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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Erinnerung an Ibsen

auch der Umstand, daß Ibsen das vorsichtig in diesen Stücken abzulehnen
scheint, was man idealen Schwung nennt. Es ist wohl zu beachten, daß
Ulrik Vrendel erklärt, er habe Heimweh nach dem großen Nichts; ein Leben
ohne Ideale zu leben -- das sei das große Geheimnis des Handelns und
des Siegers. Frau Alving würde, wie sie aufwallend sagt, wenn sie nicht
so gottsjämmerlich feige wäre, Oswald auffordern, sich mit (seiner Halb¬
schwester) Regime zu verheiraten oder nach Belieben einzurichten. Was dabei
aus den Idealen wird, kümmerte sie nicht. Sie hat das schwere, bittere
Heucheln aus ihrer Ehe satt und haßt jeden weitern "Betrug", jede Devotions¬
kurve und geduldig-süßliche Augenverdrehung vor Ordnung und Gesetz.
Manchmal glaubt sie beinahe, daß diese beiden alles Unglück hier auf Erden
stiften. Die Menschen dieser Gesellschaft sind in den "Stützen" so sehr an¬
ständig und moralisch: die arme Dina, die keine günstige Position hat, wünscht,
sie wären anderswo mehr natürlich. Wer sich in der wohlangepaßten Kleidung
der Korrektheit nicht immer oder nur selten wohl fühlt, wird mit solchen
Aufwallungen sympathisieren. Wird nicht schließlich ein Dramatiker durch den
Geschmack gerechtfertigt, den das Publikum an ihm findet? Einen Vers des
Euripides: Was ist denn schnöde, Wenns dem Brauchenden nicht so scheint,
parodiert Aristophanes in den Fröschen: Was ist denn schnöde, Wenns den
Zuschauern nicht so scheint? Aber es handelt sich bei der Beurteilung von
Dramatikern keineswegs bloß um Schnödigkeiten. Und die Rechtfertigung
durch den Geschmack des Publikums gilt nicht ohne Einschränkung. Wir
wissen es ja. daß zum Beispiel Kleist unrecht leiden mußte. Auch wechselt
der Geschmack des Publikums, und in der Folgezeit begreift man oft nicht,
wie gewisse Dramen so unsäglich beliebt sein konnten. Ibsen gehört sicher
nicht zu denen, von denen es heißt: Was glänzt, ist für den Augenblick ge¬
boren. Er hat zu viel Echtes in sich. Er wird wohl seine Rechtfertigung
auch durch die Teilnahme der Nachwelt finden, wenn auch mit dem üblichen
Subtraktionsexempel, das sie an Dichtern und Dramatikern vorzunehmen pflegt.
Aber wenn man seine scharfen anatomischen Schnitte bewundert, wird man
Wohl manches zu ausgeklügelt finden und bei seiner Kritik etwas vom Puls
natürlicher Leidenschaft vermissen, von der starken Stimme der Natur und dem
Zauber dessen, was die Dichter sonst oft als rein poetische Schönheit aus¬
strahlen. Vielleicht kann man dies bei ihm mehr in einer gewissen indirekten
Tragik finden; in dem. was Nora oft sagt von der Schönheit des Lebens,
wenn Günther bezahlt ist, in dem Umstände, daß die Handlung gerade Weih¬
nachten spielt, daß die kleine Hedwig dicht vor ihrem Geburtstag steht, auf
°en sie sich so freut - Züge, die mich außer dem Lakonismus an die Ennlia
Galotti erinnern, die dicht vor ihrer Hochzeit steht und gerade da vorzeitig
geknickt wird

In den Gesprächen mit Eckermann äußert Goethe einmal: Wahre Kraft
und Wirkuug eines Gedichts bestehe in der Situation und den Motiven. Die


Zur Erinnerung an Ibsen

auch der Umstand, daß Ibsen das vorsichtig in diesen Stücken abzulehnen
scheint, was man idealen Schwung nennt. Es ist wohl zu beachten, daß
Ulrik Vrendel erklärt, er habe Heimweh nach dem großen Nichts; ein Leben
ohne Ideale zu leben — das sei das große Geheimnis des Handelns und
des Siegers. Frau Alving würde, wie sie aufwallend sagt, wenn sie nicht
so gottsjämmerlich feige wäre, Oswald auffordern, sich mit (seiner Halb¬
schwester) Regime zu verheiraten oder nach Belieben einzurichten. Was dabei
aus den Idealen wird, kümmerte sie nicht. Sie hat das schwere, bittere
Heucheln aus ihrer Ehe satt und haßt jeden weitern „Betrug", jede Devotions¬
kurve und geduldig-süßliche Augenverdrehung vor Ordnung und Gesetz.
Manchmal glaubt sie beinahe, daß diese beiden alles Unglück hier auf Erden
stiften. Die Menschen dieser Gesellschaft sind in den „Stützen" so sehr an¬
ständig und moralisch: die arme Dina, die keine günstige Position hat, wünscht,
sie wären anderswo mehr natürlich. Wer sich in der wohlangepaßten Kleidung
der Korrektheit nicht immer oder nur selten wohl fühlt, wird mit solchen
Aufwallungen sympathisieren. Wird nicht schließlich ein Dramatiker durch den
Geschmack gerechtfertigt, den das Publikum an ihm findet? Einen Vers des
Euripides: Was ist denn schnöde, Wenns dem Brauchenden nicht so scheint,
parodiert Aristophanes in den Fröschen: Was ist denn schnöde, Wenns den
Zuschauern nicht so scheint? Aber es handelt sich bei der Beurteilung von
Dramatikern keineswegs bloß um Schnödigkeiten. Und die Rechtfertigung
durch den Geschmack des Publikums gilt nicht ohne Einschränkung. Wir
wissen es ja. daß zum Beispiel Kleist unrecht leiden mußte. Auch wechselt
der Geschmack des Publikums, und in der Folgezeit begreift man oft nicht,
wie gewisse Dramen so unsäglich beliebt sein konnten. Ibsen gehört sicher
nicht zu denen, von denen es heißt: Was glänzt, ist für den Augenblick ge¬
boren. Er hat zu viel Echtes in sich. Er wird wohl seine Rechtfertigung
auch durch die Teilnahme der Nachwelt finden, wenn auch mit dem üblichen
Subtraktionsexempel, das sie an Dichtern und Dramatikern vorzunehmen pflegt.
Aber wenn man seine scharfen anatomischen Schnitte bewundert, wird man
Wohl manches zu ausgeklügelt finden und bei seiner Kritik etwas vom Puls
natürlicher Leidenschaft vermissen, von der starken Stimme der Natur und dem
Zauber dessen, was die Dichter sonst oft als rein poetische Schönheit aus¬
strahlen. Vielleicht kann man dies bei ihm mehr in einer gewissen indirekten
Tragik finden; in dem. was Nora oft sagt von der Schönheit des Lebens,
wenn Günther bezahlt ist, in dem Umstände, daß die Handlung gerade Weih¬
nachten spielt, daß die kleine Hedwig dicht vor ihrem Geburtstag steht, auf
°en sie sich so freut - Züge, die mich außer dem Lakonismus an die Ennlia
Galotti erinnern, die dicht vor ihrer Hochzeit steht und gerade da vorzeitig
geknickt wird

