Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Erinnerung an Ibsen

wird seine liebe Frau Sorby heiraten, und damit ist die Sache abgemacht.
Der Maul- und Magenheld Hjalmar, immer fähig, etwas Unausstehliches zu
sagen und mit dem Schwert des Hungers vom Leder zu ziehen, um einzu¬
hauen, wird weiter schwatzen, faulenzen und essen. Die kleine Hedwig, die
den nicht jedem begreiflichen Entschluß faßte, sich zu erschießen, wird bald für
Hjalmar ein Deklamationsthema sein. In den Gespenstern hat die Gesellschaft
nichts mit der Strafe zu tun, obgleich der so trefflich gezeichnete Tischler
Engstrand gern bereit Ware, jemand etwas am Zeuge zu flicken, zum Beispiel
dem Pastor Manders. An Borkmann hat die Gesellschaft Rache geübt. In
Rosmersholm ist die Entscheidung ebenso reinlich: aber in diesem Meisterwerk
vollziehen im Grunde die beiden Liebenden Strafe an sich selbst. Die Schuld,
die sich durch Tod, Vereinsamung, äußere Einbuße, innere Demütigung
juristisch und moralisch vollziehen kann, kommt bei Ibsen verschieden und nicht
immer reinlich zur Sühne. Noch bleibt die Möglichkeit des innern Auf¬
schwungs übrig: in Klein Eyolf. Wir sehen also doch auch hier, daß die
Welt ans Kompromisse eingerichtet ist.

Im ernsten Drama wird der Gegensatz nud Kampf eines Willens gegen
einen andern geschildert, wobei jedoch einer von beiden nicht der Ausdruck
einer rein persönlichen Schrulle sein darf, sondern einen substantiellen Wert der
geistigen Welt vertritt, dessen Verneinung oder Aufhebung schließlich mit der
von uns gedachten Weltordnung unverträglich ist. Diese ist, wie bekanntlich
die Welt selbst, eine Idee. Jener Kampf kann also auch ein Kampf des
Einzelnen gegen die Idee genannt werden. Diese erhält, wie Hebbel sagt,
Satisfaktion durch Unterwerfung oder durch Untergang des Individuums, das
sich zu eigenmächtig ausdehnen wollte. Nur ist Streit darüber, inwieweit
dabei von Schuld die Rede sein kann. Schopenhauer zitiert ja beifällig aus
Calderon: Die größte Schuld des Meuschen ist, daß er geboren ward. Aber
wir werden höchstens geneigt sein, darin das Leiden des Menschen begründet
ZU finden, noch nicht aber das, was wir im Sinne des Dramatikers eine
Schuld nennen. Jedoch kommt gerade ein solcher dem Philosophen ziemlich nahe.
Denn Hebbel meint, das Leben erzeuge die Schuld nicht bloß zufällig, sondern
bedinge sie und schließe sie notwendig ein? sie sei eine uranfängliche, vom Be¬
griff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende.
Darum widerstrebe das Individuum der Idee durch sein Handeln oder durch
sein Dasein selbst. Wollen wir dieser Theorie zugeben, daß wir alle schuldig
werden oder schuldig sind? Auch Ibsen steht dieser Ansicht fern. Mir scheint.
daß ihn im Grunde die realistische Frage beschäftigte, was sich ergibt aus dem
Gegeueinanderspielen der Eigenschaften und Kräfte der Gesellschaft und denen
des Einzelnen, der allerdings zum Teil besondre Schrullen hat. wie d:e Frnn
vom Meer, wie Hedda Gabler. Diese strenge Mechanik der Konsequenz und
der Vergeltung bringt es mit sich, daß er die Personen möglichst reaMsch
darstellt und ihr Seelenleben bis in die Tiefe scharf beleuchtet. Außerdem


Zur Erinnerung an Ibsen

wird seine liebe Frau Sorby heiraten, und damit ist die Sache abgemacht.
