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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Erinnerung an Ibsen

Es lebt nicht in uns, aber es steckt in uns, und wir können es nicht los
werden. Wenn ich nur eine Zeitung in die Hand nehme, um daraus zu lesen,
so ists mir schon, als sähe ich die Gespenster zwischen den Zeilen umher¬
schleichen. Im ganzen Lande müssen Gespenster leben . . . Und dann sind
wir alle miteinander ja so gottsjämmerlich lichtscheu." Aber in diesem Stück
rächt sich einfach die Sünde des Vaters an seinem Sohne. Frau Alving führt
die Aufklärung herbei, daß Regime, die Oswald zu seiner Frau haben möchte,
seine Halbschwester ist. Und als Oswald wahnsinnig wird, fühlt sich seine
Mutter schließlich doch nicht fähig, ihn nach seinem Wunsche mit den Morphium-
Pillen zu vergiften, die er bei sich trägt.

Auch in Rosmersholm ist von vererbten Zweifeln, vererbter Angst, ver¬
erbten Gewissensbissen die Rede; Rebekka klagt darüber. Sie ist einmal eine
Gestalt voll Kraft und Saft. Aber: "ich hatte einen so frischen mutigen
Willen; jetzt hat ein fremdes Gesetz mich unterjocht." Sie ist jetzt geknechtet
durch Gesetze, die früher nicht für sie galten. Wie ein Sturm auf dem Meere
war das Begehren nach Rosmer über sie gekommen. Sie wollte mit dabei
sein in der neuen Zeit und Rosmer beherrschen, wie er einst von seinem Lehrer
Ulrik Brendel beherrscht worden war. Dieser Kentaur, halb verlumpt und
halb geistreich, nennt sie einmal "meine reizende Meerfrau". Nicht ohne
Absicht, scheint mir, läßt Ibsen sie so bezeichnen. Eine Art von Naturwesen,
wie Melusine, kommt sie aus dem hohen Norden, aus Finnmarken, in die
"Gesellschaft". Sie hat, wie der Rektor Kroll sagt, die Fähigkeit, die Menschen
zu behexen. Ihre suggestive Kraft hat sie in der Tat selbst in ihrem kleinen
Kreise mehrfach bewiesen. Aber mit dieser natürlichen Anlage macht sie doch
in der Gesellschaft kein Glück, gerade dann nicht, als sie scheinbar ganz nahe
daran ist, es zu ergreifen. Rosmer wird von Kroll auf die Tradition des
Geschlechts aufmerksam gemacht und schwärmt für die stille, freudige Schuld-
losigkeit. Sein Zusammenleben mit Rebekka ist ganz rein gewesen, er glaubt
an ein reines Zusammenleben zwischen Mann und Weib. Nebekkas frischer
Wille steht am Ende unter der Macht der Rosmersholmschen Lebensanschauung,
deshalb gehört es sich, daß sie führt, was sie verbrochen hat. Rosmer bekennt
sich nicht zu der einmal von Kroll erwähnten freien Liebe. Auch er huldigt
bisweilen der Phantastik, Adelsmenschen zu schaffen ringsumher. Mit diesem
zarten Gewissen fühlt er sich denn auch schuldig. "Dieses innige Leben in¬
einander und füreinander haben wir für Freundschaft gehalten. Nein, unser
Verhältnis ist eine geistige Ehe gewesen, vielleicht schon von Anfang an.
Deshalb liegt auf meiner Seite das Verbrechen. Ich hatte kein Recht dazu --
um Beatens willen." ^ ^

Sollen wir als Gegensatz zu dieser Tragödie der Liebe die "Komödie der
Liebe" erwähnen? Dann hebe ich heraus, was mir darin den Glanz komischer
Brillanten (wie Schmock in den "Journalisten" sich ausdrückt) zu haben scheint:
eben nur dies, daß vier bemutternde Tanten auftreten, daß der Pfarrer


