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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Suk

Hinterleger bestohlen, folglich haben diese den Verlust proportionell zu tragen
Diese überraschende Entscheidung wurde von den betroffnen natürlich zunächst
nicht angenommen. Es wurden die Gerichte angerufen, und diese entschieden
kaltblütig im Sinne der staatlichen Autorität: wenn der Depositär stiehlt, so
geht das den Staat nichts an; denn er hat nicht Staatsgelder gestohlen,
sondern Beträge, die Privatpersonen bei ihm eingezahlt hatten. Diese haben
also den Verlust zu tragen. Welches Vertrauen kann ein so vom Staate
abhängiges Gerichtswesen einflößen? Der Wille der Negierung genügte,
einen Diebstahl an der staatlichen Depositenkasse auf die abzuwälzen, die ge¬
setzlich genötigt waren, ihr Geld dieser Kasse anzuvertrauen. Dabei genügt
es, einen Blick auf frühere Budgetabschlüsse zu werfen, wenn man erkennen
will, daß bare Depositeneingünge wie -ausgänge unter den Einnahmen und
den Ausgaben des Staates verzeichnet stehn. Die Depositengelder wurden der
Staatshauptkasse zugeführt.

Die Anführung dieses Beispiels tut dar, wie wenig Aussichten die ge¬
schädigten Kolonisten hatten, in einem Prozesse gegen den Fiskus zu ihrem
Rechte zu kommen. Dieser Weg wurde also kaum ernstlich von ihnen erwogen,
geschweige denn betreten. Die Landkommissionen hatten sich in acht genommen,
irgendeinen Ausländer seines Grundeigentums für verlustig zu erklären, denn
konsulare Intervention hätte einen öffentlichen Skandal verursacht. Die deutsch¬
brasilianischen Bauern fingen sowieso an, über Vergewaltigung zu schreien,
und um den Lärm zu übertönen, wurde im nativistischen Lager ein noch viel
lauteres Geschrei über die deutsche Gefahr in Gang erhalten. Dieses Thema
war in ganz Brasilien Mode geworden, es fiel also nicht auf, daß es in Rio
Grande do Sui besonders lebhaft erörtert wurde. Auch wurden nativistische
Zeitungen in deutscher Sprache gegründet und von der Regierung unterstützt,
die keinen andern Zweck hatten als den, gegen die Interessen des Deutschtums
zu schreiben und die Landbereinignngsfrage nach Möglichkeit zu verwirren und
in falschem Lichte zu zeigen.

Im Jahre 1902 begann der Landbereinigungsskandal nach Europa hinüber
zu dringen und die Presse Deutschlands zu beschäftigen. Das war der rio-
grcmdcnser Negierung unangenehm. Sie wollte gerade wegen Aufnahme einer
20 Millionen-Anleihe mit Auslandmürkten Unterhandlungen anknüpfen, und
da wäre ihr eine Aufdeckung der in Rio Grande do Sui herrschenden Rechts-
zustände sehr ungelegen gekommen. Damit erklärt sich ihr plötzliches Einlenken
zu Anfang des Jahres 1903. Es erschienen Erlasse, die scheinbar, d. i. dem
Wortlaute nach die ganze Landbereinigung rückgängig machten. Die Kolonisten
sollten ihr Land behalten, und wer es zum zweitenmal bezahlt hatte, sollte
zwar nicht sein Geld, aber doch eine Entschädigung in devolutem Lande be¬
kommen. Die erpreßten Summen zurückzuzahlen -- das fiel der Regierung
nicht ein, deren Presse trotzdem die Milde und die Langmut der Staatsbehörde
pries. Die ausgeplünderten Kolonisten aber waren schließlich meist froh, daß


Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Suk

Hinterleger bestohlen, folglich haben diese den Verlust proportionell zu tragen
Diese überraschende Entscheidung wurde von den betroffnen natürlich zunächst
nicht angenommen. Es wurden die Gerichte angerufen, und diese entschieden
kaltblütig im Sinne der staatlichen Autorität: wenn der Depositär stiehlt, so
geht das den Staat nichts an; denn er hat nicht Staatsgelder gestohlen,
sondern Beträge, die Privatpersonen bei ihm eingezahlt hatten. Diese haben
also den Verlust zu tragen. Welches Vertrauen kann ein so vom Staate
abhängiges Gerichtswesen einflößen? Der Wille der Negierung genügte,
einen Diebstahl an der staatlichen Depositenkasse auf die abzuwälzen, die ge¬
setzlich genötigt waren, ihr Geld dieser Kasse anzuvertrauen. Dabei genügt
es, einen Blick auf frühere Budgetabschlüsse zu werfen, wenn man erkennen
will, daß bare Depositeneingünge wie -ausgänge unter den Einnahmen und
den Ausgaben des Staates verzeichnet stehn. Die Depositengelder wurden der
Staatshauptkasse zugeführt.

