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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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!>le Geschäftsordnung des englischen Parlaments

kann -- Vielleicht die drei skandinavischen Staaten ausgenommen, deren Völker
sich vor dem Aufkommen der modernen Industrie und ihrer polaren Ergänzung,
der Sozialdemokratie, einer großen geistigen und sozialen Gleichartigkeit er¬
freuten. Balfour sagt es deutlich genug, und in Beziehung auf Frankreich
hat es Guizot schon im Jahre 1816 erkannt. In diesem Jahre veröffentlichte
er eine Schrift über die dermcilige Lage unter dem Titel: Du Aouvernsmsut
rsxrsssutgM Kranes. Darin charakterisiert er vollkommen richtig die zwei
englischen Parteien. Da, schreibt er, ihre gegensätzlichen Bestrebungen nicht
bis ins Herz der Verfassung und der bürgerlichen Ordnung reichten, so ver¬
ursachten ihre abwechselnden Siege keine ernstlichen Erschütterungen. Der gegen¬
wärtige Zustand sei dadurch herbeigeführt worden, daß sich nach der zweiten
Revolution die Mächte geeinigt hätten, die einander bis dahin bekämpft
hatten. Erfahrung habe die Regierung belehrt, wie gefährlich es für sie sei,
wenn sie außerhalb der Volksvertretung und dieser gegenüberstehe, die Kammern
entweder leiten oder bekämpfen müsse als zwei fremde Mächte, Musinis s'ils
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8M8 <Z0N8istÄQ06 sit <ZU3 as ssrviwäö. Darum also habe sich die Regierung
weislich entschlossen, ihren Sitz in die Kammern zu verlegen, von deren Mitte
aus und durch sie zu regieren. (Der geschichtliche Hergang ist hier nicht ganz
richtig erzählt, der Enderfolg aber gut gezeichnet.) Von diesem Zustande sei der
gegenwärtige Zustand Frankreichs grundverschieden. In England beschränke
sich der Parteiunterschied darauf, daß die einen für, die andern gegen die
Minister seien; die Opposition denke nicht daran, die Verfassung umzustürzen
oder irgendein Privatinteresse gegen das Staatswohl durchzusetzen. In Frank¬
reich dagegen tobe ein Kampf zwischen den feindlichsten Interessen, den
wütendsten Leidenschaften, den unvereinbarsten Absichten. Nicht die Freiheit,
die gleichbedeutend sei mit der Gerechtigkeit, erstrebe jede der beiden Parteien,
sondern die Herrschaft über die andre. Bei diesem Kampfe zwischen arg¬
wöhnischen Siegern und begnadigten Besiegten sei ein friedliches Zusammen¬
wirken in der Gesetzgebung nicht möglich. Auch sei die Fusion der drei Ge¬
walten, des Königs und der beiden Kammern, noch nicht vollzogen, aus diesen
Gründen demnach in Frankreich eine Parteiregierung nach dem Muster der
englischen nicht möglich. In Guizots "noch nicht" steckt ein Irrtum, der bis
auf den heutigen Tag ziemlich allgemein herrscht. Man glaubt, die übrigen
Völker seien zwar noch nicht reif für die parlamentarische Regierung, würden
es aber mit der Zeit schon werden. Es handelt sich hier jedoch nicht um
verschiedne Stufen politischer Reife, sondern um eine Verfassung, die nur bei
diesem so gearteten Volke, auf dieser so gestalteten und so gelegnen Insel
von dieser bestimmten Größe, in dieser von außen ungestörten geschichtlichen
Entwicklung entstehn konnte, um ein Zusammentreffen von Bedingungen also,
das sich anderswo niemals ereignet hat und wahrscheinlich niemals ereignen
Kird; um eine Schöpfung 8ni Asnsri8, die nicht nachgeahmt werden kann.


!>le Geschäftsordnung des englischen Parlaments

kann — Vielleicht die drei skandinavischen Staaten ausgenommen, deren Völker
sich vor dem Aufkommen der modernen Industrie und ihrer polaren Ergänzung,
der Sozialdemokratie, einer großen geistigen und sozialen Gleichartigkeit er¬
freuten. Balfour sagt es deutlich genug, und in Beziehung auf Frankreich
hat es Guizot schon im Jahre 1816 erkannt. In diesem Jahre veröffentlichte
er eine Schrift über die dermcilige Lage unter dem Titel: Du Aouvernsmsut
rsxrsssutgM Kranes. Darin charakterisiert er vollkommen richtig die zwei
englischen Parteien. Da, schreibt er, ihre gegensätzlichen Bestrebungen nicht
bis ins Herz der Verfassung und der bürgerlichen Ordnung reichten, so ver¬
ursachten ihre abwechselnden Siege keine ernstlichen Erschütterungen. Der gegen¬
wärtige Zustand sei dadurch herbeigeführt worden, daß sich nach der zweiten
Revolution die Mächte geeinigt hätten, die einander bis dahin bekämpft
hatten. Erfahrung habe die Regierung belehrt, wie gefährlich es für sie sei,
wenn sie außerhalb der Volksvertretung und dieser gegenüberstehe, die Kammern
entweder leiten oder bekämpfen müsse als zwei fremde Mächte, Musinis s'ils
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weislich entschlossen, ihren Sitz in die Kammern zu verlegen, von deren Mitte
aus und durch sie zu regieren. (Der geschichtliche Hergang ist hier nicht ganz
richtig erzählt, der Enderfolg aber gut gezeichnet.) Von diesem Zustande sei der
gegenwärtige Zustand Frankreichs grundverschieden. In England beschränke
sich der Parteiunterschied darauf, daß die einen für, die andern gegen die
Minister seien; die Opposition denke nicht daran, die Verfassung umzustürzen
oder irgendein Privatinteresse gegen das Staatswohl durchzusetzen. In Frank¬
reich dagegen tobe ein Kampf zwischen den feindlichsten Interessen, den
wütendsten Leidenschaften, den unvereinbarsten Absichten. Nicht die Freiheit,
die gleichbedeutend sei mit der Gerechtigkeit, erstrebe jede der beiden Parteien,
sondern die Herrschaft über die andre. Bei diesem Kampfe zwischen arg¬
wöhnischen Siegern und begnadigten Besiegten sei ein friedliches Zusammen¬
wirken in der Gesetzgebung nicht möglich. Auch sei die Fusion der drei Ge¬
walten, des Königs und der beiden Kammern, noch nicht vollzogen, aus diesen
Gründen demnach in Frankreich eine Parteiregierung nach dem Muster der
englischen nicht möglich. In Guizots „noch nicht" steckt ein Irrtum, der bis
auf den heutigen Tag ziemlich allgemein herrscht. Man glaubt, die übrigen
Völker seien zwar noch nicht reif für die parlamentarische Regierung, würden
es aber mit der Zeit schon werden. Es handelt sich hier jedoch nicht um
verschiedne Stufen politischer Reife, sondern um eine Verfassung, die nur bei
diesem so gearteten Volke, auf dieser so gestalteten und so gelegnen Insel
von dieser bestimmten Größe, in dieser von außen ungestörten geschichtlichen
Entwicklung entstehn konnte, um ein Zusammentreffen von Bedingungen also,
das sich anderswo niemals ereignet hat und wahrscheinlich niemals ereignen
Kird; um eine Schöpfung 8ni Asnsri8, die nicht nachgeahmt werden kann.


