Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Erinnerung an Ibsen

führt es zu dem bevorzugten Typus des König Ödipus, der allmählichen
Enthüllung der Vergangenheit, die sich durch Folgen in der Gegenwart auf¬
klärt. Wer von Vergeltung spricht, kann die Verantwortung nicht leugnen.
Auch Ibsen tut es nicht; zuweilen (wie am Schluß der Frau vom Meer)
wird sie ausdrücklich betont. In jenem Enthüllungstypus liegt es von Natur,
daß wir selten ein heißblütiges Aufstreben des Einzelnen zu sehen bekommen,
der sich mit irgendeiner Leidenschaft oder Erkenntnis der Gesamtheit entgegen¬
setzt. Vom starken Recht einer persönlichen Natur ist weniger zu spüren als
von einer ungewöhnlichen Klarheit der Erkenntnis des eignen Wesens und des
Wesens der andern. Daß der Einzelne gegen "Wahrheiten" der Gesellschaft
anrennt, ist mitunter um so verzeihlicher oder begreiflicher, als diese Wahr¬
heiten, wie im Volksfeind zugestanden wird, nicht alle ewig sind. Im Gegen¬
teil, manche sterben ab, wenn sie fünfzehn bis zwanzig Jahre alt sind. Aber
solche bejahrte Wahrheiten seien immer entsetzlich dürr und mager. Liegt es
aber in der Natur der Gesellschaft, sich ununterbrochen zu häuten, so ist der
Wert von Stockmanns "Entdeckung" fraglich, nämlich daß unsre sämtlichen
geistigen Lebensquellen vergiftet sind, und daß unsre ganze bürgerliche Gesell¬
schaft auf dem pestschwangern Grunde der Lüge ruht. Natürlich wird es
nie an Leuten fehlen, die dieser Ansicht ohne Einschränkung zustimmen.
Unser Dramatiker aber kann nicht dazu gerechnet werden. Denn wenn er so
oft die Vergeltung schildert, so gibt er damit zu, daß eine Konsequenz des
Weltlaufs vorhanden ist, die die Vergangenheit und ihre Verfehlungen ent¬
hüllt und das Individuum in seine Schranken zurückweist.

Fragen wir nach Gestalten, die uns, wie sonst in der Dramatik, als ein
Typus gewisser Strebungen, wie der Liebe, des Ehrgeizes, verschlagner List
und Bosheit usw. gelten könnten, so kann man einwenden, diese Typen seien
erschöpft, also auch ihre Darstellung sei von Ibsen nicht zu verlangen. Und
darin liegt viel Wahres. Er Hütte für seine modernen Dramen vielleicht die
stille Überzeugung mitnehmen können, die Byron am Anfang des Don Inca
in die Worte faßt: Mir fehlt ein Held. Die moderne Dramatik ist dieser
Neigung für typische Personen satt geworden, weil sie leicht unrealistisch wirken,
da die lebensvollen Einzelzüge des menschlichen Wesens über der Hervor¬
hebung einer Haupteigenschaft leicht vernachlässigt werden. So sind Ibsens
Personen oft von erstaunlicher Plastik; er gibt ja auch meist sehr genau an,
wie sie aussehen sollen. Ebenso ist Ibsen oft bewunderungswürdig in der
Erregung der Spannung. Diese beiden Eigenschaften bewähren sich zudem in
der Schilderung der heutigen Gesellschaft, die in der Regel nicht desto idealer
aussieht, je genauer man sie kennen lernt, in feiner Technik und Zerfaserung
des seelischen Lebens. Die Ereignisse sind meist fein ausgeklügelt, die Ver¬
hältnisse sehr intim. In seiner Kritik der Gesellschaft kann ihn kaum eine
Partei für sich allein in Anspruch nehmen; deshalb gibt er jeder etwas.
Alles dieses übt eine starke und ziemlich ausgedehnte Anziehung aus. Vielleicht


Zur Erinnerung an Ibsen

führt es zu dem bevorzugten Typus des König Ödipus, der allmählichen
Enthüllung der Vergangenheit, die sich durch Folgen in der Gegenwart auf¬
klärt. Wer von Vergeltung spricht, kann die Verantwortung nicht leugnen.
