berechtigt, ob ihre Kundgebung noch
politisch klug war, als das englische Parlament schon begonnen hatte, früher
begangnes Unrecht durch Reformen in Irland nach Möglichkeit zu sühnen.
Hier haben wir uns nur klar zu machen, daß es die größte politische Torheit
gewesen sein würde, wenn sich das englische Unterhaus in seiner Tätigkeit
durch die Vertreter eines dem Staate zwar angegliederten, aber volksfremden
Teiles der Staatsangehörigen hätte lahm legen lassen, wenn sich der Wille
'des herrschenden Volkes dem des beherrschten gebeugt hätte. Nachdem schon
1833 O'Connell obstruiert hatte, versuchte es Ende der siebziger und Anfang
der achtziger Jahre die Home-Rule-Partei unter Parnells Führung. Montag


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[0566] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments Wille des Hauses ist der Wille des Volkes. Die Minderheit klagt nicht über Vergewaltigung, denn die Meinungsnnterschiede reichen, mit Guizot zu sprechen, nicht bis ins Herz der Staatsverfassung oder des Volkslebens, und die Minder¬ heit braucht sich nur in Mehrheit zu verwandeln, so kann sie das Gesetz, das ihr nicht gefällt, wieder abschaffen oder ändern. Überdies ist für tair xlg.^ gesorgt. Die Leader beider Parteien verständigen sich über das bei der Ver¬ handlung einzuschlagende Verfahren, und Zufälle bei der Abstimmung sind beinahe ausgeschlossen. Die Verhandlungen sind zwar immer schlecht besucht, aber vor Abstimmungen wird durch kairinZ (Abpaarung) dafür gesorgt, daß die Parteien im richtigen Verhältnis zu ihrer Stärke vertreten sind; für jedes Mitglied der einen Seite, das in der entscheidenden Sitzung zu fehlen gedenkt, muß sich ein Mitglied der Gegenseite zum Ausbleiben verpflichten. Auf diese Weise wird der Zweck, in der fortlaufenden Gesetzgebung dem mit den Bedürfnissen wechselnden Volkswilleu Ausdruck zu verleihen, so vollkommen erreicht, als es auf dieser unvollkommnen Erde möglich ist. Voraussetzung ist dabei, daß es einen solchen Volkswillen gibt. Und das ist in England der Fall, bei der Masse wenigstens irnxlioite, d. h. die Masse würde jedem einzelnen Akt zustimmen, wenn sie seinen Sinn verstünde; denn sie hat das Vertrauen zu den leitenden Gesellschaftsschichten, daß diese des Landes Geschäfte im ganzen vernünftig und gut erledigen, was alles in den kontinentalen Staaten nicht der Fall ist, wo die Beschlüsse einer der Minderheit, die noch dazu eine Zufallsminderheit sein kann, in Todfeindschaft gegenüberstehenden Mehrheit unerträgliche Tyrannei für die Minderheit der Kammer und vielleicht für die Mehrheit des Volkes bedeuten, und wo von einem Volkswillen (ausgenommen etwa bei einem feindlichen Angriff von außen) keine Rede sein kann, weil das Volk in Parteien zerfüllt, von denen jede etwas andres will. Hier ist eine über den Parteien stehende starke Regierung nötig, die dafür sorgt, daß nicht ein Teil des Volkes durch den andern vergewaltigt wird. Das englische Unterhaus hat nun ebenfalls ein Element in sich, das in die mehrfach be¬ schriebe Parteiorganisation nicht eingegliedert ist, das beiden Parteien, ja dem ganzen englischen Parlament und Volk in Todfeindschaft gegenübersteht. Wir haben hier nicht zu untersuchen, wie weit die Engländer diese Feindschaft verdient haben, und ob sie noch sittlich berechtigt, ob ihre Kundgebung noch politisch klug war, als das englische Parlament schon begonnen hatte, früher begangnes Unrecht durch Reformen in Irland nach Möglichkeit zu sühnen. Hier haben wir uns nur klar zu machen, daß es die größte politische Torheit gewesen sein würde, wenn sich das englische Unterhaus in seiner Tätigkeit durch die Vertreter eines dem Staate zwar angegliederten, aber volksfremden Teiles der Staatsangehörigen hätte lahm legen lassen, wenn sich der Wille 'des herrschenden Volkes dem des beherrschten gebeugt hätte. Nachdem schon 1833 O'Connell obstruiert hatte, versuchte es Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre die Home-Rule-Partei unter Parnells Führung. Montag

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/566>, abgerufen am 28.12.2024.