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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Sui

abgegangen, so war doch das Landeigentum als solches niemals von irgend¬
einer Behörde angezweifelt worden, einige Fälle ausgenommen, wo bei Privat¬
kolonisation außer dem Landverkäufer noch andre Personen auf ein besiedeltes
Gebiet Besitzansprüche geltend zu machen in der Lage waren. Der Verkäufer
hatte in solchem Falle einen scheinbar unanfechtbaren Besitztitel vorweisen
können; nachdem das Land besiedelt worden war, meldete sich aber unver¬
mutet ein andrer Eigentümer mit ältern Besitzrechten. Der Fiskus hatte
oft Land vergeben, das schon früher einmal vergeben worden war. Die ersten
Landerwerber hatten ihr Grundstück nicht bewohnt oder die Grenzen nicht
festgelegt gehabt. Kataster gab es nicht, und so kam leicht der Irrtum vor, daß
schon vergebne Latifundien nach Jahren nochmals ganz oder teilweise vergeben
wurden. Diesen Wirrwarr zu regeln, das wäre sicher ein löbliches Unternehmen
gewesen. Und diesen Zweck schrieb man darum der Landbereinigung zu.

Man war deshalb zunächst sehr überrascht, als die Landkommissionen
ausgedehnte Landgebiete mit Tausenden von Kolonistengrundstücken für Staats¬
eigentum erklärten, das die deutschen Bauern dem Fiskus gestohlen Hütten.
Es handelte sich um Privatkolonien, die im Laufe der letzten Jahrzehnte be¬
siedelt worden waren. Daß dabei mancher Landschwindel getrieben worden
war, konnte Kennern der Verhältnisse kaum zweifelhaft sein. Aber die
deutschen Bauern hatten beim Kaufe ihr gutes Geld in gutem Glauben her¬
gegeben. Auch waren sie gewitzigt genug, kein Land zu kaufen, für das die
Regierungsorgane nicht rechtskräftige Besitztitel aufstellten. Diese waren in
jedem Falle vorhanden. Die Regierung konnte unmöglich Land für Staats¬
eigentum erklären, für das sie selbst den Inhabern Besitztitel ausgefertigt
hatte. War ein Betrug, ein Landdiebstahl vorgekommen, so konnte er nur
von den Verkäufern und den Regierungsbeamten begangen worden sein, die
den Kolonisten den Landpreis abgenommen und den Landkauf legalisiert
hatten. Das lag so klar zutage, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte;
aber die Negierung blieb dabei, daß die Kolonisten die Betrüger seien, und
stellte es als einen besondern Akt der Gnade und Nachsicht hin, daß sie
ihnen erlauben wolle, die okkupierten Grundstücke nochmals von ihr, der Re¬
gierung, käuflich zu erwerben. Wer nicht zahle, solle ausgetrieben werden.
Da nur gegen Deutschbrasiliauer in dieser Form vorgegangen wurde, so stellte
sich das Ganze mehr und mehr als ein Ausfluß der stark nativistischen deutsch¬
feindlichen Strömung dar, die gerade in den obern Verwaltungskreisen herrschte.
Daneben spielte auch Raubsucht eine Rolle. Man wußte, daß die meisten
Kolonisten Ersparnisse aufgesammelt hatten und lieber ihre Grundstücke nochmals
bezahlen als sich austreiben lassen würden. Es handelte sich um ein ganz ge¬
wöhnliches Erpressungsmanöver, und konnte jemand nicht den vollen Kaufpreis
auf einmal erlegen, so nahm man auch mit Abschlagszahlungen vorlieb.

Viele durch Drohungen eingeschüchterte Kolonisten zahlten, andre wollten
oder konnten das nicht und wurden aus ihrem Besitz vertrieben. Und damit


Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Sui

abgegangen, so war doch das Landeigentum als solches niemals von irgend¬
einer Behörde angezweifelt worden, einige Fälle ausgenommen, wo bei Privat¬
kolonisation außer dem Landverkäufer noch andre Personen auf ein besiedeltes
Gebiet Besitzansprüche geltend zu machen in der Lage waren. Der Verkäufer
hatte in solchem Falle einen scheinbar unanfechtbaren Besitztitel vorweisen
können; nachdem das Land besiedelt worden war, meldete sich aber unver¬
mutet ein andrer Eigentümer mit ältern Besitzrechten. Der Fiskus hatte
oft Land vergeben, das schon früher einmal vergeben worden war. Die ersten
Landerwerber hatten ihr Grundstück nicht bewohnt oder die Grenzen nicht
festgelegt gehabt. Kataster gab es nicht, und so kam leicht der Irrtum vor, daß
schon vergebne Latifundien nach Jahren nochmals ganz oder teilweise vergeben
wurden. Diesen Wirrwarr zu regeln, das wäre sicher ein löbliches Unternehmen
gewesen. Und diesen Zweck schrieb man darum der Landbereinigung zu.