Auch Ibsen tut es nicht; zuweilen (wie am Schluß der Frau vom Meer)
wird sie ausdrücklich betont. In jenem Enthüllungstypus liegt es von Natur,
daß wir selten ein heißblütiges Aufstreben des Einzelnen zu sehen bekommen,
der sich mit irgendeiner Leidenschaft oder Erkenntnis der Gesamtheit entgegen¬
setzt. Vom starken Recht einer persönlichen Natur ist weniger zu spüren als
von einer ungewöhnlichen Klarheit der Erkenntnis des eignen Wesens und des
Wesens der andern. Daß der Einzelne gegen „Wahrheiten" der Gesellschaft
anrennt, ist mitunter um so verzeihlicher oder begreiflicher, als diese Wahr¬
heiten, wie im Volksfeind zugestanden wird, nicht alle ewig sind. Im Gegen¬
teil, manche sterben ab, wenn sie fünfzehn bis zwanzig Jahre alt sind. Aber
solche bejahrte Wahrheiten seien immer entsetzlich dürr und mager. Liegt es
aber in der Natur der Gesellschaft, sich ununterbrochen zu häuten, so ist der
Wert von Stockmanns „Entdeckung" fraglich, nämlich daß unsre sämtlichen
geistigen Lebensquellen vergiftet sind, und daß unsre ganze bürgerliche Gesell¬
schaft auf dem pestschwangern Grunde der Lüge ruht. Natürlich wird es
nie an Leuten fehlen, die dieser Ansicht ohne Einschränkung zustimmen.
Unser Dramatiker aber kann nicht dazu gerechnet werden. Denn wenn er so
oft die Vergeltung schildert, so gibt er damit zu, daß eine Konsequenz des
Weltlaufs vorhanden ist, die die Vergangenheit und ihre Verfehlungen ent¬
hüllt und das Individuum in seine Schranken zurückweist.

Fragen wir nach Gestalten, die uns, wie sonst in der Dramatik, als ein
Typus gewisser Strebungen, wie der Liebe, des Ehrgeizes, verschlagner List
und Bosheit usw. gelten könnten, so kann man einwenden, diese Typen seien
erschöpft, also auch ihre Darstellung sei von Ibsen nicht zu verlangen. Und
darin liegt viel Wahres. Er Hütte für seine modernen Dramen vielleicht die
stille Überzeugung mitnehmen können, die Byron am Anfang des Don Inca
in die Worte faßt: Mir fehlt ein Held. Die moderne Dramatik ist dieser
Neigung für typische Personen satt geworden, weil sie leicht unrealistisch wirken,
da die lebensvollen Einzelzüge des menschlichen Wesens über der Hervor¬
hebung einer Haupteigenschaft leicht vernachlässigt werden. So sind Ibsens
Personen oft von erstaunlicher Plastik; er gibt ja auch meist sehr genau an,
wie sie aussehen sollen. Ebenso ist Ibsen oft bewunderungswürdig in der
Erregung der Spannung. Diese beiden Eigenschaften bewähren sich zudem in
der Schilderung der heutigen Gesellschaft, die in der Regel nicht desto idealer
aussieht, je genauer man sie kennen lernt, in feiner Technik und Zerfaserung
des seelischen Lebens. Die Ereignisse sind meist fein ausgeklügelt, die Ver¬
hältnisse sehr intim. In seiner Kritik der Gesellschaft kann ihn kaum eine
Partei für sich allein in Anspruch nehmen; deshalb gibt er jeder etwas.