Der Maul- und Magenheld Hjalmar, immer fähig, etwas Unausstehliches zu
sagen und mit dem Schwert des Hungers vom Leder zu ziehen, um einzu¬
hauen, wird weiter schwatzen, faulenzen und essen. Die kleine Hedwig, die
den nicht jedem begreiflichen Entschluß faßte, sich zu erschießen, wird bald für
Hjalmar ein Deklamationsthema sein. In den Gespenstern hat die Gesellschaft
nichts mit der Strafe zu tun, obgleich der so trefflich gezeichnete Tischler
Engstrand gern bereit Ware, jemand etwas am Zeuge zu flicken, zum Beispiel
dem Pastor Manders. An Borkmann hat die Gesellschaft Rache geübt. In
Rosmersholm ist die Entscheidung ebenso reinlich: aber in diesem Meisterwerk
vollziehen im Grunde die beiden Liebenden Strafe an sich selbst. Die Schuld,
die sich durch Tod, Vereinsamung, äußere Einbuße, innere Demütigung
juristisch und moralisch vollziehen kann, kommt bei Ibsen verschieden und nicht
immer reinlich zur Sühne. Noch bleibt die Möglichkeit des innern Auf¬
schwungs übrig: in Klein Eyolf. Wir sehen also doch auch hier, daß die
Welt ans Kompromisse eingerichtet ist.

Im ernsten Drama wird der Gegensatz nud Kampf eines Willens gegen
einen andern geschildert, wobei jedoch einer von beiden nicht der Ausdruck
einer rein persönlichen Schrulle sein darf, sondern einen substantiellen Wert der
geistigen Welt vertritt, dessen Verneinung oder Aufhebung schließlich mit der
von uns gedachten Weltordnung unverträglich ist. Diese ist, wie bekanntlich
die Welt selbst, eine Idee. Jener Kampf kann also auch ein Kampf des
Einzelnen gegen die Idee genannt werden. Diese erhält, wie Hebbel sagt,
Satisfaktion durch Unterwerfung oder durch Untergang des Individuums, das
sich zu eigenmächtig ausdehnen wollte. Nur ist Streit darüber, inwieweit
dabei von Schuld die Rede sein kann. Schopenhauer zitiert ja beifällig aus
Calderon: Die größte Schuld des Meuschen ist, daß er geboren ward. Aber
wir werden höchstens geneigt sein, darin das Leiden des Menschen begründet
ZU finden, noch nicht aber das, was wir im Sinne des Dramatikers eine
Schuld nennen. Jedoch kommt gerade ein solcher dem Philosophen ziemlich nahe.
Denn Hebbel meint, das Leben erzeuge die Schuld nicht bloß zufällig, sondern
bedinge sie und schließe sie notwendig ein? sie sei eine uranfängliche, vom Be¬
griff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende.
Darum widerstrebe das Individuum der Idee durch sein Handeln oder durch
sein Dasein selbst. Wollen wir dieser Theorie zugeben, daß wir alle schuldig
werden oder schuldig sind? Auch Ibsen steht dieser Ansicht fern. Mir scheint.
