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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Luftreisen

Der vor kurzem noch so dichte Schleier, der unserm Auge das Irdische
entzog, wallt zerfließend auf, die Gegenstände auf der Erde werden deutlicher.
Zeichen des erwachenden Morgens haben wir längst wahrgenommen, schon in
der dritten Stunde krähten einzelne Hähne, jetzt grüßen sie uns von allen
Seiten, und die Vogel in der Luft stimmen mit immer lautern Gezwitscher
ein. Halb fünf Uhr ist es hell genug, daß ich zur Not ohne elektrisches Licht
schreiben kann. Ein Kanal durchschneidet schnurgerade den Wald unter uns.
Nach der Karte ist es der große Dient nördlich von Levern.

An Mannigfaltigkeit steht das Gelände jetzt weit zurück gegen das in
der Nacht ahnungsvoll von uns geschaute. Geschlossene Ortschaften fehlen,
wohl aber sehen wir viele Häuschen über weites Feld- und Wiesenland ver¬
streut, flach das Land überall, nur rechts eine bewaldete Erhebung, die Steamer
Berge bei Brockum. Kaum sind wir an diesen vorübergeglitten, da bietet sich
uns ein ganz unerwarteter Anblick: etwa 8 Kilometer nördlich von uns eine
große Wasserfläche, die sich in der Ferne nach Norden zu in die Wolken des
Horizonts verliert, sodaß sie einem ins Land hereinspringenden Meerbusen
gleicht, der Dummer, d. i. Tiefes Meer. Er wird von der Hunde durchflossen,
gehört also zum Wesergebiet und schiebt sich innerhalb der Provinz Hannover
zwischen Oldenburg und Westfalen ein. Köstliche Morgenluft, ein frischer
Erdgeruch strömt uns belebend entgegen.

Allein der ersehnte Genuß, einen Sonnenaufgang vom Ballon aus zu
beobachten, bleibt uns heute versagt. Wenn es auch immer Heller wird, vermag
der Sonnenball die feste Wolkenmauer im Osten doch nicht zu durchbrechen.

Wieder gibt uns jetzt das Kursbuch darüber Aufschluß, daß wir zwischen
den Stationen Drebber und Barnsdorf die Bahn Osnabrück-Bremen kreuzen.
Denn eben 4 Uhr 50 Minuten fährt ein Zug von Süden her unter uns weg.
Wir ziehn das Ventil und senken uns aus 300 Metern Höhe so weit hinab,
daß das inzwischen ausgelegte Schlepptau aufsetzt und nun über einzelne
Bäume und durch Gewässer schleift, ein leises Zittern des Korbes ist die Folge.
Das Land ist stellenweis muldenartig vertieft, denn nach dem Stande des
Barometers müßte eigentlich der Korb schon den Erdboden berühren. Vor uns
liegt eine schier unübersehbare eintönige Flüche von rehbrauner Farbe und von
schwarzbraunen wellenförmigen Streifen durchzogen, ein Teppichmuster von
wunderbarer Schönheit: das Große Moor von Borden, das über hundert
Quadratkilometer bedeckt. Es ist ein unheimlicher Gedanke, hier etwa landen
zu müssen. Zwar der Korb würde nirgends sanfter aufsetzen als hier, aber
dann wären wir ratlos, wie wir ans dieser gefährlichen Einöde wieder heraus-


Luftreisen

Der vor kurzem noch so dichte Schleier, der unserm Auge das Irdische
entzog, wallt zerfließend auf, die Gegenstände auf der Erde werden deutlicher.
Zeichen des erwachenden Morgens haben wir längst wahrgenommen, schon in
der dritten Stunde krähten einzelne Hähne, jetzt grüßen sie uns von allen
Seiten, und die Vogel in der Luft stimmen mit immer lautern Gezwitscher
ein. Halb fünf Uhr ist es hell genug, daß ich zur Not ohne elektrisches Licht
schreiben kann. Ein Kanal durchschneidet schnurgerade den Wald unter uns.
Nach der Karte ist es der große Dient nördlich von Levern.

An Mannigfaltigkeit steht das Gelände jetzt weit zurück gegen das in
der Nacht ahnungsvoll von uns geschaute. Geschlossene Ortschaften fehlen,
wohl aber sehen wir viele Häuschen über weites Feld- und Wiesenland ver¬
streut, flach das Land überall, nur rechts eine bewaldete Erhebung, die Steamer
Berge bei Brockum. Kaum sind wir an diesen vorübergeglitten, da bietet sich
uns ein ganz unerwarteter Anblick: etwa 8 Kilometer nördlich von uns eine
große Wasserfläche, die sich in der Ferne nach Norden zu in die Wolken des
Horizonts verliert, sodaß sie einem ins Land hereinspringenden Meerbusen
gleicht, der Dummer, d. i. Tiefes Meer. Er wird von der Hunde durchflossen,
gehört also zum Wesergebiet und schiebt sich innerhalb der Provinz Hannover
zwischen Oldenburg und Westfalen ein. Köstliche Morgenluft, ein frischer
Erdgeruch strömt uns belebend entgegen.

Allein der ersehnte Genuß, einen Sonnenaufgang vom Ballon aus zu
beobachten, bleibt uns heute versagt. Wenn es auch immer Heller wird, vermag
der Sonnenball die feste Wolkenmauer im Osten doch nicht zu durchbrechen.

Wieder gibt uns jetzt das Kursbuch darüber Aufschluß, daß wir zwischen
den Stationen Drebber und Barnsdorf die Bahn Osnabrück-Bremen kreuzen.
Denn eben 4 Uhr 50 Minuten fährt ein Zug von Süden her unter uns weg.
Wir ziehn das Ventil und senken uns aus 300 Metern Höhe so weit hinab,
daß das inzwischen ausgelegte Schlepptau aufsetzt und nun über einzelne
Bäume und durch Gewässer schleift, ein leises Zittern des Korbes ist die Folge.
Das Land ist stellenweis muldenartig vertieft, denn nach dem Stande des
Barometers müßte eigentlich der Korb schon den Erdboden berühren. Vor uns
liegt eine schier unübersehbare eintönige Flüche von rehbrauner Farbe und von
schwarzbraunen wellenförmigen Streifen durchzogen, ein Teppichmuster von
wunderbarer Schönheit: das Große Moor von Borden, das über hundert
Quadratkilometer bedeckt. Es ist ein unheimlicher Gedanke, hier etwa landen
zu müssen. Zwar der Korb würde nirgends sanfter aufsetzen als hier, aber
dann wären wir ratlos, wie wir ans dieser gefährlichen Einöde wieder heraus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/48>, abgerufen am 27.12.2024.