Alles dieses übt eine starke und ziemlich ausgedehnte Anziehung aus. Vielleicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0518" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300305"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Erinnerung an Ibsen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1970" prev="#ID_1969"> führt es zu dem bevorzugten Typus des König Ödipus, der allmählichen<lb/>
Enthüllung der Vergangenheit, die sich durch Folgen in der Gegenwart auf¬<lb/>
klärt. Wer von Vergeltung spricht, kann die Verantwortung nicht leugnen.<lb/>
Auch Ibsen tut es nicht; zuweilen (wie am Schluß der Frau vom Meer)<lb/>
wird sie ausdrücklich betont. In jenem Enthüllungstypus liegt es von Natur,<lb/>
daß wir selten ein heißblütiges Aufstreben des Einzelnen zu sehen bekommen,<lb/>
der sich mit irgendeiner Leidenschaft oder Erkenntnis der Gesamtheit entgegen¬<lb/>
setzt. Vom starken Recht einer persönlichen Natur ist weniger zu spüren als<lb/>
von einer ungewöhnlichen Klarheit der Erkenntnis des eignen Wesens und des<lb/>
Wesens der andern. Daß der Einzelne gegen &#x201E;Wahrheiten" der Gesellschaft<lb/>
anrennt, ist mitunter um so verzeihlicher oder begreiflicher, als diese Wahr¬<lb/>
heiten, wie im Volksfeind zugestanden wird, nicht alle ewig sind. Im Gegen¬<lb/>
teil, manche sterben ab, wenn sie fünfzehn bis zwanzig Jahre alt sind. Aber<lb/>
solche bejahrte Wahrheiten seien immer entsetzlich dürr und mager. Liegt es<lb/>
aber in der Natur der Gesellschaft, sich ununterbrochen zu häuten, so ist der<lb/>
Wert von Stockmanns &#x201E;Entdeckung" fraglich, nämlich daß unsre sämtlichen<lb/>
geistigen Lebensquellen vergiftet sind, und daß unsre ganze bürgerliche Gesell¬<lb/>
schaft auf dem pestschwangern Grunde der Lüge ruht. Natürlich wird es<lb/>
nie an Leuten fehlen, die dieser Ansicht ohne Einschränkung zustimmen.<lb/>
Unser Dramatiker aber kann nicht dazu gerechnet werden. Denn wenn er so<lb/>
oft die Vergeltung schildert, so gibt er damit zu, daß eine Konsequenz des<lb/>
Weltlaufs vorhanden ist, die die Vergangenheit und ihre Verfehlungen ent¬<lb/>
hüllt und das Individuum in seine Schranken zurückweist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1971" next="#ID_1972"> Fragen wir nach Gestalten, die uns, wie sonst in der Dramatik, als ein<lb/>
Typus gewisser Strebungen, wie der Liebe, des Ehrgeizes, verschlagner List<lb/>
und Bosheit usw. gelten könnten, so kann man einwenden, diese Typen seien<lb/>
erschöpft, also auch ihre Darstellung sei von Ibsen nicht zu verlangen. Und<lb/>
darin liegt viel Wahres. Er Hütte für seine modernen Dramen vielleicht die<lb/>
stille Überzeugung mitnehmen können, die Byron am Anfang des Don Inca<lb/>
in die Worte faßt: Mir fehlt ein Held. Die moderne Dramatik ist dieser<lb/>
Neigung für typische Personen satt geworden, weil sie leicht unrealistisch wirken,<lb/>
da die lebensvollen Einzelzüge des menschlichen Wesens über der Hervor¬<lb/>
hebung einer Haupteigenschaft leicht vernachlässigt werden. So sind Ibsens<lb/>
Personen oft von erstaunlicher Plastik; er gibt ja auch meist sehr genau an,<lb/>
wie sie aussehen sollen. Ebenso ist Ibsen oft bewunderungswürdig in der<lb/>
Erregung der Spannung. Diese beiden Eigenschaften bewähren sich zudem in<lb/>
der Schilderung der heutigen Gesellschaft, die in der Regel nicht desto idealer<lb/>
aussieht, je genauer man sie kennen lernt, in feiner Technik und Zerfaserung<lb/>
des seelischen Lebens. Die Ereignisse sind meist fein ausgeklügelt, die Ver¬<lb/>