Zur Erinnerung an Ibsen

Es lebt nicht in uns, aber es steckt in uns, und wir können es nicht los
werden. Wenn ich nur eine Zeitung in die Hand nehme, um daraus zu lesen,
so ists mir schon, als sähe ich die Gespenster zwischen den Zeilen umher¬
schleichen. Im ganzen Lande müssen Gespenster leben . . . Und dann sind
wir alle miteinander ja so gottsjämmerlich lichtscheu." Aber in diesem Stück
rächt sich einfach die Sünde des Vaters an seinem Sohne. Frau Alving führt
die Aufklärung herbei, daß Regime, die Oswald zu seiner Frau haben möchte,
seine Halbschwester ist. Und als Oswald wahnsinnig wird, fühlt sich seine
Mutter schließlich doch nicht fähig, ihn nach seinem Wunsche mit den Morphium-
Pillen zu vergiften, die er bei sich trägt.

Auch in Rosmersholm ist von vererbten Zweifeln, vererbter Angst, ver¬
erbten Gewissensbissen die Rede; Rebekka klagt darüber. Sie ist einmal eine
Gestalt voll Kraft und Saft. Aber: „ich hatte einen so frischen mutigen
Willen; jetzt hat ein fremdes Gesetz mich unterjocht." Sie ist jetzt geknechtet
durch Gesetze, die früher nicht für sie galten. Wie ein Sturm auf dem Meere
war das Begehren nach Rosmer über sie gekommen. Sie wollte mit dabei
sein in der neuen Zeit und Rosmer beherrschen, wie er einst von seinem Lehrer
Ulrik Brendel beherrscht worden war. Dieser Kentaur, halb verlumpt und
halb geistreich, nennt sie einmal „meine reizende Meerfrau". Nicht ohne
Absicht, scheint mir, läßt Ibsen sie so bezeichnen. Eine Art von Naturwesen,
wie Melusine, kommt sie aus dem hohen Norden, aus Finnmarken, in die
„Gesellschaft". Sie hat, wie der Rektor Kroll sagt, die Fähigkeit, die Menschen
zu behexen. Ihre suggestive Kraft hat sie in der Tat selbst in ihrem kleinen
Kreise mehrfach bewiesen. Aber mit dieser natürlichen Anlage macht sie doch
in der Gesellschaft kein Glück, gerade dann nicht, als sie scheinbar ganz nahe
daran ist, es zu ergreifen. Rosmer wird von Kroll auf die Tradition des
Geschlechts aufmerksam gemacht und schwärmt für die stille, freudige Schuld-
losigkeit. Sein Zusammenleben mit Rebekka ist ganz rein gewesen, er glaubt
an ein reines Zusammenleben zwischen Mann und Weib. Nebekkas frischer
Wille steht am Ende unter der Macht der Rosmersholmschen Lebensanschauung,
deshalb gehört es sich, daß sie führt, was sie verbrochen hat. Rosmer bekennt
sich nicht zu der einmal von Kroll erwähnten freien Liebe. Auch er huldigt
bisweilen der Phantastik, Adelsmenschen zu schaffen ringsumher. Mit diesem
zarten Gewissen fühlt er sich denn auch schuldig. „Dieses innige Leben in¬
einander und füreinander haben wir für Freundschaft gehalten. Nein, unser
Verhältnis ist eine geistige Ehe gewesen, vielleicht schon von Anfang an.
Deshalb liegt auf meiner Seite das Verbrechen. Ich hatte kein Recht dazu —
um Beatens willen." ^ ^

Sollen wir als Gegensatz zu dieser Tragödie der Liebe die „Komödie der
Liebe" erwähnen? Dann hebe ich heraus, was mir darin den Glanz komischer
Brillanten (wie Schmock in den „Journalisten" sich ausdrückt) zu haben scheint:
eben nur dies, daß vier bemutternde Tanten auftreten, daß der Pfarrer