Man war deshalb zunächst sehr überrascht, als die Landkommissionen
ausgedehnte Landgebiete mit Tausenden von Kolonistengrundstücken für Staats¬
eigentum erklärten, das die deutschen Bauern dem Fiskus gestohlen Hütten.
Es handelte sich um Privatkolonien, die im Laufe der letzten Jahrzehnte be¬
siedelt worden waren. Daß dabei mancher Landschwindel getrieben worden
war, konnte Kennern der Verhältnisse kaum zweifelhaft sein. Aber die
deutschen Bauern hatten beim Kaufe ihr gutes Geld in gutem Glauben her¬
gegeben. Auch waren sie gewitzigt genug, kein Land zu kaufen, für das die
Regierungsorgane nicht rechtskräftige Besitztitel aufstellten. Diese waren in
jedem Falle vorhanden. Die Regierung konnte unmöglich Land für Staats¬
eigentum erklären, für das sie selbst den Inhabern Besitztitel ausgefertigt
hatte. War ein Betrug, ein Landdiebstahl vorgekommen, so konnte er nur
von den Verkäufern und den Regierungsbeamten begangen worden sein, die
den Kolonisten den Landpreis abgenommen und den Landkauf legalisiert
hatten. Das lag so klar zutage, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte;
aber die Negierung blieb dabei, daß die Kolonisten die Betrüger seien, und
stellte es als einen besondern Akt der Gnade und Nachsicht hin, daß sie
ihnen erlauben wolle, die okkupierten Grundstücke nochmals von ihr, der Re¬
gierung, käuflich zu erwerben. Wer nicht zahle, solle ausgetrieben werden.
Da nur gegen Deutschbrasiliauer in dieser Form vorgegangen wurde, so stellte
sich das Ganze mehr und mehr als ein Ausfluß der stark nativistischen deutsch¬
feindlichen Strömung dar, die gerade in den obern Verwaltungskreisen herrschte.
Daneben spielte auch Raubsucht eine Rolle. Man wußte, daß die meisten
Kolonisten Ersparnisse aufgesammelt hatten und lieber ihre Grundstücke nochmals
bezahlen als sich austreiben lassen würden. Es handelte sich um ein ganz ge¬
wöhnliches Erpressungsmanöver, und konnte jemand nicht den vollen Kaufpreis
auf einmal erlegen, so nahm man auch mit Abschlagszahlungen vorlieb.

Viele durch Drohungen eingeschüchterte Kolonisten zahlten, andre wollten
oder konnten das nicht und wurden aus ihrem Besitz vertrieben. Und damit


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[0550] Die Massenaustreibung deutscher Kolonisten in Rio Grande do Sui abgegangen, so war doch das Landeigentum als solches niemals von irgend¬ einer Behörde angezweifelt worden, einige Fälle ausgenommen, wo bei Privat¬ kolonisation außer dem Landverkäufer noch andre Personen auf ein besiedeltes Gebiet Besitzansprüche geltend zu machen in der Lage waren. Der Verkäufer hatte in solchem Falle einen scheinbar unanfechtbaren Besitztitel vorweisen können; nachdem das Land besiedelt worden war, meldete sich aber unver¬ mutet ein andrer Eigentümer mit ältern Besitzrechten. Der Fiskus hatte oft Land vergeben, das schon früher einmal vergeben worden war. Die ersten Landerwerber hatten ihr Grundstück nicht bewohnt oder die Grenzen nicht festgelegt gehabt. Kataster gab es nicht, und so kam leicht der Irrtum vor, daß schon vergebne Latifundien nach Jahren nochmals ganz oder teilweise vergeben wurden. Diesen Wirrwarr zu regeln, das wäre sicher ein löbliches Unternehmen gewesen. Und diesen Zweck schrieb man darum der Landbereinigung zu. Man war deshalb zunächst sehr überrascht, als die Landkommissionen ausgedehnte Landgebiete mit Tausenden von Kolonistengrundstücken für Staats¬ eigentum erklärten, das die deutschen Bauern dem Fiskus gestohlen Hütten. Es handelte sich um Privatkolonien, die im Laufe der letzten Jahrzehnte be¬ siedelt worden waren. Daß dabei mancher Landschwindel getrieben worden war, konnte Kennern der Verhältnisse kaum zweifelhaft sein. Aber die deutschen Bauern hatten beim Kaufe ihr gutes Geld in gutem Glauben her¬ gegeben. Auch waren sie gewitzigt genug, kein Land zu kaufen, für das die Regierungsorgane nicht rechtskräftige Besitztitel aufstellten. Diese waren in jedem Falle vorhanden. Die Regierung konnte unmöglich Land für Staats¬ eigentum erklären, für das sie selbst den Inhabern Besitztitel ausgefertigt hatte. War ein Betrug, ein Landdiebstahl vorgekommen, so konnte er nur von den Verkäufern und den Regierungsbeamten begangen worden sein, die den Kolonisten den Landpreis abgenommen und den Landkauf legalisiert hatten. Das lag so klar zutage, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte; aber die Negierung blieb dabei, daß die Kolonisten die Betrüger seien, und stellte es als einen besondern Akt der Gnade und Nachsicht hin, daß sie ihnen erlauben wolle, die okkupierten Grundstücke nochmals von ihr, der Re¬ gierung, käuflich zu erwerben. Wer nicht zahle, solle ausgetrieben werden. Da nur gegen Deutschbrasiliauer in dieser Form vorgegangen wurde, so stellte sich das Ganze mehr und mehr als ein Ausfluß der stark nativistischen deutsch¬ feindlichen Strömung dar, die gerade in den obern Verwaltungskreisen herrschte. Daneben spielte auch Raubsucht eine Rolle. Man wußte, daß die meisten Kolonisten Ersparnisse aufgesammelt hatten und lieber ihre Grundstücke nochmals bezahlen als sich austreiben lassen würden. Es handelte sich um ein ganz ge¬ wöhnliches Erpressungsmanöver, und konnte jemand nicht den vollen Kaufpreis auf einmal erlegen, so nahm man auch mit Abschlagszahlungen vorlieb. Viele durch Drohungen eingeschüchterte Kolonisten zahlten, andre wollten oder konnten das nicht und wurden aus ihrem Besitz vertrieben. Und damit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/550>, abgerufen am 23.07.2024.