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[0465] !>le Geschäftsordnung des englischen Parlaments kann — Vielleicht die drei skandinavischen Staaten ausgenommen, deren Völker sich vor dem Aufkommen der modernen Industrie und ihrer polaren Ergänzung, der Sozialdemokratie, einer großen geistigen und sozialen Gleichartigkeit er¬ freuten. Balfour sagt es deutlich genug, und in Beziehung auf Frankreich hat es Guizot schon im Jahre 1816 erkannt. In diesem Jahre veröffentlichte er eine Schrift über die dermcilige Lage unter dem Titel: Du Aouvernsmsut rsxrsssutgM Kranes. Darin charakterisiert er vollkommen richtig die zwei englischen Parteien. Da, schreibt er, ihre gegensätzlichen Bestrebungen nicht bis ins Herz der Verfassung und der bürgerlichen Ordnung reichten, so ver¬ ursachten ihre abwechselnden Siege keine ernstlichen Erschütterungen. Der gegen¬ wärtige Zustand sei dadurch herbeigeführt worden, daß sich nach der zweiten Revolution die Mächte geeinigt hätten, die einander bis dahin bekämpft hatten. Erfahrung habe die Regierung belehrt, wie gefährlich es für sie sei, wenn sie außerhalb der Volksvertretung und dieser gegenüberstehe, die Kammern entweder leiten oder bekämpfen müsse als zwei fremde Mächte, Musinis s'ils us 8vull ssrvilss, ovstg-olss tsrridles en oas ä'iuimitis, g.pxui.8 sans toros et 8M8 <Z0N8istÄQ06 sit <ZU3 as ssrviwäö. Darum also habe sich die Regierung weislich entschlossen, ihren Sitz in die Kammern zu verlegen, von deren Mitte aus und durch sie zu regieren. (Der geschichtliche Hergang ist hier nicht ganz richtig erzählt, der Enderfolg aber gut gezeichnet.) Von diesem Zustande sei der gegenwärtige Zustand Frankreichs grundverschieden. In England beschränke sich der Parteiunterschied darauf, daß die einen für, die andern gegen die Minister seien; die Opposition denke nicht daran, die Verfassung umzustürzen oder irgendein Privatinteresse gegen das Staatswohl durchzusetzen. In Frank¬ reich dagegen tobe ein Kampf zwischen den feindlichsten Interessen, den wütendsten Leidenschaften, den unvereinbarsten Absichten. Nicht die Freiheit, die gleichbedeutend sei mit der Gerechtigkeit, erstrebe jede der beiden Parteien, sondern die Herrschaft über die andre. Bei diesem Kampfe zwischen arg¬ wöhnischen Siegern und begnadigten Besiegten sei ein friedliches Zusammen¬ wirken in der Gesetzgebung nicht möglich. Auch sei die Fusion der drei Ge¬ walten, des Königs und der beiden Kammern, noch nicht vollzogen, aus diesen Gründen demnach in Frankreich eine Parteiregierung nach dem Muster der englischen nicht möglich. In Guizots „noch nicht" steckt ein Irrtum, der bis auf den heutigen Tag ziemlich allgemein herrscht. Man glaubt, die übrigen Völker seien zwar noch nicht reif für die parlamentarische Regierung, würden es aber mit der Zeit schon werden. Es handelt sich hier jedoch nicht um verschiedne Stufen politischer Reife, sondern um eine Verfassung, die nur bei diesem so gearteten Volke, auf dieser so gestalteten und so gelegnen Insel von dieser bestimmten Größe, in dieser von außen ungestörten geschichtlichen Entwicklung entstehn konnte, um ein Zusammentreffen von Bedingungen also, das sich anderswo niemals ereignet hat und wahrscheinlich niemals ereignen Kird; um eine Schöpfung 8ni Asnsri8, die nicht nachgeahmt werden kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/465>, abgerufen am 28.12.2024.