daß ihn im Grunde die realistische Frage beschäftigte, was sich ergibt aus dem
Gegeueinanderspielen der Eigenschaften und Kräfte der Gesellschaft und denen
des Einzelnen, der allerdings zum Teil besondre Schrullen hat. wie d:e Frnn
vom Meer, wie Hedda Gabler. Diese strenge Mechanik der Konsequenz und
der Vergeltung bringt es mit sich, daß er die Personen möglichst reaMsch
darstellt und ihr Seelenleben bis in die Tiefe scharf beleuchtet. Außerdem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300304"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Erinnerung an Ibsen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1968" prev="#ID_1967"> wird seine liebe Frau Sorby heiraten, und damit ist die Sache abgemacht.<lb/>
Der Maul- und Magenheld Hjalmar, immer fähig, etwas Unausstehliches zu<lb/>
sagen und mit dem Schwert des Hungers vom Leder zu ziehen, um einzu¬<lb/>
hauen, wird weiter schwatzen, faulenzen und essen. Die kleine Hedwig, die<lb/>
den nicht jedem begreiflichen Entschluß faßte, sich zu erschießen, wird bald für<lb/>
Hjalmar ein Deklamationsthema sein. In den Gespenstern hat die Gesellschaft<lb/>
nichts mit der Strafe zu tun, obgleich der so trefflich gezeichnete Tischler<lb/>
Engstrand gern bereit Ware, jemand etwas am Zeuge zu flicken, zum Beispiel<lb/>
dem Pastor Manders. An Borkmann hat die Gesellschaft Rache geübt. In<lb/>
Rosmersholm ist die Entscheidung ebenso reinlich: aber in diesem Meisterwerk<lb/>
vollziehen im Grunde die beiden Liebenden Strafe an sich selbst. Die Schuld,<lb/>
die sich durch Tod, Vereinsamung, äußere Einbuße, innere Demütigung<lb/>
juristisch und moralisch vollziehen kann, kommt bei Ibsen verschieden und nicht<lb/>
immer reinlich zur Sühne. Noch bleibt die Möglichkeit des innern Auf¬<lb/>
schwungs übrig: in Klein Eyolf. Wir sehen also doch auch hier, daß die<lb/>
Welt ans Kompromisse eingerichtet ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1969" next="#ID_1970"> Im ernsten Drama wird der Gegensatz nud Kampf eines Willens gegen<lb/>
einen andern geschildert, wobei jedoch einer von beiden nicht der Ausdruck<lb/>
einer rein persönlichen Schrulle sein darf, sondern einen substantiellen Wert der<lb/>
geistigen Welt vertritt, dessen Verneinung oder Aufhebung schließlich mit der<lb/>
von uns gedachten Weltordnung unverträglich ist. Diese ist, wie bekanntlich<lb/>
die Welt selbst, eine Idee. Jener Kampf kann also auch ein Kampf des<lb/>
Einzelnen gegen die Idee genannt werden. Diese erhält, wie Hebbel sagt,<lb/>
Satisfaktion durch Unterwerfung oder durch Untergang des Individuums, das<lb/>
sich zu eigenmächtig ausdehnen wollte. Nur ist Streit darüber, inwieweit<lb/>
dabei von Schuld die Rede sein kann. Schopenhauer zitiert ja beifällig aus<lb/>
Calderon: Die größte Schuld des Meuschen ist, daß er geboren ward. Aber<lb/>
wir werden höchstens geneigt sein, darin das Leiden des Menschen begründet<lb/>
ZU finden, noch nicht aber das, was wir im Sinne des Dramatikers eine<lb/>
Schuld nennen. Jedoch kommt gerade ein solcher dem Philosophen ziemlich nahe.<lb/>
Denn Hebbel meint, das Leben erzeuge die Schuld nicht bloß zufällig, sondern<lb/>
bedinge sie und schließe sie notwendig ein? sie sei eine uranfängliche, vom Be¬<lb/>
griff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende.<lb/>
Darum widerstrebe das Individuum der Idee durch sein Handeln oder durch<lb/>
sein Dasein selbst. Wollen wir dieser Theorie zugeben, daß wir alle schuldig<lb/>
werden oder schuldig sind? Auch Ibsen steht dieser Ansicht fern. Mir scheint.<lb/>
daß ihn im Grunde die realistische Frage beschäftigte, was sich ergibt aus dem<lb/>