hältnisse sehr intim. In seiner Kritik der Gesellschaft kann ihn kaum eine<lb/>
Partei für sich allein in Anspruch nehmen; deshalb gibt er jeder etwas.<lb/>
Alles dieses übt eine starke und ziemlich ausgedehnte Anziehung aus. Vielleicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0518] Zur Erinnerung an Ibsen führt es zu dem bevorzugten Typus des König Ödipus, der allmählichen Enthüllung der Vergangenheit, die sich durch Folgen in der Gegenwart auf¬ klärt. Wer von Vergeltung spricht, kann die Verantwortung nicht leugnen. Auch Ibsen tut es nicht; zuweilen (wie am Schluß der Frau vom Meer) wird sie ausdrücklich betont. In jenem Enthüllungstypus liegt es von Natur, daß wir selten ein heißblütiges Aufstreben des Einzelnen zu sehen bekommen, der sich mit irgendeiner Leidenschaft oder Erkenntnis der Gesamtheit entgegen¬ setzt. Vom starken Recht einer persönlichen Natur ist weniger zu spüren als von einer ungewöhnlichen Klarheit der Erkenntnis des eignen Wesens und des Wesens der andern. Daß der Einzelne gegen „Wahrheiten" der Gesellschaft anrennt, ist mitunter um so verzeihlicher oder begreiflicher, als diese Wahr¬ heiten, wie im Volksfeind zugestanden wird, nicht alle ewig sind. Im Gegen¬ teil, manche sterben ab, wenn sie fünfzehn bis zwanzig Jahre alt sind. Aber solche bejahrte Wahrheiten seien immer entsetzlich dürr und mager. Liegt es aber in der Natur der Gesellschaft, sich ununterbrochen zu häuten, so ist der Wert von Stockmanns „Entdeckung" fraglich, nämlich daß unsre sämtlichen geistigen Lebensquellen vergiftet sind, und daß unsre ganze bürgerliche Gesell¬ schaft auf dem pestschwangern Grunde der Lüge ruht. Natürlich wird es nie an Leuten fehlen, die dieser Ansicht ohne Einschränkung zustimmen. Unser Dramatiker aber kann nicht dazu gerechnet werden. Denn wenn er so oft die Vergeltung schildert, so gibt er damit zu, daß eine Konsequenz des Weltlaufs vorhanden ist, die die Vergangenheit und ihre Verfehlungen ent¬ hüllt und das Individuum in seine Schranken zurückweist. Fragen wir nach Gestalten, die uns, wie sonst in der Dramatik, als ein Typus gewisser Strebungen, wie der Liebe, des Ehrgeizes, verschlagner List und Bosheit usw. gelten könnten, so kann man einwenden, diese Typen seien erschöpft, also auch ihre Darstellung sei von Ibsen nicht zu verlangen. Und darin liegt viel Wahres. Er Hütte für seine modernen Dramen vielleicht die stille Überzeugung mitnehmen können, die Byron am Anfang des Don Inca in die Worte faßt: Mir fehlt ein Held. Die moderne Dramatik ist dieser Neigung für typische Personen satt geworden, weil sie leicht unrealistisch wirken, da die lebensvollen Einzelzüge des menschlichen Wesens über der Hervor¬ hebung einer Haupteigenschaft leicht vernachlässigt werden. So sind Ibsens Personen oft von erstaunlicher Plastik; er gibt ja auch meist sehr genau an, wie sie aussehen sollen. Ebenso ist Ibsen oft bewunderungswürdig in der Erregung der Spannung. Diese beiden Eigenschaften bewähren sich zudem in der Schilderung der heutigen Gesellschaft, die in der Regel nicht desto idealer aussieht, je genauer man sie kennen lernt, in feiner Technik und Zerfaserung des seelischen Lebens. Die Ereignisse sind meist fein ausgeklügelt, die Ver¬ hältnisse sehr intim. In seiner Kritik der Gesellschaft kann ihn kaum eine Partei für sich allein in Anspruch nehmen; deshalb gibt er jeder etwas. Alles dieses übt eine starke und ziemlich ausgedehnte Anziehung aus. Vielleicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/518
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/518>, abgerufen am 23.07.2024.