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[0515] Zur Erinnerung an Ibsen Es lebt nicht in uns, aber es steckt in uns, und wir können es nicht los werden. Wenn ich nur eine Zeitung in die Hand nehme, um daraus zu lesen, so ists mir schon, als sähe ich die Gespenster zwischen den Zeilen umher¬ schleichen. Im ganzen Lande müssen Gespenster leben . . . Und dann sind wir alle miteinander ja so gottsjämmerlich lichtscheu." Aber in diesem Stück rächt sich einfach die Sünde des Vaters an seinem Sohne. Frau Alving führt die Aufklärung herbei, daß Regime, die Oswald zu seiner Frau haben möchte, seine Halbschwester ist. Und als Oswald wahnsinnig wird, fühlt sich seine Mutter schließlich doch nicht fähig, ihn nach seinem Wunsche mit den Morphium- Pillen zu vergiften, die er bei sich trägt. Auch in Rosmersholm ist von vererbten Zweifeln, vererbter Angst, ver¬ erbten Gewissensbissen die Rede; Rebekka klagt darüber. Sie ist einmal eine Gestalt voll Kraft und Saft. Aber: „ich hatte einen so frischen mutigen Willen; jetzt hat ein fremdes Gesetz mich unterjocht." Sie ist jetzt geknechtet durch Gesetze, die früher nicht für sie galten. Wie ein Sturm auf dem Meere war das Begehren nach Rosmer über sie gekommen. Sie wollte mit dabei sein in der neuen Zeit und Rosmer beherrschen, wie er einst von seinem Lehrer Ulrik Brendel beherrscht worden war. Dieser Kentaur, halb verlumpt und halb geistreich, nennt sie einmal „meine reizende Meerfrau". Nicht ohne Absicht, scheint mir, läßt Ibsen sie so bezeichnen. Eine Art von Naturwesen, wie Melusine, kommt sie aus dem hohen Norden, aus Finnmarken, in die „Gesellschaft". Sie hat, wie der Rektor Kroll sagt, die Fähigkeit, die Menschen zu behexen. Ihre suggestive Kraft hat sie in der Tat selbst in ihrem kleinen Kreise mehrfach bewiesen. Aber mit dieser natürlichen Anlage macht sie doch in der Gesellschaft kein Glück, gerade dann nicht, als sie scheinbar ganz nahe daran ist, es zu ergreifen. Rosmer wird von Kroll auf die Tradition des Geschlechts aufmerksam gemacht und schwärmt für die stille, freudige Schuld- losigkeit. Sein Zusammenleben mit Rebekka ist ganz rein gewesen, er glaubt an ein reines Zusammenleben zwischen Mann und Weib. Nebekkas frischer Wille steht am Ende unter der Macht der Rosmersholmschen Lebensanschauung, deshalb gehört es sich, daß sie führt, was sie verbrochen hat. Rosmer bekennt sich nicht zu der einmal von Kroll erwähnten freien Liebe. Auch er huldigt bisweilen der Phantastik, Adelsmenschen zu schaffen ringsumher. Mit diesem zarten Gewissen fühlt er sich denn auch schuldig. „Dieses innige Leben in¬ einander und füreinander haben wir für Freundschaft gehalten. Nein, unser Verhältnis ist eine geistige Ehe gewesen, vielleicht schon von Anfang an. Deshalb liegt auf meiner Seite das Verbrechen. Ich hatte kein Recht dazu — um Beatens willen." ^ ^ Sollen wir als Gegensatz zu dieser Tragödie der Liebe die „Komödie der Liebe" erwähnen? Dann hebe ich heraus, was mir darin den Glanz komischer Brillanten (wie Schmock in den „Journalisten" sich ausdrückt) zu haben scheint: eben nur dies, daß vier bemutternde Tanten auftreten, daß der Pfarrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/515>, abgerufen am 23.07.2024.