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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Sui

ersteht die erste Rechtsfrage: mußte die Regierung, falls sie überzeugt war,
daß ihr Staatsland entfremdet sei, nicht angesichts der von den Kolonisten
eingereichten rechtskräftigen Bcsitzdolumente eine Untersuchung darüber ein¬
leiten, auf welche Weise unter diese Dokumente Siegel und Unterschrift der
Regierungsorgane gekommen sei? In einem modernen Rechts- und Kultur¬
staate wäre dies sicher die erste Maßregel gewesen. Die riograndenjer Re¬
gierung aber hat gerade über diesen skandalösen Vorgang auch nicht die ge¬
ringste Untersuchung eingeleitet. Die Landschwindler, die im Verein mit
Regierungsbeamten den Kolonisten ihr Geld abgenommen hatten, sind voll¬
ständig unbehelligt geblieben. Dieses sehr verdächtige Verhalten bestätigt, daß
es sich um eine offiziell eingeleitete systematische Erpressung handelte, bei der
man es auf die Ersparnisse der Kolonisten abgesehen hatte.

Und nun eine andre Frage. Konnten die Kolonisten nicht den Schutz
der Gerichte gegen den Fiskus anrufen? Ja und nein, wie man will. Ge¬
nützt hätte es nichts, aber viel, vielleicht mehr gekostet, als die meisten
immerhin nur sehr müßig begüterten Kolonisten hätten bezahlen können. Wenn
man die Rechtszustände in Rio Grande do Sui verstehn will, muß man sich
die Verfassung und Gesetzgebung des Staates in den Hauptzügen vergegen¬
wärtigen. In Widerspruch zu der brasilianischen Bundesverfassung wird Rio
Grande do Sui von seinem Staatspräsidenten diktatorisch regiert. Die Tat¬
sache ist noch kürzlich im Nationalkongreß zu Rio de Janeiro klar dargetan
worden und hat nicht widerlegt werden können. Es gibt zwar für Rio Grande
do Sui eine staatliche Volksvertretung, asssinblsa genannt, aber diese hat
verfassungsgemüß nicht das Recht der eignen Initiative. Sie kann ans eigner
Machtvollkommenheit keine Beschlüsse fassen, nach denen sich die Staats¬
regierung zu richten hätte, sondern ist vielmehr eine rein beratende, ja oder
nein (bisher immer ja) sagende Körperschaft. Die Regierung legt die Gesetz¬
entwürfe vor, an denen ohne ihre Zustimmung nichts geändert wird. Ähnlich ist
das Gerichtswesen im Staate auf das diktatorische Bedürfnis zugeschnitten.
Es entbehrt der Grundlagen zu freier unabhängiger Entscheidung von Rechts¬
fragen, denen die Regierung irgendeine bestimmte Lösung geben will.

Um diesen Rechtszustand an einem Beispiele zu kennzeichnen, sei der
folgende Fall kurz dargelegt. Es gibt wie in andern Ländern eine staatliche
Depositenkasse, die Geldeinlagen in Empfang nimmt, die Privatpersonen nach
Gesetzesvorschrift bei bestimmten Gelegenheiten zu machen haben. Nun wohl,
der vom Staat ernannte und angestellte Leiter dieser Depositenkasse zu Porto
Alegre entnahm ihr eine Summe von mehr als 100000 Mark, gab sie zu
Privatzwecken aus und nahm sich schließlich das Leben. Nun entstand die
schon an sich eigentümliche Frage: wem hatte er den Betrag entwende. dem
Staate oder den Hinterlegern des Geldes? Diese sagten natürlich entrüstet:
wir haben das Geld der staatlichen Depositenkasse anvertraut und folglich von
dieser zurückzuverlangen. Die Regierung entschied: der Depositar hat die


Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Sui

ersteht die erste Rechtsfrage: mußte die Regierung, falls sie überzeugt war,
daß ihr Staatsland entfremdet sei, nicht angesichts der von den Kolonisten
eingereichten rechtskräftigen Bcsitzdolumente eine Untersuchung darüber ein¬
leiten, auf welche Weise unter diese Dokumente Siegel und Unterschrift der
Regierungsorgane gekommen sei? In einem modernen Rechts- und Kultur¬
staate wäre dies sicher die erste Maßregel gewesen. Die riograndenjer Re¬
gierung aber hat gerade über diesen skandalösen Vorgang auch nicht die ge¬
ringste Untersuchung eingeleitet. Die Landschwindler, die im Verein mit
Regierungsbeamten den Kolonisten ihr Geld abgenommen hatten, sind voll¬
ständig unbehelligt geblieben. Dieses sehr verdächtige Verhalten bestätigt, daß
es sich um eine offiziell eingeleitete systematische Erpressung handelte, bei der
man es auf die Ersparnisse der Kolonisten abgesehen hatte.

Und nun eine andre Frage. Konnten die Kolonisten nicht den Schutz
der Gerichte gegen den Fiskus anrufen? Ja und nein, wie man will. Ge¬
nützt hätte es nichts, aber viel, vielleicht mehr gekostet, als die meisten
immerhin nur sehr müßig begüterten Kolonisten hätten bezahlen können. Wenn
man die Rechtszustände in Rio Grande do Sui verstehn will, muß man sich
die Verfassung und Gesetzgebung des Staates in den Hauptzügen vergegen¬
wärtigen. In Widerspruch zu der brasilianischen Bundesverfassung wird Rio
Grande do Sui von seinem Staatspräsidenten diktatorisch regiert. Die Tat¬
sache ist noch kürzlich im Nationalkongreß zu Rio de Janeiro klar dargetan
worden und hat nicht widerlegt werden können. Es gibt zwar für Rio Grande
do Sui eine staatliche Volksvertretung, asssinblsa genannt, aber diese hat
verfassungsgemüß nicht das Recht der eignen Initiative. Sie kann ans eigner
Machtvollkommenheit keine Beschlüsse fassen, nach denen sich die Staats¬
regierung zu richten hätte, sondern ist vielmehr eine rein beratende, ja oder
nein (bisher immer ja) sagende Körperschaft. Die Regierung legt die Gesetz¬
entwürfe vor, an denen ohne ihre Zustimmung nichts geändert wird. Ähnlich ist
das Gerichtswesen im Staate auf das diktatorische Bedürfnis zugeschnitten.
Es entbehrt der Grundlagen zu freier unabhängiger Entscheidung von Rechts¬
fragen, denen die Regierung irgendeine bestimmte Lösung geben will.

Um diesen Rechtszustand an einem Beispiele zu kennzeichnen, sei der
folgende Fall kurz dargelegt. Es gibt wie in andern Ländern eine staatliche
Depositenkasse, die Geldeinlagen in Empfang nimmt, die Privatpersonen nach
Gesetzesvorschrift bei bestimmten Gelegenheiten zu machen haben. Nun wohl,
der vom Staat ernannte und angestellte Leiter dieser Depositenkasse zu Porto
Alegre entnahm ihr eine Summe von mehr als 100000 Mark, gab sie zu
Privatzwecken aus und nahm sich schließlich das Leben. Nun entstand die
schon an sich eigentümliche Frage: wem hatte er den Betrag entwende. dem
Staate oder den Hinterlegern des Geldes? Diese sagten natürlich entrüstet:
wir haben das Geld der staatlichen Depositenkasse anvertraut und folglich von
dieser zurückzuverlangen. Die Regierung entschied: der Depositar hat die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/551>, abgerufen am 23.07.2024.