Die Anführung dieses Beispiels tut dar, wie wenig Aussichten die ge¬
schädigten Kolonisten hatten, in einem Prozesse gegen den Fiskus zu ihrem
Rechte zu kommen. Dieser Weg wurde also kaum ernstlich von ihnen erwogen,
geschweige denn betreten. Die Landkommissionen hatten sich in acht genommen,
irgendeinen Ausländer seines Grundeigentums für verlustig zu erklären, denn
konsulare Intervention hätte einen öffentlichen Skandal verursacht. Die deutsch¬
brasilianischen Bauern fingen sowieso an, über Vergewaltigung zu schreien,
und um den Lärm zu übertönen, wurde im nativistischen Lager ein noch viel
lauteres Geschrei über die deutsche Gefahr in Gang erhalten. Dieses Thema
war in ganz Brasilien Mode geworden, es fiel also nicht auf, daß es in Rio
Grande do Sui besonders lebhaft erörtert wurde. Auch wurden nativistische
Zeitungen in deutscher Sprache gegründet und von der Regierung unterstützt,
die keinen andern Zweck hatten als den, gegen die Interessen des Deutschtums
zu schreiben und die Landbereinignngsfrage nach Möglichkeit zu verwirren und
in falschem Lichte zu zeigen.

Im Jahre 1902 begann der Landbereinigungsskandal nach Europa hinüber
zu dringen und die Presse Deutschlands zu beschäftigen. Das war der rio-
grcmdcnser Negierung unangenehm. Sie wollte gerade wegen Aufnahme einer
20 Millionen-Anleihe mit Auslandmürkten Unterhandlungen anknüpfen, und
da wäre ihr eine Aufdeckung der in Rio Grande do Sui herrschenden Rechts-
zustände sehr ungelegen gekommen. Damit erklärt sich ihr plötzliches Einlenken
zu Anfang des Jahres 1903. Es erschienen Erlasse, die scheinbar, d. i. dem
Wortlaute nach die ganze Landbereinigung rückgängig machten. Die Kolonisten
sollten ihr Land behalten, und wer es zum zweitenmal bezahlt hatte, sollte
zwar nicht sein Geld, aber doch eine Entschädigung in devolutem Lande be¬
kommen. Die erpreßten Summen zurückzuzahlen — das fiel der Regierung
nicht ein, deren Presse trotzdem die Milde und die Langmut der Staatsbehörde
pries. Die ausgeplünderten Kolonisten aber waren schließlich meist froh, daß


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[0552] Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Suk Hinterleger bestohlen, folglich haben diese den Verlust proportionell zu tragen Diese überraschende Entscheidung wurde von den betroffnen natürlich zunächst nicht angenommen. Es wurden die Gerichte angerufen, und diese entschieden kaltblütig im Sinne der staatlichen Autorität: wenn der Depositär stiehlt, so geht das den Staat nichts an; denn er hat nicht Staatsgelder gestohlen, sondern Beträge, die Privatpersonen bei ihm eingezahlt hatten. Diese haben also den Verlust zu tragen. Welches Vertrauen kann ein so vom Staate abhängiges Gerichtswesen einflößen? Der Wille der Negierung genügte, einen Diebstahl an der staatlichen Depositenkasse auf die abzuwälzen, die ge¬ setzlich genötigt waren, ihr Geld dieser Kasse anzuvertrauen. Dabei genügt es, einen Blick auf frühere Budgetabschlüsse zu werfen, wenn man erkennen will, daß bare Depositeneingünge wie -ausgänge unter den Einnahmen und den Ausgaben des Staates verzeichnet stehn. Die Depositengelder wurden der Staatshauptkasse zugeführt. Die Anführung dieses Beispiels tut dar, wie wenig Aussichten die ge¬ schädigten Kolonisten hatten, in einem Prozesse gegen den Fiskus zu ihrem Rechte zu kommen. Dieser Weg wurde also kaum ernstlich von ihnen erwogen, geschweige denn betreten. Die Landkommissionen hatten sich in acht genommen, irgendeinen Ausländer seines Grundeigentums für verlustig zu erklären, denn konsulare Intervention hätte einen öffentlichen Skandal verursacht. Die deutsch¬ brasilianischen Bauern fingen sowieso an, über Vergewaltigung zu schreien, und um den Lärm zu übertönen, wurde im nativistischen Lager ein noch viel lauteres Geschrei über die deutsche Gefahr in Gang erhalten. Dieses Thema war in ganz Brasilien Mode geworden, es fiel also nicht auf, daß es in Rio Grande do Sui besonders lebhaft erörtert wurde. Auch wurden nativistische Zeitungen in deutscher Sprache gegründet und von der Regierung unterstützt, die keinen andern Zweck hatten als den, gegen die Interessen des Deutschtums zu schreiben und die Landbereinignngsfrage nach Möglichkeit zu verwirren und in falschem Lichte zu zeigen. Im Jahre 1902 begann der Landbereinigungsskandal nach Europa hinüber zu dringen und die Presse Deutschlands zu beschäftigen. Das war der rio- grcmdcnser Negierung unangenehm. Sie wollte gerade wegen Aufnahme einer 20 Millionen-Anleihe mit Auslandmürkten Unterhandlungen anknüpfen, und da wäre ihr eine Aufdeckung der in Rio Grande do Sui herrschenden Rechts- zustände sehr ungelegen gekommen. Damit erklärt sich ihr plötzliches Einlenken zu Anfang des Jahres 1903. Es erschienen Erlasse, die scheinbar, d. i. dem Wortlaute nach die ganze Landbereinigung rückgängig machten. Die Kolonisten sollten ihr Land behalten, und wer es zum zweitenmal bezahlt hatte, sollte zwar nicht sein Geld, aber doch eine Entschädigung in devolutem Lande be¬ kommen. Die erpreßten Summen zurückzuzahlen — das fiel der Regierung nicht ein, deren Presse trotzdem die Milde und die Langmut der Staatsbehörde pries. Die ausgeplünderten Kolonisten aber waren schließlich meist froh, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/552>, abgerufen am 23.07.2024.