Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Erinnerung an Ibsen

Strohmann, der zugleich Abgeordneter ist, mit seiner Gattin -- dem Resteln,
das er lieb hatte vor andern, wie Eichendorff sagt -- und acht Töchtern
auftritt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, daß er außerdem noch vier
Kinder zuhause hat, daß ihm dieser Segen mitunter in Form von Zwillingen
zuteil wurde, und, last not 1<ZÄ8t>, das besagte Resteln die Freude eines
Sommerfestes noch dadurch erhöht, daß sie die ganz sichre Hoffnung ausspricht,
die Zahl der Kinder (ob um eins oder zwei?) in nicht gar zu langer Zeit
erhöht zu sehen.

Das Glück, das die gütige Natur hier so reichlich spendet, versagt sie nun
eben dafür an andrer Stelle, ohne daß wir erkennen, ob der Welt ein be¬
stimmtes Maß beschieden ist, das durch ein Balancieren zwischen den Gegen¬
sätzen hergestellt werden muß, als wäre das Schicksal des Einzelnen davon
abhängig, daß genau das Gleichgewicht jener beiden Schalen hergestellt wird,
daß also im ganzen einer gewissen Menge von Glück eine gewisse Menge von
Unglück entsprechen muß.

Überschauen wir diese modernen Stücke auf ihre Fähigkeit hiu, allgemein
menschliches Interesse zu erregen, so werden wir wohl sagen müssen, daß sich
die Rätsel des Daseins wesentlich in die Formel fassen lassen, wie sich der
Einzelne mit seinem Charakter und seinen Handlungen der Gesellschaft gegen¬
über abfinden muß. Sie tritt ihm als eine kompakte, zur Knechtung geneigte
Masse gegenüber. Die Folgen der Handlungen treten mit unerbittlicher Logik
ein, obgleich die Gesellschaft keineswegs die unantastbare Vestalin ist, die das
reine Feuer des Rechten und des Guten hütet. Einen Sinn muß doch das
Leben haben, heißes in Klein Eyolf. Allmers schreibt dort an einem Buche
über die Vergeltung, von deren Sicherheit auch Rita überzeugt ist. Doch
finde ich nicht, daß in dieser Erkenntnis, die sich mehr wie der dünne Nebel
einer Stimmung ausbreitet, das eigentlich Anziehende bei Ibsen besteht.
Indem ich von den mehr oder weniger symbolischen Stücken absehe, weil es
zu schwer ist, genau und sicher durch die gemalten Fensterscheiben dieser Ge¬
dichte den wahren Sinn zu erspähen, wende ich mich der Frage zu, in welcher
Form sich die kompakte Gesellschaft Satisfaktion verschafft. Zugleich leitet
uns das zu der Frage, wie sich Ibsen zum allgemeinen Problem des ernsten
Dramas verhält.

Bernick legt, allerdings hier kein angenehmes Geschüft, eine Beichte ab.
Ob wir diesen Entschluß glaublich finden oder nicht, so wird er nicht durch
die Gesellschaft dazu gezwungen, sondern durch seine Verwandten oder sein
Rechtsgefühl. Leider erfahren wir nicht, was die Gesellschaft schließlich von
ihm halten wird. Nora droht Rache durch Günther, also einen Deklassierten.
Im Volksfeind hat höchstens die Gesellschaft selbst eine Schuld -- aber sie
bleibt einstweilen siegreich. Werte hat einige peinliche Auseinandersetzungen
mit seineni Sohne gehabt, bei dem das akute Nechtlichkeitsfieber ausgebrochen
ist, und der an der fixen Idee der idealen Forderung leidet. Aber der Vater


Zur Erinnerung an Ibsen

Strohmann, der zugleich Abgeordneter ist, mit seiner Gattin — dem Resteln,
das er lieb hatte vor andern, wie Eichendorff sagt — und acht Töchtern
auftritt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, daß er außerdem noch vier
Kinder zuhause hat, daß ihm dieser Segen mitunter in Form von Zwillingen
zuteil wurde, und, last not 1<ZÄ8t>, das besagte Resteln die Freude eines
Sommerfestes noch dadurch erhöht, daß sie die ganz sichre Hoffnung ausspricht,
die Zahl der Kinder (ob um eins oder zwei?) in nicht gar zu langer Zeit
erhöht zu sehen.

Das Glück, das die gütige Natur hier so reichlich spendet, versagt sie nun
eben dafür an andrer Stelle, ohne daß wir erkennen, ob der Welt ein be¬
stimmtes Maß beschieden ist, das durch ein Balancieren zwischen den Gegen¬
sätzen hergestellt werden muß, als wäre das Schicksal des Einzelnen davon
abhängig, daß genau das Gleichgewicht jener beiden Schalen hergestellt wird,
daß also im ganzen einer gewissen Menge von Glück eine gewisse Menge von
Unglück entsprechen muß.