Gegeueinanderspielen der Eigenschaften und Kräfte der Gesellschaft und denen<lb/>
des Einzelnen, der allerdings zum Teil besondre Schrullen hat. wie d:e Frnn<lb/>
vom Meer, wie Hedda Gabler. Diese strenge Mechanik der Konsequenz und<lb/>
der Vergeltung bringt es mit sich, daß er die Personen möglichst reaMsch<lb/>
darstellt und ihr Seelenleben bis in die Tiefe scharf beleuchtet. Außerdem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Zur Erinnerung an Ibsen wird seine liebe Frau Sorby heiraten, und damit ist die Sache abgemacht. Der Maul- und Magenheld Hjalmar, immer fähig, etwas Unausstehliches zu sagen und mit dem Schwert des Hungers vom Leder zu ziehen, um einzu¬ hauen, wird weiter schwatzen, faulenzen und essen. Die kleine Hedwig, die den nicht jedem begreiflichen Entschluß faßte, sich zu erschießen, wird bald für Hjalmar ein Deklamationsthema sein. In den Gespenstern hat die Gesellschaft nichts mit der Strafe zu tun, obgleich der so trefflich gezeichnete Tischler Engstrand gern bereit Ware, jemand etwas am Zeuge zu flicken, zum Beispiel dem Pastor Manders. An Borkmann hat die Gesellschaft Rache geübt. In Rosmersholm ist die Entscheidung ebenso reinlich: aber in diesem Meisterwerk vollziehen im Grunde die beiden Liebenden Strafe an sich selbst. Die Schuld, die sich durch Tod, Vereinsamung, äußere Einbuße, innere Demütigung juristisch und moralisch vollziehen kann, kommt bei Ibsen verschieden und nicht immer reinlich zur Sühne. Noch bleibt die Möglichkeit des innern Auf¬ schwungs übrig: in Klein Eyolf. Wir sehen also doch auch hier, daß die Welt ans Kompromisse eingerichtet ist. Im ernsten Drama wird der Gegensatz nud Kampf eines Willens gegen einen andern geschildert, wobei jedoch einer von beiden nicht der Ausdruck einer rein persönlichen Schrulle sein darf, sondern einen substantiellen Wert der geistigen Welt vertritt, dessen Verneinung oder Aufhebung schließlich mit der von uns gedachten Weltordnung unverträglich ist. Diese ist, wie bekanntlich die Welt selbst, eine Idee. Jener Kampf kann also auch ein Kampf des Einzelnen gegen die Idee genannt werden. Diese erhält, wie Hebbel sagt, Satisfaktion durch Unterwerfung oder durch Untergang des Individuums, das sich zu eigenmächtig ausdehnen wollte. Nur ist Streit darüber, inwieweit dabei von Schuld die Rede sein kann. Schopenhauer zitiert ja beifällig aus Calderon: Die größte Schuld des Meuschen ist, daß er geboren ward. Aber wir werden höchstens geneigt sein, darin das Leiden des Menschen begründet ZU finden, noch nicht aber das, was wir im Sinne des Dramatikers eine Schuld nennen. Jedoch kommt gerade ein solcher dem Philosophen ziemlich nahe. Denn Hebbel meint, das Leben erzeuge die Schuld nicht bloß zufällig, sondern bedinge sie und schließe sie notwendig ein? sie sei eine uranfängliche, vom Be¬ griff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende. Darum widerstrebe das Individuum der Idee durch sein Handeln oder durch sein Dasein selbst. Wollen wir dieser Theorie zugeben, daß wir alle schuldig werden oder schuldig sind? Auch Ibsen steht dieser Ansicht fern. Mir scheint. daß ihn im Grunde die realistische Frage beschäftigte, was sich ergibt aus dem Gegeueinanderspielen der Eigenschaften und Kräfte der Gesellschaft und denen des Einzelnen, der allerdings zum Teil besondre Schrullen hat. wie d:e Frnn vom Meer, wie Hedda Gabler. Diese strenge Mechanik der Konsequenz und der Vergeltung bringt es mit sich, daß er die Personen möglichst reaMsch darstellt und ihr Seelenleben bis in die Tiefe scharf beleuchtet. Außerdem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/517>, abgerufen am 23.07.2024.