In den Gesprächen mit Eckermann äußert Goethe einmal: Wahre Kraft
und Wirkuug eines Gedichts bestehe in der Situation und den Motiven. Die


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[0519] Zur Erinnerung an Ibsen auch der Umstand, daß Ibsen das vorsichtig in diesen Stücken abzulehnen scheint, was man idealen Schwung nennt. Es ist wohl zu beachten, daß Ulrik Vrendel erklärt, er habe Heimweh nach dem großen Nichts; ein Leben ohne Ideale zu leben — das sei das große Geheimnis des Handelns und des Siegers. Frau Alving würde, wie sie aufwallend sagt, wenn sie nicht so gottsjämmerlich feige wäre, Oswald auffordern, sich mit (seiner Halb¬ schwester) Regime zu verheiraten oder nach Belieben einzurichten. Was dabei aus den Idealen wird, kümmerte sie nicht. Sie hat das schwere, bittere Heucheln aus ihrer Ehe satt und haßt jeden weitern „Betrug", jede Devotions¬ kurve und geduldig-süßliche Augenverdrehung vor Ordnung und Gesetz. Manchmal glaubt sie beinahe, daß diese beiden alles Unglück hier auf Erden stiften. Die Menschen dieser Gesellschaft sind in den „Stützen" so sehr an¬ ständig und moralisch: die arme Dina, die keine günstige Position hat, wünscht, sie wären anderswo mehr natürlich. Wer sich in der wohlangepaßten Kleidung der Korrektheit nicht immer oder nur selten wohl fühlt, wird mit solchen Aufwallungen sympathisieren. Wird nicht schließlich ein Dramatiker durch den Geschmack gerechtfertigt, den das Publikum an ihm findet? Einen Vers des Euripides: Was ist denn schnöde, Wenns dem Brauchenden nicht so scheint, parodiert Aristophanes in den Fröschen: Was ist denn schnöde, Wenns den Zuschauern nicht so scheint? Aber es handelt sich bei der Beurteilung von Dramatikern keineswegs bloß um Schnödigkeiten. Und die Rechtfertigung durch den Geschmack des Publikums gilt nicht ohne Einschränkung. Wir wissen es ja. daß zum Beispiel Kleist unrecht leiden mußte. Auch wechselt der Geschmack des Publikums, und in der Folgezeit begreift man oft nicht, wie gewisse Dramen so unsäglich beliebt sein konnten. Ibsen gehört sicher nicht zu denen, von denen es heißt: Was glänzt, ist für den Augenblick ge¬ boren. Er hat zu viel Echtes in sich. Er wird wohl seine Rechtfertigung auch durch die Teilnahme der Nachwelt finden, wenn auch mit dem üblichen Subtraktionsexempel, das sie an Dichtern und Dramatikern vorzunehmen pflegt. Aber wenn man seine scharfen anatomischen Schnitte bewundert, wird man Wohl manches zu ausgeklügelt finden und bei seiner Kritik etwas vom Puls natürlicher Leidenschaft vermissen, von der starken Stimme der Natur und dem Zauber dessen, was die Dichter sonst oft als rein poetische Schönheit aus¬ strahlen. Vielleicht kann man dies bei ihm mehr in einer gewissen indirekten Tragik finden; in dem. was Nora oft sagt von der Schönheit des Lebens, wenn Günther bezahlt ist, in dem Umstände, daß die Handlung gerade Weih¬ nachten spielt, daß die kleine Hedwig dicht vor ihrem Geburtstag steht, auf °en sie sich so freut - Züge, die mich außer dem Lakonismus an die Ennlia Galotti erinnern, die dicht vor ihrer Hochzeit steht und gerade da vorzeitig geknickt wird In den Gesprächen mit Eckermann äußert Goethe einmal: Wahre Kraft und Wirkuug eines Gedichts bestehe in der Situation und den Motiven. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/519>, abgerufen am 23.07.2024.