Überschauen wir diese modernen Stücke auf ihre Fähigkeit hiu, allgemein
menschliches Interesse zu erregen, so werden wir wohl sagen müssen, daß sich
die Rätsel des Daseins wesentlich in die Formel fassen lassen, wie sich der
Einzelne mit seinem Charakter und seinen Handlungen der Gesellschaft gegen¬
über abfinden muß. Sie tritt ihm als eine kompakte, zur Knechtung geneigte
Masse gegenüber. Die Folgen der Handlungen treten mit unerbittlicher Logik
ein, obgleich die Gesellschaft keineswegs die unantastbare Vestalin ist, die das
reine Feuer des Rechten und des Guten hütet. Einen Sinn muß doch das
Leben haben, heißes in Klein Eyolf. Allmers schreibt dort an einem Buche
über die Vergeltung, von deren Sicherheit auch Rita überzeugt ist. Doch
finde ich nicht, daß in dieser Erkenntnis, die sich mehr wie der dünne Nebel
einer Stimmung ausbreitet, das eigentlich Anziehende bei Ibsen besteht.
Indem ich von den mehr oder weniger symbolischen Stücken absehe, weil es
zu schwer ist, genau und sicher durch die gemalten Fensterscheiben dieser Ge¬
dichte den wahren Sinn zu erspähen, wende ich mich der Frage zu, in welcher
Form sich die kompakte Gesellschaft Satisfaktion verschafft. Zugleich leitet
uns das zu der Frage, wie sich Ibsen zum allgemeinen Problem des ernsten
Dramas verhält.

Bernick legt, allerdings hier kein angenehmes Geschüft, eine Beichte ab.
Ob wir diesen Entschluß glaublich finden oder nicht, so wird er nicht durch
die Gesellschaft dazu gezwungen, sondern durch seine Verwandten oder sein
Rechtsgefühl. Leider erfahren wir nicht, was die Gesellschaft schließlich von
ihm halten wird. Nora droht Rache durch Günther, also einen Deklassierten.
Im Volksfeind hat höchstens die Gesellschaft selbst eine Schuld — aber sie
bleibt einstweilen siegreich. Werte hat einige peinliche Auseinandersetzungen
mit seineni Sohne gehabt, bei dem das akute Nechtlichkeitsfieber ausgebrochen
ist, und der an der fixen Idee der idealen Forderung leidet. Aber der Vater


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0516" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300303"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Erinnerung an Ibsen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1964" prev="#ID_1963"> Strohmann, der zugleich Abgeordneter ist, mit seiner Gattin &#x2014; dem Resteln,<lb/>
das er lieb hatte vor andern, wie Eichendorff sagt &#x2014; und acht Töchtern<lb/>
auftritt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, daß er außerdem noch vier<lb/>
Kinder zuhause hat, daß ihm dieser Segen mitunter in Form von Zwillingen<lb/>
zuteil wurde, und, last not 1&lt;ZÄ8t&gt;, das besagte Resteln die Freude eines<lb/>
Sommerfestes noch dadurch erhöht, daß sie die ganz sichre Hoffnung ausspricht,<lb/>
die Zahl der Kinder (ob um eins oder zwei?) in nicht gar zu langer Zeit<lb/>
erhöht zu sehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1965"> Das Glück, das die gütige Natur hier so reichlich spendet, versagt sie nun<lb/>
eben dafür an andrer Stelle, ohne daß wir erkennen, ob der Welt ein be¬<lb/>
stimmtes Maß beschieden ist, das durch ein Balancieren zwischen den Gegen¬<lb/>
sätzen hergestellt werden muß, als wäre das Schicksal des Einzelnen davon<lb/>
abhängig, daß genau das Gleichgewicht jener beiden Schalen hergestellt wird,<lb/>
daß also im ganzen einer gewissen Menge von Glück eine gewisse Menge von<lb/>
Unglück entsprechen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1966"> Überschauen wir diese modernen Stücke auf ihre Fähigkeit hiu, allgemein<lb/>
menschliches Interesse zu erregen, so werden wir wohl sagen müssen, daß sich<lb/>
die Rätsel des Daseins wesentlich in die Formel fassen lassen, wie sich der<lb/>
Einzelne mit seinem Charakter und seinen Handlungen der Gesellschaft gegen¬<lb/>
über abfinden muß. Sie tritt ihm als eine kompakte, zur Knechtung geneigte<lb/>
Masse gegenüber. Die Folgen der Handlungen treten mit unerbittlicher Logik<lb/>
ein, obgleich die Gesellschaft keineswegs die unantastbare Vestalin ist, die das<lb/>
reine Feuer des Rechten und des Guten hütet. Einen Sinn muß doch das<lb/>
Leben haben, heißes in Klein Eyolf. Allmers schreibt dort an einem Buche<lb/>
über die Vergeltung, von deren Sicherheit auch Rita überzeugt ist. Doch<lb/>
finde ich nicht, daß in dieser Erkenntnis, die sich mehr wie der dünne Nebel<lb/>
einer Stimmung ausbreitet, das eigentlich Anziehende bei Ibsen besteht.<lb/>
Indem ich von den mehr oder weniger symbolischen Stücken absehe, weil es<lb/>
zu schwer ist, genau und sicher durch die gemalten Fensterscheiben dieser Ge¬<lb/>
dichte den wahren Sinn zu erspähen, wende ich mich der Frage zu, in welcher<lb/>
Form sich die kompakte Gesellschaft Satisfaktion verschafft. Zugleich leitet<lb/>
uns das zu der Frage, wie sich Ibsen zum allgemeinen Problem des ernsten<lb/>
Dramas verhält.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1967" next="#ID_1968"> Bernick legt, allerdings hier kein angenehmes Geschüft, eine Beichte ab.<lb/>
Ob wir diesen Entschluß glaublich finden oder nicht, so wird er nicht durch<lb/>
die Gesellschaft dazu gezwungen, sondern durch seine Verwandten oder sein<lb/>
Rechtsgefühl. Leider erfahren wir nicht, was die Gesellschaft schließlich von<lb/>
ihm halten wird. Nora droht Rache durch Günther, also einen Deklassierten.<lb/>
Im Volksfeind hat höchstens die Gesellschaft selbst eine Schuld &#x2014; aber sie<lb/>
bleibt einstweilen siegreich. Werte hat einige peinliche Auseinandersetzungen<lb/>
mit seineni Sohne gehabt, bei dem das akute Nechtlichkeitsfieber ausgebrochen<lb/>
ist, und der an der fixen Idee der idealen Forderung leidet. Aber der Vater</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0516] Zur Erinnerung an Ibsen Strohmann, der zugleich Abgeordneter ist, mit seiner Gattin — dem Resteln, das er lieb hatte vor andern, wie Eichendorff sagt — und acht Töchtern auftritt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, daß er außerdem noch vier Kinder zuhause hat, daß ihm dieser Segen mitunter in Form von Zwillingen zuteil wurde, und, last not 1<ZÄ8t>, das besagte Resteln die Freude eines Sommerfestes noch dadurch erhöht, daß sie die ganz sichre Hoffnung ausspricht, die Zahl der Kinder (ob um eins oder zwei?) in nicht gar zu langer Zeit erhöht zu sehen. Das Glück, das die gütige Natur hier so reichlich spendet, versagt sie nun eben dafür an andrer Stelle, ohne daß wir erkennen, ob der Welt ein be¬ stimmtes Maß beschieden ist, das durch ein Balancieren zwischen den Gegen¬ sätzen hergestellt werden muß, als wäre das Schicksal des Einzelnen davon abhängig, daß genau das Gleichgewicht jener beiden Schalen hergestellt wird, daß also im ganzen einer gewissen Menge von Glück eine gewisse Menge von Unglück entsprechen muß. Überschauen wir diese modernen Stücke auf ihre Fähigkeit hiu, allgemein menschliches Interesse zu erregen, so werden wir wohl sagen müssen, daß sich die Rätsel des Daseins wesentlich in die Formel fassen lassen, wie sich der Einzelne mit seinem Charakter und seinen Handlungen der Gesellschaft gegen¬ über abfinden muß. Sie tritt ihm als eine kompakte, zur Knechtung geneigte Masse gegenüber. Die Folgen der Handlungen treten mit unerbittlicher Logik ein, obgleich die Gesellschaft keineswegs die unantastbare Vestalin ist, die das reine Feuer des Rechten und des Guten hütet. Einen Sinn muß doch das Leben haben, heißes in Klein Eyolf. Allmers schreibt dort an einem Buche über die Vergeltung, von deren Sicherheit auch Rita überzeugt ist. Doch finde ich nicht, daß in dieser Erkenntnis, die sich mehr wie der dünne Nebel einer Stimmung ausbreitet, das eigentlich Anziehende bei Ibsen besteht. Indem ich von den mehr oder weniger symbolischen Stücken absehe, weil es zu schwer ist, genau und sicher durch die gemalten Fensterscheiben dieser Ge¬ dichte den wahren Sinn zu erspähen, wende ich mich der Frage zu, in welcher Form sich die kompakte Gesellschaft Satisfaktion verschafft. Zugleich leitet uns das zu der Frage, wie sich Ibsen zum allgemeinen Problem des ernsten Dramas verhält. Bernick legt, allerdings hier kein angenehmes Geschüft, eine Beichte ab. Ob wir diesen Entschluß glaublich finden oder nicht, so wird er nicht durch die Gesellschaft dazu gezwungen, sondern durch seine Verwandten oder sein Rechtsgefühl. Leider erfahren wir nicht, was die Gesellschaft schließlich von ihm halten wird. Nora droht Rache durch Günther, also einen Deklassierten. Im Volksfeind hat höchstens die Gesellschaft selbst eine Schuld — aber sie bleibt einstweilen siegreich. Werte hat einige peinliche Auseinandersetzungen mit seineni Sohne gehabt, bei dem das akute Nechtlichkeitsfieber ausgebrochen ist, und der an der fixen Idee der idealen Forderung leidet. Aber der Vater

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/516
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/516>, abgerufen am 23.07.2024.